Sie auch schon länger in dieser Einrichtung?«, fragte ich und nippte an dem heißen Tee.
»Ich-ich-iiiiiiich b-b-b-b-bibibibibbibibinbibi …«, begann er und brach ab. Oje! Er stotterte. Das würde eine große Herausforderung werden, mich seiner als Informationsquelle zu bedienen. Die Saaltür flog auf und eine Gruppe wild plaudernder Patientinnen trat ein. Nachdem sie sich am Buffet bedient hatten, besetzten sie einen Tisch sehr weit abseits von uns. Was für ein Pech! Doch meine Höflichkeit verbat es mir, den Platz zu wechseln und diesen Stotterer alleine zu lassen.
»Ich selbst bin schon lange hier«, versuchte ich ein neues Gespräch, »und was führt Sie in diese Einrichtung?«
»We-we-we-we-weeeege-gen - d-d-d-d-de-de-de-dem …«, begann er hilflos und gab erneut auf. Es war zwecklos. Auf diese Art war es kaum möglich, Antworten zu den Fragen zu erhalten, die mir auf den Nägeln brannten. Der Saal füllte sich weiter, doch an diesem Tisch blieb ich mit dem Stotterer allein.
»Wenig Auswahl haben die hier. Ein Fruchtsalat oder Müsli würde uns beiden gut bekommen, nicht?« Schweigend wollte ich ihm nicht gegenüber sitzen, schließlich konnte er nichts für seine Schwäche.
»Mü-mü-mü-mü-müüüüüüüüs-mümümümü …« Er brach ab. Offensichtlich wollte er mit dem Wort Müsli einen Satz beginnen, mit dem er sogleich desaströs gescheitert war.
Wie schade. Vielleicht saß in ihm der Geist eines überragenden Genies, das durch das Dilemma geplagt wurde, dass seine Gedanken stetig vorauseilten und überholten, was er in Worten hätte fassen können. Wenn ihm das Talent eines Redners zu eigen wäre, hätte er vielleicht mächtige Reden schwingen können. Wie Gabriel – nein, mein Gegenüber würde seine Vorträge wohl auch mit Inhalt füllen können. Ich stellte mir vor, wie er ohne solch ein Handicap großartige Ansprachen hätte halten können, die unauslöschlich im Gedächtnis der Menschheit geblieben wären wie die Reden eines Martin Luther King, John F. Kennedy oder die des Cicero, die selbst nach zweitausend Jahren unsere Schüler im Lateinunterricht beschäftigt hatten. Doch seine Natur hinderte ihn durch diese schwerwiegende sprachliche Hürde daran, seine Gedanken in Worte zu fassen.
»T-t-t-t-t-t-te-te-teeeeeeee?« Er zeigte auf meine Tasse. Ich nickte. Er griff nach meinem Tongefäß und ich sah ihm dabei zu, wie er zum Buffet ging und sie füllte. Langsam begannen wir uns zu verstehen. Als er zurückkehrte, kaute ich schon auf dem letzten Stück meines Brotes, nahm dankbar die Tasse entgegen und spülte die Reste der trockenen Weizenkost hinunter. Wenn nur alle Menschen, die nicht von solchen Schwierigkeiten betroffen waren und denen das Leben keine solchen Hindernisse auferlegt hatte, sich bemühen würden wie dieser Mann! Wie sehr würde es unsere Welt bereichern, wenn alle Menschen solcherlei Leistung für ihre Mitmenschen bringen würden? Wir befänden uns in einer Welt, in der nicht jeder nur an sich selbst dachte. Statt dass man nach unermesslicher Macht gierte, sich fragte, was könnte ein jeder für seinen Nächsten tun. Man musste sich einfach bewusst werden, wie viel man zu leisten imstande wäre, wenn man nicht im Größenwahn versuchen würde, mit dem Kopf durch die Decke zu stoßen, danach durch die nächste und viele weitere, bis man im obersten Stockwerk angekommen war und das Gehirn auf dem Weg derart beschädigt hatte, dass man es nur noch dazu gebrauchen konnte, sich endgültig dem Wahnsinn hinzugeben.
Dem Mann fehlte nur ein Coach, der ihm zur Seite gestellt wurde, um seine sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln. In dem Bereich mangelte es mir an Kompetenz, das musste ich mir eingestehen. Da ich nun mit meinem Frühstück fertig war, erhob ich mich und zwinkerte dem Mann freundlich zu, um ihn in seinem Selbstbewusstsein ein wenig zu bestätigen und deponierte mein Tablett auf der Geschirrablage. Vielleicht gab ihm diese kleine Ermutigung so viel Kraft, dass er eine Konfrontationstherapie wagte und seine Redehemmnisse überwinden würde. Möglicherweise sah ich ihn bald in irgendwelchen Talkshows, in denen er in brillanten Kontroversen mit seinen außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten glänzte. Falls es so etwas wie Talkshows heutzutage noch gab.
