Taylor George Augustine

Tod in der Levada


Скачать книгу

grausam für die Menschen, die den Verstorbenen mit Liebe verbunden sind. Man fragt Gott nach dem warum. Warum gerade jetzt? Warum auf diese Art und Weise? Warum nicht erst im hohen Alter? Warum nicht nach schwerer Krankheit? Tod nach schwerer Krankheit wird als Erlösung betrachtet. Die Menschen sind erleichtert, dass die Kranken endlich von ihrem Leiden befreit worden sind. Einen Menschen selbst von einem Leiden durch den Tod zu befreien - in der modernen Welt undenkbar. Die Bestimmung des Todeszeitpunktes ist Gott vorbehalten. Der Mensch darf nur mit Hilfe der Medizin das Leben verlängern. Trickst den Willen Gottes aus. Das moderne Leben ist so schön. Genießen, konsumieren, Erfolg haben, Krankheiten überwinden, Lieben - der Mensch hat es sich so schön eingerichtet, Menschen und Sachen, die ihn glücklich machen, um sich versammelt - und plötzlich soll ein Mensch völlig unverhofft abberufen werden? Das Leben wird von vielen Menschen als Leid betrachtet. Darf der Mensch also das Leiden verlängern, aber den Menschen nicht vom Leiden erlösen? Sarah Dobry geht vieles durch den Kopf. In Gedanken versunken nimmt sie das Bündel entgegen. Das rote T-Shirt hat Beate von ihrer Mutter zu Weihnachten geschenkt bekommen. Sie wird ihr nicht sagen, dass es Beates Totenhemd geworden ist.

      Schweigend gehen sie den Flur entlang, die Treppe hoch, die Krankenschwester hat sich längst verabschiedet und Sarah spürt nur noch einen kalten Lufthauch hinter sich. Volker scheint die Kälte in sich aufgesogen zu haben. Speichert sie ab, wie ein Akku. Ein lebender Eisberg, mehr Yeti als Mensch mit warmen Blut. Wortlos geht es zurück ins Hotel. Fünf Sterne, für Volker Lacom kommt nichts anderes in Frage. Schweigen, Hitze, Kälte aus dem tiefsten Innern eines menschlichen Herzens. Sarah registriert alles um sich herum.

      »Wo ist es genau passiert?«

      Eine Wanderkarte wird auf dem Tisch ausgebreitet. Volker Lacom fährt mit seinem Finger eine rot eingezeichnete Linie entlang.

      »Hier in diesem Tunnel, fast am Ende.«

      Sarah Dobry markiert sich die Stelle und beschließt, morgen die Route zu laufen. Sie wird sich alleine auf den Weg machen müssen, da der trauernde Ehegatte keine Kraft mehr hat, diesen Weg ein zweites Mal zu laufen. Die Erinnerungen sind zu schrecklich, das Ereignis sitzt noch tief in den Knochen.

      »Ich nehme Beates Rucksack mit.«

      Sarah Dobry fragt nicht lange, sondern macht das, zu dem sie sich entschlossen hat. Des Gatten Gehirn fängt wieder an zu rotieren. Lauert irgendwo Gefahr? Hat er etwas vergessen? Eine Handbewegung signalisiert seine Zustimmung. Doch schon im nächsten Augenblick läuft es ihm eiskalt über den Rücken.

      »Wir sehen uns dann in Deutschland wieder. Machs gut. Tschüs Volker.«

      Die Tür fällt ins Schloss und der Ehegatte grübelt für eine Weile über mögliche Gefahren nach, die ihm aus dem Rucksack heraus lauern könnten. Ein tiefes Durchatmen und die Gewissheit, dass weder Beweise noch Hinweise auf seine Tat zu erwarten sind, lassen ihn in einen tiefen Schlaf fallen. Nichts nagt heftiger im Innern eines Schuldigen, als die Angst, ertappt zu werden.

