Taylor George Augustine

Tod in der Levada


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hier immer so.«

      »Ich will sie sehen.«

      Volker Lacom registriert bereits ihren journalistischen Instinkt mit tausenden von Fragen, Verdächtigungen und ein Misstrauen, das selbst ein Schwur bei allen bekannten Göttern nicht beseitigen kann. Sein Trauergesicht mutiert zu einer in Lauerstellung gezogene Fratze eines Raubtieres, das sich gegen eine drohende Gefahr jeden Moment zur Wehr setzen muss.

      »Warum?«

      »Sie ist meine Schwester.«

      Mit dem Taxi geht’s zur Klinik. Eine Unterhaltung kommt nicht zustande. Sarah Dobry trauert um ihre Schwester, ist tief in Gedanken an sie versunken. Sie denkt an ihre Mutter, die schon früh zur Witwe wurde und jetzt auch noch in das Grab ihrer Tochter sehen muss. Der Alptraum aller Eltern. Das Taxi quält sich durch die Straßen von Funchal, Stoßstange an Stoßstange geht es im Schneckentempo voran. Die Mittagshitze ist erdrückend. Der Taxifahrer entschuldigt sich für die defekte Klimaanlage und öffnet auf beiden Seiten die Fenster vollständig. Straßenlärm, Abgase, Hupen und vorbei ratternde Motorräder. Sarah Dobry kann den Meerblick nicht genießen. Zu sehr steckt der Verlust ihrer Schwester ihr in den Knochen. Volker Lacom grübelt darüber nach, wie er sich verhalten soll, um sich nicht verdächtig zu machen. Trauernde Menschen reden wenig bis gar nichts. Schweigen. Er schaut aus dem Fenster, sein Blick immer in die gleiche Richtung gerichtet. Sarahs Blicke stets im Rücken, das wird das beste sein.

      Das Klinikpersonal ist zuvorkommend und weiß mit trauernden Menschen umzugehen. Die Treppe führt auf dem kürzesten Weg zur Hölle. Chlorgeruch, Desinfektionsmittel und der Geruch von Ammoniak liegt in der Luft, schwer wie Blei und nicht mehr aus der Nase zu bekommen. Das Gehirn gleicht den Geruch mit bisherigen Gerüchen ab, unangenehme Erinnerungen werden wach. Die Treppe will nicht enden, die Beine stampfen Stufe für Stufe hinab, der Gang verzögert sich, die Schritte werden langsamer. Die begleitende Krankenschwester weiß, wie sich Menschen fühlen, denen ein Anblick toter Angehöriger bevorsteht. Sie schweigt. Kahle Wände säumen den langen, schmalen Flur. Die Schritte widerhallen in einem gleichmäßigen Takt, ein Echo, das kaum wahrgenommen wird, von den Gedanken verdrängt, Gedanken - in sich selbst gefangen, unempfänglich für Geräusche und Worte von Außen. Volker Lacom hält seinen Kopf leicht nach unten geneigt. Er läuft den Beiden hinterher, angespannt, aber nicht verzweifelt. Hoch konzentriert legt er sich seine Worte für nachher zurecht. Er weiß, wie er sich verhalten muss. Sarah Dobry hält ein Taschentuch in ihrer Hand. Tränen quellen aus ihren Augen hervor. Das Taschentuch ist völlig durchnässt. Aber sie geht aufrecht. Als Journalistin hat sie schon vieles erlebt. Der Tod ihrer Schwester und der bevorstehende Anblick ihres Leichnames trifft sie dennoch mitten ins Herz. Die Krankenschwester öffnet eine Stahltür. Ein kalter Luftstrom kommt ihnen entgegen. Weiße Kacheln, soweit das Auge reicht. Der kalte Handschlag eins Arztes reißt Sarah Dobry aus der Lethargie und befördert sie in die kalte, unmenschliche Realität zurück. Ein paar Worte auf Englisch werden gewechselt. Die Krankenschwester setzt sich auf einen Stuhl und überlässt dem Arzt alles weitere. Volker Lacom war noch nie in einer solchen Situation. Das gehört nicht zum Angenehmen im Leben und wurde stets verdrängt. Sein Plan hatte eine solche Leichenschau nicht vorgesehen. Sein Hass auf Sarah Dobry steigert sich ins Unermessliche. War der Tag im Tunnel nicht schon genug unangenehm für ihn? Wozu diese Quälerei? Dieser Arzt ist für diesen Job wie geschaffen. Sein Gesichtsausdruck einer Leiche gleich, sein Gang gleicht dem eines Gespenstes. Er ist hier in seinem Revier. Volker Lacom gehört nicht hierher. Er ist für den Strand, den Pool, die Segelyacht und das Nachtlokal geschaffen. Die kalte Luft wirkt wie tausend kleine Nadelstiche auf seinem Gesicht. Seine Eingeweide ziehen sich zusammen. Seine Zähne klappern, obwohl es sein Gehirn verbietet. In außergewöhnlichen Situationen kann der Mensch seine Emotionen nicht bewusst verbergen. Er ist ihnen ausgeliefert, für seine Mitmenschen durchschaubar, wie eine Glasscheibe. Der Arzt führt sie an einen Tisch, auf dem der Leichnam von Beate Lacom unter einem grauen Tuch verborgen liegt. Die weiblichen Konturen sind deutlich zu erkennen. Die Hände von Volker Lacom waren es seit jeher gewohnt, eben diese Körperteile, die die Weiblichkeit darstellen, als erstes zu berühren, wenn er sich spät abends seiner Frau näherte. Sein Blut kommt in Wallung, beseelt von dem Drang, seine Frau zu berühren, auf sie zu stürzen, sie zu liebkosen, eine Abschiedsszene, wie sie der beste Liebesroman nicht zu schildern vermag, kein Regisseur im besten Hollywoodstreifen darstellen kann. Das Leichentuch wirkt durch das Neonlicht noch grauer, als es in Wirklichkeit zu sein scheint. Der Tod ist hier allgegenwärtig. Das Jenseits auf Erden ist hier in diesem Raum gebündelt. Gefangen, von den Menschen an diesen Ort verbannt, weit weg vom Alltagsgeschehen, aus den Augen der mitleidigen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der der Tod nur noch eine Randerscheinung ist, eine Erscheinung, mit der sich nur noch ausgewählte Spezialisten, wie Ärzte, Leichenbestatter und Priester zu beschäftigen haben. Für jedes Leben das eigentliche, vom Schöpfer seit jeher bestimmte Ziel. Der Arzt fasst das Tuch an den Enden und zieht es langsam von Beate Lacoms Gesicht, bis ihr ganzes Antlitz sichtbar ist. Sarah Dobry hält sich ihr Taschentuch vor den Mund, der Leichengeruch ist intensiv, stechend, und wird, je näher sie ihr kommt, unerträglicher.