Mittlerweile war ich bereit, meine neue Situation zu akzeptieren und mich den neuen Umständen anzupassen. Das Werbeblatt für das Parteitreffen dieser Tierschutzpartei nicht spontan zu entsorgen, war die richtige Entscheidung. Dies wurde mir bewusst, nachdem sich herausgestellt hatte, dass es wesentlich schwieriger war, an Informationen zu gelangen, als ich mir das vorgestellt hatte. Bevor ich mich jedoch wieder in die Untiefen der Politik wagte, nahm ich mir vor, diese langersehnte Freizeit, die sich mir so unverhofft darbot, endlich zu nutzen. Am Empfang stöberte ich in den herumliegenden Flyern mit Ausflugstipps nach etwas, das ich auch ganz alleine unternehmen könnte. Ohne Führer. Und vor allem ohne Reporter oder Kameras. Eine Wanderung zur Zugspitze versprach mit malerischen Fotos eine idyllische Tour. Ich werde sicher nicht die ganzen dreitausend Meter hochklettern. Mit einem Teil des Weges, einfach ein paar Stunden in der Natur zu verbringen, wäre ich vollkommen zufrieden.
Der erste Anstieg zeigte mir deutlich: um meine Kondition stand es nicht zum Besten. Doch bald stellte sich heraus, dass die Mühe es wert war, als der Weg mich durch den Partnachklamm führte. Ein reißender Bach donnerte neben einem schmalen Pfad vorbei, von oben prasselte Wasser über mächtige Wasserfälle in die Tiefe. Mikroskopisch kleine Wassertropfen schwebten in der Grotte. Ich ließ die kühle und unglaublich erfrischende Luft tief in meine Lungen strömen, wodurch mein Geist sich langsam unbeschwerter fühlte. Die Klamm endete und ich fand mich wieder in der freien Natur. Endlich alleine. Diese atemberaubende Landschaft übte eine intensive Sogwirkung auf mich aus, die Bergwanderung weit weg von Photographen, Politikern oder irgendwelchen Wichtigtuern aus der Wirtschaft gab mir ein Gefühl, als wäre ich nach langer Gefangenschaft plötzlich frei. Keine aufdringlichen Paparazzi weit und breit, die sich hinter irgendeinem Baum versteckten. Wie gut sie mir tat, diese Freiheit! Die man nur in wenigen Staaten, fast nur in meinem Land kannte. Außer, man war Kanzlerin. Das war jedoch mittlerweile nicht mehr ich, seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Ich fühlte, wie eine unglaubliche Last von meinen Schultern gefallen war. Nun war ich eine einfache Bundesbürgerin. Tief atmete ich die Bergluft ein. Unglaublich, dieses Gefühl der Unabhängigkeit. Ohne Aufgaben, ohne Pflichten frei atmen zu dürfen. Meine Hüfte meldete sich wieder. Ich spürte einmal wieder die unangenehmen Nachwirkungen meines Sturzes beim Skifahren. Zudem war kein Mensch von jungen Jahren mehr, sondern hatte das stolze Alter von 95 Jahren erreicht und war körperlich auch noch nicht ganz in Form. Ich durfte meinen Körper nicht überfordern. Es war Zeit, mich auf den Rückweg zu machen.
Als ich durch die Grotte in die Zivilisation zurückkehrte, begannen sich schon die ersten Schatten der Dämmerung auf das Tal zu legen. Abends fand die Parteiveranstaltung dieser Tierfreunde statt und ich war nun fest entschlossen, an ihrer Sitzung teilzunehmen. Zum glücklichen Schaf, las ich. Ein vegetarisches Restaurant. Hier war ich richtig. Auf ein leckeres Schnitzel oder die zünftig bayrische Schlachtplatte musste ich wohl verzichten. Es würde einen schlechten Eindruck bei dieser alternativen Bürgergruppe machen, wenn ich die Knochen von Tieren abnagte, während sie daneben über die grausame Tierhaltung diskutierten und Salat aus Brunnenkresse und Gänseblümchen futterten.
»Du hast dich tatsächlich entschieden, heute zu kommen!« Euphorisch sprang der Mann vom Kiosk von seinem Stuhl auf, als ich die Tür geöffnet hatte. Er lief mir entgegen und schloss mich freudig in die Arme. »Ist das Okay? Wir duzen uns alle in der Gruppe.« Er löste sich und hielt mir seine rechte Hand hin. »Jürgen!«
»Angela.« Ich schüttelte sie und nickte.
»Darf ich vorstellen: Penelope, Odin und Kassandra.« Ich betrachtete die kleine Gruppe, die an einem Sechsertisch saßen. Es waren viel jüngere Menschen als dieser Jürgen. Sie hatten meiner Einschätzung nach die Dreißig noch nicht überschritten. Mit Sicherheit erinnerten sie sich an keine Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dies war mir sogar recht, denn so bestand nicht die Gefahr, dass sie mich anbettelten, ein Selfie mit mir aufnehmen zu dürfen. Interessant fand ich ihre Namen. Der Phase der Marvins, Kevins und Ashleys hat sich wohl eine Renaissance antiker Vornamen angeschlossen. Zumindest schien diese Vorliebe auf Eltern alternativ eingestellter Menschen zuzutreffen. Ich schüttelte nacheinander die Hände von allen Dreien und nahm Platz.
»Unsere Ortsgruppe ist vollzählig«, verkündete mein langhaariger Freund. Ich schluckte einen kurzen Moment der Enttäuschung herunter, da ich mir wesentlich mehr Parteimitglieder erhofft hatte. Denn zu