Taylor George Augustine

Tod in der Levada


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Hände greifen nach einem Rucksack. Doch die Last daran ist zu schwer. Er hält die Luft an, taucht seinen Kopf in das kalte Wasser, fasst mit beiden Händen einen Körper an den Schultern - das Licht der Stirnlampe erlischt - völlige Dunkelheit - Dunkelheit um ihn und in ihm. Erwünschte Dunkelheit. Dunkelheit, die zu einem ausgeklügelten Plan gehört. Er hebt mit seinen letzten Kräften den Körper seiner Frau Beate nach oben, hält kurz inne, schnappt nach Luft, wuchtet den leblosen Körper schließlich auf den Weg neben der Levada.

      »Hilfe! Hallo! Hilfe!«

      Die Lichter kommen immer näher. Stimmen sind zu vernehmen. Volker steigt aus der Levada. Er fasst an den Körper seiner Frau, von dem er jede Stelle bestens kennt. Jedes Körperteil ist ihm vertraut. Er fasst sie mit seinen Händen an, wie er es seit Jahren getan hat. Er streift ihr den Rucksack vom Rücken, in völliger Dunkelheit, aber Licht ist dazu auch nicht notwendig. Die Stirnlampe erlosch durch einen Kurzschluss im Wasser. Genial! Der Plan funktioniert! Wie geht es weiter? Was steht auf dem Plan? Retten! Retten! Die Schritte der Wanderer werden immer schneller. Deutlich kann er sie hören. Er stammelt vor sich hin:

      »Beate, meine Liebe. Hilfe!«

      »Hallo! Was ist passiert?«

      »Helfen Sie mir, bitte. Helfen Sie mir. Meine Frau ... Helfen Sie mir doch!«

      Die Lichtstrahlen der Stirnlampen geben ein lebloses Gesicht preis. Der Weg ist schmal, der Tunnel niedrig. Nur leicht gebückt kann man hier gehen.

      »Thomas, Karin, kennt ihr euch mit Erster Hilfe aus?«

      »Nein. Was ist denn? Ist sie gestürzt? Was ist los?«

      Volker kniet am Boden und legt den Kopf von Beate auf seine Schenkel.

      »Beate, sag doch was. Beate! Helft mir doch! Bitte, helft mir doch!«

      »Wir müssen sie raus tragen.«

      »Die ist klatschnass. Ist sie in die Levada gestürzt? Vielleicht hat sie Wasser geschluckt. Du musst ihr das Wasser aus der Lunge pressen.«

      »Wie denn? Es ist hier verdammt schmal.«

      Martin legt seinen Rucksack ab und versucht, sich mit einem Fuß auf der anderen Seite der Levada abzustützen, um neben den leblosen Frauenkörper zu gelangen. Er lässt ein Bein von Beate in die Levada hängen und verschaffte sich so Platz, um Hilfe leisten zu können. Mit beiden Händen presst er auf ihren Körper. Wasser dringt aus dem leicht geöffneten Mund. Er hält inne und fühlt ihren Puls.

      »Nichts.«

      Wieder presst er mehrmals seine Hände auf den Frauenkörper. Mit einem Fuß stützt er sich an der Mauer der anderen Levadaseite ab, fühlt wieder ihren Puls.

      »Nichts.«

      Volker Lacom betrachtet die Hilfeleistungen mit einem Groll in seinem Innern, wie sie nur eine mit Pest und Cholera durchtränkte Seele erleben kann. Es darf kein zurück geben, niemals. Unmöglich. Minutenlang hat er durchgehalten. Dem heftigen Widerstand von Beate mit aller Macht getrotzt. Seine Sinne lösen sich von seinem Innern. Seine Wahrnehmungen und Gedanken sind pechschwarz, durchtränkt von Angst, welche das kurze Glücksgefühl verdrängen will.

      »Wie lange lag sie im Wasser?«

      »Was? Wie?«

      »Mann, eine Minute, zehn Minuten, wie lange, Mann?«

      »Ich weiß nicht.« Volkers Stimme klingt schwach und verstört.

      »Vergiss es. Der hat einen Schock. Mach weiter!«

      Martin gereicht an die Grenzen seiner Kräfte. Er stößt ein paar Flüche aus, während es im Herzen von Volker Lacom immer heller wird. Seine Schauspielkunst ist beeindruckend. Macht, über Allem erhaben, Gott gleich, sein Wesen verändert sich in diesen Minuten in einer bisher unbekannten Weise. Seinen Körper fühlt er nicht mehr, die nassen Kleider, der Schmutz, seine Gedanken, alles ist ihm fremd. Jetzt sind Helfer da, er braucht nicht mehr nach Plan vorzugehen. Sein Plan ist jetzt passiv zu bleiben. Nichts Verdächtiges tun, nichts anmerken lassen. So wenig wie möglich machen, bedeutet: Fehler vermeiden. Die Helfer schleppen Beate und ihren Rucksack ins Freie. Jedem kommt es wie eine Ewigkeit vor. Wiederbelebungsversuche. Vergeblich. Ein Notruf wird abgesetzt und die Bergung aus dieser unzugänglichen Gegend mit hohen Bäumen und überstehenden, abschüssigen Felsen stellt selbst das Fachpersonal der Insel vor eine große Herausforderung. Volker kennt die Insel, diesen Tunnel, die Wanderrouten - und vor allem diese Gegend, aus der eine Bergung Stunden dauern wird. Der Weg in ein Krankenhaus - viel zu lange, um noch helfen zu können. Der Einsatz eines Hubschraubers - unmöglich.