      Am nächsten Morgen ist Sarah Dobry früh unterwegs. Mit einem Taxi fährt sie an den Ausgangspunkt der Wanderroute, will exakt den Weg laufen, der ihrer Schwester zum Verhängnis wurde. Strahlender Sonnenschein, die Wolken hängen im Gebirge, festgesetzt, dennoch ständig in Bewegung. Im Minutentakt wechselt der Wolkenvorhang, gibt Felsen preis, die noch wenige Minuten zuvor nicht zu erkennen waren, um sie im nächsten Moment wieder völlig zu verbergen. Sie lässt das Naturschauspiel auf sich wirken, marschiert den felsigen Weg entlang, über Wurzeln und durch dichtes Gebüsch, immer hart am Abgrund, nur durch ein Seil gesichert. Die Levada strömt langsam in entgegengesetzter Richtung, das Wasser eisig und klar. Der Weg weist kaum Steigung auf, erfordert nicht allzu viel Kondition, nur Aufmerksamkeit, der steilen Abhänge wegen. Eine üppige Vegetation. Ein Erdrutsch beförderte einige Meter des Weges den Abhang hinunter, eine Kletterpassage über Geröll und Erde, das Sicherungsseil an der Seite bietet keinen Schutz mehr, der Weg endet und die Mauer der Levada ist die einzige Möglichkeit weiter zu kommen. Kahle schwarze Felsen ragen weit in den Himmel empor. Hohe Bäume, dichtes Gebüsch und Sträucher verhindern den Blick in die Tiefe. Keine Menschenseele weit und breit, außer einer einsam marschierenden Frau, völlig in Gedanken versunken an nichts Bestimmtes denkend und völlig überwältigt von der Naturkulisse, die hinter jedem Hügel, nach jeder Kurve, nahezu im Minutentakt ein neues Schauspiel bietet. Seit drei Stunden ist sie unterwegs, knapp die Hälfte der ganzen Tour. Die Levada weicht vom Weg ab, auf den sie später wieder trifft. Der erste Tunnel ist erreicht und Sarah gönnt sich eine kleine Pause. Als sie Beates Rucksack öffnet, wird ihr bewusst, dass sie während der ganzen Tour kaum an sie gedacht hat. Überwältigt von der Natur und dem Panorama hingen ihre Gedanken im Hier und Jetzt, verdrängten die Tatsache, dass sie wegen des Todes ihrer Schwester hierher gereist ist. Neu gestärkt geht sie einige Meter den schmalen Tunnel hinein. Auf der einen Seite die Levada, auf der anderen Seite die von Menschenhand freigelegte, kahle Felswand, von denen stetig Wasser tropft. Der Weg, schmal, gerade ausreichend für eine Person zum Laufen. Sarah wartet eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. »Mist.« Nach wenigen Metern bricht sie ihr Vorhaben ab und geht wieder zurück. Sie zieht Beates Stirnlampe heraus, doch die Enttäuschung ist groß, da sie keinen Lichtstrahl von sich gibt. Im Batteriefach ist noch Wasser. Auch nach dem Trocknen erfüllt die Stirnlampe nicht ihren Zweck. Ein Umkehren oder gar Aufgeben kommt für eine Frau wie Sarah Dobry jedoch nicht in Frage. Ein Blick in die Landkarte verrät die Länge des Tunnels und Sarah beschließt, sich langsam voranzutasten. Meter für Meter geht es vorwärts, mit der Hand immer die kahle, feuchte Wand entlang. Sarah kann absolut nichts sehen, lediglich den schwachen Lichtkegel am Ende des Tunnels. Ein helles Pünktchen, das Sarah wieder die Freiheit gewähren wird, aus dieser dunklen, von Menschenhand geschaffenen Umklammerung. Furchtlos und mit Bedacht lässt sie die Dunkelheit hinter sich und marschiert, umgeben von dichtem Pflanzenwuchs und kahlen Felswänden in immer schnelleren Schritten den Weg entlang. An einer Wegkreuzung stößt sie auf eine kleine Wandergruppe und wie es das Schicksal so will, haben sie den gleichen Weg vor sich. Durch Gespräche aus der Lethargie gerissen und mit dem Hinweis auf ihre in dem nächsten Tunnel verunglückten Schwester, bekunden die Wanderer ihr Mitgefühl und achten während der Tunnelpassage auf Spuren oder mögliche Hinweise. Volkers nur vage Beschreibung der Unglücksstelle verlängert die Aufenthaltsdauer in dieser unheimlichen Dunkelheit. Eine bedrückende Stimmung ist allen Anwesenden anzumerken, so, als ob Beates Geist hier sein Unwesen treiben würde. Die Stirnlampen leuchten so gut es geht den Boden und die Felswand aus, sie blicken in die Tiefe der Levada.

      »An dieser Stelle muss es passiert sein.«

      Sarah Dobry schaut zu dem Mann, der die Gruppe führt.

      »Die Fußspuren auf dem sandigen, feuchtes Grund deuten darauf hin, dass sich hier mehrere Menschen aufgehalten haben und nicht einfach durchgelaufen sind.«

      Schweigen. Bedrückt schauen sie in der Dunkelheit um sich, gedenken der Verstorbenen, sprechen im Stillen ein Gebet. Sarah markiert die Stelle an der Wand, indem sie mit einem Messer die Initialen des Namens ihrer Schwester einritzt. Ansonsten ist jedoch nichts zu finden oder zu erkennen. Wortlos gehen sie dem Tageslicht entgegen. Sarah bedankt sich für deren Hilfe, ohne die sie die genaue Stelle niemals hätte finden können. Die Wege trennen sich und wieder völlig in Gedanken versunken, geht Sarah dem Ende ihrer Tour entgegen. Was wollte sie eigentlich mit dieser Tour bezwecken? Warum hat sie sich entschlossen, die Unglücksstelle ausfindig zu machen? Hatte ihr journalistischer Instinkt ihr etwas vorgegaukelt? Fragen über Fragen, doch Sarah findet keine Antworten darauf. Sie grübelt vor sich hin, lässt sich immer wieder von der Natur und ihrer Schönheit ablenken, beobachtet die wenigen Tiere, die sie zu sehen bekommt. Am nächsten Morgen fliegt sie nach Deutschland zurück. Im Gepäck Beates Rucksack samt Inhalt und die Kleidung, die ihre Schwester am Unglückstag getragen hatte.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную