Philip Hautmann

Yorick - Ein Mensch in Schwierigkeiten


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halbes Jahr nach ihrem Erscheinen durch den weiteren Gang der weltpolitischen Ereignisse und der Weltgeschichte zu einem großen Teil wieder überholt gewesen wären, und es Eisel daher an seiner Stelle von Neuem versuchen könne. Bei der darauf folgenden Zusammenkunft informierte Eisel dann aber ohnehin wieder alle, dass sein neues Projekt vorsehe, Kapitalismus und Kommunismus miteinander zu vereinigen (da es sich bei beiden schließlich um Projekte handeln würde, bei denen das Ökonomische im Vordergrund stehe und mit quasi-religiösen Heilsversprechen verknüpft sei, so dachte sich das zumindest Eisel). Yorick sah sich etwas irritiert, freute sich aber darüber, über die Gleichzeitigkeit des ökonomisch Ungleichzeitigen als Charakteristikum aller möglichen Epochen, wie es bereits in der berühmten „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von Marx in brillanter Weise ausgeführt werde, zu referieren, und nach nur zwei Stunden der Diskussion kam ihm in den Sinn, dass der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus in der Frage nach der Stellung des Privateigentums bestünde, und dieser Unterschied einen unversöhnlichen und unüberbrückbaren Gegensatz markieren würde, das Projekt „Vereinigung Kapitalismus und Kommunismus“ daher zum Scheitern verurteilt sei (was im weiteren Verlauf bei Eisel und Yorick den Gedanken produzierte, dass ein derartiges Ergebnis eigentlich im Widerspruch zur marxistischen Dialektik stünde, nach der es keine unüberbrückbaren Gegensätze geben könne, und dass der Marxismus daher möglicherweise falsch sei).

      In seinen Schilderungen über seine Projekte ging Eisel auf wie Germteig und ähnlich erging es, in seinen Repliken, Yorick. Man muss sich das etwa so vorstellen, aus der Totale betrachtet: In seiner Sitzgelegenheit wie Germteig ging auf Eisel, in seinem Lehnstuhl gegenüber wie Germteig auf ging Yorick; ein interessantes Projekt wäre es gewesen, diesen Prozess unter der Zuhilfenahme künstlicher Mittel filmisch festzuhalten, allein, auf eine solche Idee kamen weder Eisel noch Yorick, wobei es allerdings unwahrscheinlich gewesen wäre, dass Eisel und Yorick, hätten sie eine solche Idee gehabt, diese auch ausgeführt hätten. Zu der Ausführung seiner Ideen war vor allen Dingen Eisel immer viel zu sehr beschäftigt. Zum Verhältnis zwischen Eisel und Yorick ist zu sagen, dass sich Eisel und Yorick in ihrer gegenseitigen Anwesenheit außerordentlich schätzten, obwohl sie sich auf persönlicher Ebene eigentlich gar nicht besonders mochten und keine großen Stücke aufeinander hielten; freilich freuten sie sich aber über die Möglichkeit, die die Präsenz des jeweils anderen eröffnete, eine Rede über sich selbst zu führen. Vor allen Dingen Eisel redete ja immer gerne über seine Projekte; und Yorick gab dazu seine Kommentare ab. Eisel: Projekt – Yorick: Kommentar. Und beim nächsten Mal war alles wieder vergessen, da Eisel mit einem neuen Projekt daherkam. Zu all dem muss angemerkt werden, dass Eisel ein grundgütiger Mensch war und keiner Menschenseele jemals etwas zuleide tat (er war auch zu klein dazu).

      Eisel und Yorick kannten sich noch von der gemeinsamen Schulzeit. Eisel wollte damals: sich ein Elektronenmikroskop kaufen / auf einer Bohrinsel arbeiten/ Diamantenschürfer werden / Relativitätstheorie und Quantenmechanik miteinander vereinigen / einen Lastwagen kaufen und sich selbstständig machen / Astronaut werden / einen Düsenantrieb konstruieren / Profi-Catcher werden/ Uhrmacher / Millionär / Milizionär / Söldner / Dirigent / Polizist / Entwicklungshelfer / Bombenentschärfer / Profiler / General / Anwalt / Kommunist / Schriftsteller / Regisseur / Krimi-Autor / Detektiv / Künstler / Eisenbahnfahrer / Journalist, Gitarrist und Christ, und einiges, was das Erinnerungsvermögen übersteigt, mehr, denn Eisel wollte ja beinahe jede Woche irgendwas anderes. (Yorick war etwas beharrlicher, seine Pläne konzentrierten sich allein darauf, Relativitätstheorie und Quantenmechanik miteinander zu vereinigen.) Eisel und Yorick kannten sich im Übrigen nicht von der Grundschulzeit, sondern von der Hochschule.

      Wie anders als Eisel war da doch Peisel! Peisels Handlungen und Beiträge zur Geselligkeit beschränkten sich im Wesentlichen darauf, mit doppelt verschränkten Beinen und kreuzweise übereinander verschränkten Armen auf seinem Stuhl zu sitzen und Zigaretten zu rauchen (und dabei den Rauch in die Luft zu blasen). Im Sinne einer möglichst vollständigen Schilderung der Situation darf Peisels dabei eingenommene Kopfposition nicht vergessen erwähnt zu werden, nämlich von der Vertikale nach links abweichend und nach oben gerichtet, mit den Augen dabei zusätzlich nach rechts oben blickend, das heißt also an die Zimmerdecke, den Eindruck machend, diese zu studieren, und zwar eingehend. (Peisel! Was geht ab am Plafond? oder Peisel! An der Decke alles klar?, mit diesen scherzhaften Fragen beliebten Yorick und Eisel den Peisel in seinen mysteriösen Betrachtungen zu unterbrechen, in den kurzen Momenten, in denen sie sich von ihrer Beschäftigung mit sich selbst erholten, um neue Kraft zu schöpfen, woraufhin Peisel, sich mit solchem Nachdruck angesprochen und ins Zentrum gerückt sehend, meistens etwas murmelte oder brummte: Es gab zwei Optionen, wie seine Reaktionen sich gestalten konnten, entweder er murmelte etwas oder er brummte (weswegen Yorick und Eisel sich gerne den Spaß leisteten, Wetten darüber abzuschließen, welche der beiden Optionen sich bei der nächsten Reaktion des Peisel wohl realisieren würde: dass Peisel etwas murmelte oder brummte). Mysterium, sprich!, neckten Yorick und Eisel bei solchen Gelegenheiten dann den Peisel, der daraufhin entweder etwas murmelte oder brummte, oder aber angesichts der Konfrontation mit derartiger Dummheit und Niedrigkeit einen tiefen Zug von seiner Zigarette zu sich nahm, um ihn mit einem stillen, aber ebenso tiefen Seufzer wieder von sich zu geben (in Richtung Zimmerdecke, versteht sich)). Aufgrund seiner Körperhaltung machten sich der kunstsinnige Yorick sowie der kunstsinnige Eisel gerne das Vergnügen, dem Peisel einen Kunstband mit Bildern des britischen Malers Francis Bacon unter die Nase zu halten und eifrig darüber zu diskutieren, welches wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Peisel hätte. Zu den Favoriten zählten die Studie für ein Porträt von Lucian Freud aus dem Jahr 1971, das Triptychon der Drei Studien von Lucian Freud aus dem Jahre 1969, die Porträts von George Dyer, sich im Spiegel betrachtend aus den Jahren 1967 und 1968 sowie die rechte männliche Figur aus Mann und Kind aus dem Jahr 1963. Schau her, Peisel, richte deinen Blick Richtung Buch!, forderten Yorick und Eisel dann immer den Peisel auf, versuchend, ihn in die Debatte mit einzubeziehen, welches Kunstwerk des Francis Bacon wohl am ehesten, wenngleich unfreiwillig, den Peisel wiederzugeben imstande gewesen wäre. Tatsächlich konnte es geschehen, dass Peisel den ihm unter die Nase gehaltenen Francis-Bacon-Porträts einen kurzen Blick schenkte, um ihn anschließend wieder Richtung Zimmerdecke zu wenden und einen tiefen Zug von seiner Zigarette zu nehmen (und den Rauch in die Luft zu blasen).

      Peisel war Wissenschafter. Daher erschien es ihm womöglich als zu unseriös, sich mit anderen Leuten zu unterhalten. Hin und wieder erregte etwas seine Aufmerksamkeit, dann richtete er seinen Blick weg von der Decke und fixierte Eisel und Yorick. Das bedeutete natürlich noch nicht, dass er etwas sagte, aber in einigen Fällen konnte genau das vorkommen. Meistens handelte es sich um einen unartikuliert ausgesprochenen, irgendwie abschätzig wirkenden Kommentar zu den Hervorbringungen Eisels und Yoricks. Wenn Eisel und Yorick über etwas lachten, verdrehte Peisel meistens die Augen und bedeutete über sein Gebahren ganz allgemein, als wie unglaublich primitiv das Niveau der Leute um ihn herum seines Erachtens nicht einzuschätzen wäre. Hin und wieder konnte es natürlich auch vorkommen, dass Peisel von den Späßen Eisels und Yoricks tatsächlich positiv überwältigt war. Dann verzog er seinen Mund zu einem leichten Lächeln. Er bemühte sich dabei aber, den Mund nicht zu stark zu verziehen, was bei Yorick und Eisel dann immer mal wieder den Impuls auslöste, sich unter Gelächter an der Visage des Peisel zu schaffen zu machen, um ihr durch tatkräftige Verformung ein freundlicheres Aussehen zu verleihen, was natürlich dauerhaft nicht gelang, denn die Kontrolle über seine Mimik lag bei Peisel, und dessen Pläne waren, wie man sich denken kann, anderer Natur. Deshalb probierten es Yorick und Eisel hin und wieder mit Wäscheklammern, einen freundlichen Ausdruck in der Visage des Peisel zu fixieren, oder aber mit Klebestreifen, mit denen sie immerhin ein temporär befriedigendes Resultat erzielten. (Und einmal ging Yorick so weit, zu diesem Behuf beinahe einen Superkleber einzusetzen, er konnte aber noch rechtzeitig zurückgehalten werden.) Peisel ließ sich davon nicht beeindrucken. Hin und wieder führte das schelmische Treiben Eisels und Yoricks zu dem Ergebnis, dass Peisel mit dem Ausstoß des inhalierten Zigarettenrauchs gleichsam einen seiner für ihn charakteristischen tiefen, stillen Seufzer fahren ließ, dann hatten sie beinahe schon gewonnen. Bei einer Gelegenheit leerten sie dem mit seinen doppelt verschränkten Beinen und seinen verschränkten Armen Richtung Zimmerdecke blickenden rauchenden