Philip Hautmann

Yorick - Ein Mensch in Schwierigkeiten


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großen Getränke, die er trank, las er zumeist tatsächlich eines davon ganz durch, während der in der Folge konsumierten, wenn er zu solchen Leistungen nicht mehr imstande war, machte er sich so seine Gedanken, wie er seine Überlegungen zu diesen und jenen geistigen oder auch alltäglichen Gegenständen (denn das war für ihn dasselbe (weshalb er auch des Öfteren dazu tendierte, jeweils beides zu verfehlen)) publikumswirksam artikulieren könne (für den Fall, dass mal Publikum vorhanden wäre).

      So einmal darüber, dass

       es von allergrößter Wichtigkeit wäre, zu verstehen, dass der Begriff „Postmoderne“ nicht unmittelbar zur Typisierung realer gesellschaftlich-historischer Verfasstheiten diene, sondern vielmehr eines allgemeinen Bewusstseins über diese Verfasstheiten, welches, allgemein gesagt, dahingehend definiert werden könne, dass es ein Bewusstsein über das Ausbleiben eines „Sinns“ sei, also einer transzendentalen Bestimmung, auf welche hin sich dieses Bewusstsein reflektiere; der Trennstrich zwischen „modernem“ und „postmodernem“ Bewusstsein darin liegen würde, dass ersteres sich auf einen imaginären Fluchtpunkt einer Teleologie oder Entelechie seiner allgemeinen historischen bzw. transhistorischen Entwicklung hin bestimmend vorgestellt werden würde und zweiteres als einen solchen ostentativ verneinend; „modern“ also ein solches Bewusstsein wäre, das sich einem abstrakten Prinzip einer allgemeinen Vernünftigkeit (oder, im Falle des Marxismus, eines abstrakten Prinzips der historischen Entwicklung), deren Entfaltung mit der Aufklärung und Humanisierung der menschlichen Verhältnisse gleichbedeutend sei, verpflichtet fühle, und sich dahingehend historisch legitimiere und gleichzeitig unter einem gemeinsamen Vorzeichen vereinheitliche, wobei der Verlust des Vertrauens in jenes abstrakte Prinzip der Vernünftigkeit als einer Garantie für Aufklärung und Humanisierung gleichzeitig ebenfalls modern sei und sich im Lauf der Moderne in unterschiedlicher Weise immer wieder artikuliere, so ja zum Beispiel schon in der Romantik um die Wende zum 19. Jahrhundert, wobei der „moderne“ Vertrauensverlust jedoch derart sei, dass er sich auf eine transzendentale und im Allgemeinen humanitäre Sinnbestimmung hin reflektiere und den Verlust der Chance ihrer Verwirklichung innerhalb der modernen Lebensverhältnisse quasi „betrauere“; „postmodernes“ Bewusstsein hingegen derart sei, dass ihm keine „Trauerdiskurse“ entspringen würden, dem die Sehnsucht nach einer Vereinheitlichung seiner selbst unter einem abstrakten Sinnprinzip seiner selbst fremd sei, das den Verzicht auf ein solches abstraktes Sinnprinzip vielmehr fröhlich erkläre,

      oder darüber, dass,

       wenn man über Globalisierung nachdenke, sich eigentlich die gesamte Weltgeschichte als eine Geschichte der Globalisierung darstelle und präsentiere. Verlaufe denn die Geschichte nicht über die Herausbildung und Entwicklung kleinerer hin zu größeren, umfassenderen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einheiten in der Auseinandersetzung mit den dieser Entwicklung entgegenstehenden oder gar durch diese Entwicklung provozierten Tendenzen? Ließe sich nicht auch unsere heutige Epoche am Besten als eine solche begreifen und fassbar machen, in der globalisierende auf regionalisierende, uniformierende auf fragmentierende, expansive auf kontraktive Dynamiken träfen und damit sozusagen das Kräftefeld der sogenannten Neuen Weltordnung abstecken würden? In der eine Extensivierung der kapitalistischen Wirtschaftsweise nach außen (also die fortlaufende Erfassung neuer Weltregionen durch die kapitalistische Wirtschaftsweise) sowie eine Intensivierung der kapitalistischen Wirtschaftsweise nach innen (also die sogenannte neoliberale Verbetriebswirtschaftlichung der von der kapitalistischen Wirtschaftsweise erfassten Weltregionen) nach dem Scheitern des Sozialismus und des Autarkie- und Selbstbestimmungsgedankens der Entwicklungsländer eine neue globale Grenze zwischen entwickelter und unterentwickelter Welt etabliere beziehungsweise definiere; in der eine kosmopolitische Orientierung und ein, natürlich zutiefst westliches, Konzept von der universalistischen Teleologie der Demokratie, der freien Marktwirtschaft, der Zivilgesellschaft, der Menschenrechte und des Liberalismus zunehmend auf neue Formen des Nationalismus treffen würden, sei es in den aufstrebenden und mit dem Westen wie auch untereinander potenziell kooperierenden als auch potenziell rivalisierenden Ländern Asiens oder unter der Bezeichnung „Islamismus“ in den Ländern des Nahen Ostens, oder eben auch in den Ländern des Westens selbst; in der die Grenzen zwischen einer auf der Ausweitung und gegenseitigen Verflechtung marktwirtschaftlicher Systeme, umfassender gesellschaftlicher und kultureller Intermediation nicht zuletzt auf Grundlage neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und der Verbreitung eines demokratischen Ideals auf der Grundlage politisch regulierter oder wenigstens durch die Teilnahmemöglichkeit an der Wohlstandsentwicklung durch wirtschaftliches Wachstum hergestellter sozialer Kohäsion beruhenden „Globalisierung“, und einer sich über den illegalen Handel von Rohstoffen, Waffen, Drogen und Menschen in der Arena sogenannter failed states und Bürgerkriegsterritorien, über Flüchtlingsströme, regionaler politischer Destabilisierung und Terrorismus charakterisierenden „Schattenglobalisierung“, zunehmend porös werden würden; in der die Herausbildung jener Blöcke, die sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte gegenüberstehen werden, außerordentlich unklar sei und immerhin die Amerikaner dazu motiviert habe, den Irak anzugreifen und zu neokolonialisieren, um ihre strategischen Positionen zu befestigen, mit katastrophalen Folgen; und wenn in zwanzig, oder vielleicht sogar schon in zehn Jahren in China wie in den USA gleichzeitig dieselben Geisteskranken in den Regierungen sitzen würden wie in den Vereinigten Staaten heute, was man leider als gar nicht so unwahrscheinlich betrachten könne, ergäben sich gewisse Chancen für einen Dritten Weltkrieg;