      Ein Notarzt bestätigt noch vor Ort den Tod von Beate Lacom. Ein Glücksgefühl durchströmt Volker Lacom - er hält sich die Hände wie ein Verzweifelter vors Gesicht. Eine Trost spendende Hand legt sich auf seine Schulter. Am liebsten hätte Volker ihm den Ellbogen in die Seite gerammt. Passiv bleiben! Nichts anmerken lassen. Nicht reden, nichts machen, Objekt bleiben, solange jemand bei ihm ist. Über eine Stunde Fußmarsch über Felsen, Geröll und schmale Pfade. Beate Lacom wird mit einem Leichenwagen abtransportiert. Ein Krankenwagen steht bereit und bringt Volker Lacom mit seiner schwarzen Seele in ein Krankenhaus nach Funchal. Fragen, Untersuchungen, wieder Fragen, Erklärungen abgeben. Wie konnte das passieren? Volker Lacom wird medizinisch untersucht. Ein Schock wird diagnostiziert. Die Schauspielerei funktioniert. Nicht sprechen. Keine Reaktion auf konkrete Fragen zeigen. Verwirrt sein um jeden Preis. Volker Lacom wirkt total erschöpft. Er hält schon die ganze Zeit seine Augen geschlossen. Denkt an Isabella da Subdoli, seine Geliebte. Gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt - achtzehn Jahre jünger als Beate. Diese zarte Haut, Lippen, die ihm das Leben jetzt noch süßer machen werden. Diese heißblütige Italienerin, voller Temperament, eine Trophäe für jeden Mann, besonders für Volker. Er denkt an die heißen Nächte mit Isabella, während seine Frau auf Geschäftsreise war. Stundenlanges Glücksgefühl. Unersättlich, unermüdlich, ein Schlund, so gierig wie ein Fass ohne Boden. Ekstase - bis zur Bewusstlosigkeit. Die langen, schwarzen Haare liegen wie feinste Wolle um ihre Schultern, die smaragdgrünen Augen funkeln in der finstersten Nacht wie die Venus am Nachthimmel bei Neumond. Isabella, immer und jederzeit zu Allem bereit. Für einen Mann wie Volker Lacom - unwiderstehlich. Beate konnte mit seinen Wünschen einfach nicht mehr mithalten. Zu alt, verbraucht, nicht experimentierfreudig, spießig ohne Ende. Und geizig in seinen Augen. Es gab keine Alternative. Das Leben ist zu kurz, um es tatenlos vorbeigehen zu lassen. Jede Gelegenheit nutzen, das Maximale herausholen was herauszuholen ist. Geld, Anerkennung, Parties, Vergnügen - das Leben will gelebt sein, sonst stirbt man ohne gelebt zu haben - das Motto von Volker Lacom, sein ganzes Leben hindurch.

      Zwei Polizisten kommen ins Krankenzimmer, wollen ihn befragen. »Nicht vernehmungsfähig, morgen«, sagt der Arzt zu ihnen. Es war ein Unfall. Die Erklärung schon vor Reiseantritt bis ins letzte Detail durchdacht: Er ging voraus, sie hinterher. Plötzlich, als er das Ende des Tunnels erreicht hatte, war sie nicht mehr da. Umkehren, rufen, suchen, dann die Entdeckung ihres Körpers in der Levada. Beate aus dem Wasser herausgezogen, die Wanderer bemerkt und um Hilfe gerufen. Ja, so wird es glaubhaft sein. Perfekt. Nichts anderes wird beweisbar sein, nichts! Mörder, Mörder, Mörder geistert es durch seinen Kopf. Nicht die Nerven verlieren. Einen klaren Kopf bewahren. Immer an den Plan denken. Nicht viel reden. Nicht verheddern, nicht verhaspeln. Innerlich cool bleiben, nach Außen hin aufgewühlt wirken. Schauspielern bis zum Schluss. Isabella, dieser Körper, diese zarte Haut, diese Lippen, diese Liebkosungen, unwiderstehlich, alles was ein Mann sich nur wünschen kann.

      Er schläft ein. »Endlich.« Das Klinikpersonal ist erleichtert. Zwei Tage Krankenhausaufenthalt und Volker Lacom kann die Klinik wieder verlassen. Die Befragung der Polizei ist ein Erfolg. Ein Unfall wird protokolliert. Seine Geschichte wirkt glaubhaft. Die Polizisten schöpften keinen Verdacht. Volker Lacom fährt mit einem Taxi zu seinem Hotel. Er führt unzählige Telefonate mit dem Reiseveranstalter und seinem Reisebüro in Deutschland. Er benachrichtigt Sarah Dobry, die Schwester seiner Frau - seiner verstorbenen Frau. Die Obduktion muss noch abgeschlossen werden, reine Routinesache. Für Volker Lacom bedeutet das: Warten. Aber diesmal lohnt sich das Warten. Dem Tüchtigen winkt reicher Lohn. Die restlichen Urlaubstage spielt er den trauernden Ehemann. Volker hat sich voll im Griff. Es stellt keine Schwierigkeit