      »Sie lebt! Beate! Beate! Sie atmet! Sie lebt!«

      Volker Lacom schreit sich diese Worte aus dem Hals, stürzt sich auf Beate, fasst sie mit seinen Händen wolllüstig an, sein Ohr auf ihrem Busen und nur mit Mühe kann der Arzt und die herbeieilende Krankenschwester Volker Lacoms Umklammerung um den kalten Körper lösen. Die moderne Medizin hat hierfür ihre Erklärung, weiß, wie trauernde Angehörige in solchen Fällen reagieren. Während sich das Fachpersonal um Volker Lacom kümmert und behutsam auf ihn einredend ins Nebenzimmer führt, blickt Sarah Dobry in das Antlitz ihrer toten Schwester. Die Nase und die Stirn haben Schürfwunden. Das Gehirn von Sarah Dobry beginnt zu arbeiten. Trotz der emotionalen Empfindung versucht sie, alle möglichen Eindrücke abzuspeichern. Unbewusst weiß sie, dass sie die Ereignisse zu einem späteren Zeitpunkt viel besser in Zusammenhang bringen kann, falls es erforderlich sein sollte. Das Leichentuch ist durch den emotionalen Ausbruch von Volker Lacom verrutscht und gewährt einen freien Blick auf den Oberkörper. Sarah Dobry erkennt leichte Schürfwunden an den Brüsten. Mit Bedacht zieht sie das ganze Tuch von ihrem Leib, beschaut sich ihre Schwester von oben bis unten und erkennt weitere Schürfwunden am rechten Knie und an der linken Hand. »Komisch.« Ein Wort, das nicht gesprochen, sondern laut gedacht wird, immer dann, wenn Verwunderung über etwas völlig Unerwartetes entsteht.

      Volker Lacom ist sich seines Talentes als Theaterspieler bewusst und lässt widerwillig Trost und Aufmerksamkeit des Arztes und der Krankenschwester über sich ergehen. Fürsorglich wird er mit liebevollen Worten umsorgt, die er zwar nicht verstehen, aber dafür spüren kann. Trost und Fürsorge finden zwar in allen Sprachen dieser Welt unterschiedliche Worte und klingen für einen Sprachunkundigen völlig fremd, aber der Kontext des Geschehens, das Ereignis, die Hingebung lassen auf den Sinn der gesprochenen Worte schließen und erlangen so die gleiche Wirkung wie in der Muttersprache. Gestik und Mimik transformieren dies in einer menschlich unmissverständlichen Weise, berühren das Herz der Betroffenen auf sonderbare Weise und machen selbst Worte, die nicht ausgesprochen werden, hörbar. Auch für Volker Lacom, obwohl sein Herz für diese Worte verschlossen ist, sein Herz, das ein Geheimnis in sich verbirgt, das niemals ein Mensch erfahren darf.

      Der Arzt bedeckt den kalten Körper in der gewohnten Weise, nachdem er dem Wunsch von Sarah Dobry nachgekommen ist, ihre Schwester von allen Seiten betrachten zu dürfen. Sarahs Verwunderung über Beates Verletzungen werden vom Arzt bereitwillig erläutert, Fragen ausführlich beantwortet, Erklärungen und Theorien sollen Aufschluss geben, den fachfremden Angehörigen, die die Wahrheit nicht ertragen können und Vermutungen und Fehlinterpretationen freien Lauf lassen, wie einem Geist, der sich einem erlernten Denkmuster entziehen will und sich selbst zu ergründen sucht.

      Der Arzt überreicht Volker Lacom ein Bündel, das die Kleidung und die Schuhe sowie sämtliche Habseligkeiten, die seine Frau bei der Wanderung trug, enthält. Wortlos nimmt er es entgegen. Doch er hat dafür keine Verwendung, spürt die Belastung und Abscheu in sich aufsteigen und reicht es dem Arzt zurück, mit dem Hinweis, es endgültig zu entsorgen.

      »Ich nehme es mit.«

      Für Sarah Dobry ist es eine Frage des Respekts ihrer Schwester gegenüber, ihre Kleidung in Andenken aufzubewahren, zumindest eine Zeit lang. Beates Kleider