      oder dergleichen mehr. In diesen Augenblicken schmiedete Yorick also seine Waffen. Fein, dachte er dann, jetzt habe er einen kleinen Text im Kopf, mit dem er geneigten Unbeschlagenen diesen oder jenen geistigen oder auch alltäglichen Gegenstand erklären und nahebringen könne. – Schade nur, dass dann in der Regel kein geneigter Unbeschlagener da war. Nach weiteren zwei, drei Getränken degenerierten seine Gedankenarchitektoniken zu diesen oder jenen geistigen oder auch alltäglichen Gegenständen dann naturgemäß zu sinnlosen, aber berauschenden Träumereien (der Art Yorick, der Gedankenarchitekt! oder Ähnlichem).

      Die Ursache für Yoricks Geistigkeit konnte nie ausfindig gemacht werden, wahrscheinlich hing sie mit einer allgemeinen Reaktion auf die Demütigungen durch Altersgenossen in der Kindheit zusammen. Außerdem hatte er Zeit seines Lebens schlicht und einfach keine Ahnung vom konkreten Menschen und seiner Psychologie, also musste er versuchen, diese Dinge abstrakt zu beherrschen, wollte er überleben. Durch diese Anstrengungen waren sein geistiges Niveau und sein geistiger Anspruch jedoch beträchtlich, noch beträchtlicher war aber freilich der Drang, dieses geistige Niveau bei jeder sich bietenden Gelegenheit in überheblicher Weise zur Geltung zu bringen. Für Gesellschaften, die harmlosen Vergnügungen nachhingen (und für Yorick waren alle Gesellschaften solche, die harmlosen Vergnügungen nachhingen), barg das daher großen Sprengstoff und ein hohes Gefahrenpotenzial, sollte Yorick sich ihnen nähern und unweigerlich sich in sie hineindrängen, denn wie gesagt dienten ihm die Philosophie und überhaupt das Geistige, Kulturelle und Bildungsmäßige zur Unterstützung

       seines eminenten Sinnes für das Rationale und

       seines seziermesserscharfen Blicks auf die Dinge und auf seine Umgebung,

      damit einhergehend

       seiner direkten Art, Sachverhalte auszusprechen,

       seiner etwas peinlichen Deutlichkeit, Dinge beim Namen zu nennen,

       seines Humors und

       seiner Ironie sowie seiner

       geistig-humorvollen Rücksichtslosigkeit gegenüber Gepflogenheiten und

      Konventionen,

      Eigenschaften also, die sich in ihm durch die Beschäftigung mit der Philosophie und dergleichen mehr zu einem einzigartigen Gesamtzusammenhang der Persönlichkeit bzw. zu dem einzigartigen Gesamtzusammenhang eines Yorick vereinigt fanden; einer Erscheinung, die gnadenlos war und unabwendbar wie das Schicksal selbst, die dort auftauchte, wo man es am wenigsten erwartete und dort angriff, wo man sich am Unverwundbarsten dünkte bzw. wo man es am wenigsten brauchen konnte: Das war das Auftreten eines Yorick und das Konfrontationserlebnis der Gesellschaften mit seinen Gedanken, die unvorhergesehen aus dem Nichts