Michael Sohmen

Sie ist wieder da


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unterbrach der Oberarzt meinen Gedankengang.

      »Mehr oder weniger habe ich mir schon ausreichend Informationen beschaffen können, um mir ein Bild von der aktuellen politischen Lage zu bilden. Von der veränderten Situation Europas bis zur Aufsplitterung der Bundesrepublik in drei Staaten. Draußen vor dem Gebäude gibt es einen Kiosk, es ist immer noch möglich, sich einige Informationen über gedruckte Medien zu beschaffen, auch wenn die Auswahl - nehmen sie mir diese Ausdrucksweise nicht übel - sehr bescheiden ist!«

      »Sie haben recht. Wir konnten Sie nicht gegen ihren Willen einsperren. Daher wurde dieses Konzept der vorsichtigen Konfrontation mit der Gegenwart über einige Jahre erarbeitet. Schade. Den Aufwand hätten wir uns sparen können. Wenigstens ist unsere Befürchtung, dass sie durch den Realitätsschock ihr Bewusstsein erneut verlieren könnten, nicht eingetreten.« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Klicken in seiner Tasche hatte aufgehört. Ich interpretierte es als Zeichen, dass er von dem Zwang befreit worden war, mir etwas vorzumachen und irgendwelche Unwahrheiten oder Halblügen auftischen zu müssen. Nun konnte endlich Klartext gesprochen werden. Damit fühlte er sich sichtbar wohler, das las ich aus seiner Körpersprache. »Sie machen geistig und körperlich auf mich einen äußerst positiven Eindruck. Keiner hätte nach den vielen Jahren vermutet, dass Sie dies weitgehend unbeschadet überstehen. Bevor ich mich um die nächsten Patienten kümmern muss, kann ich noch etwas für Sie tun? Was das Abendessen angeht, dies wurde in Ihrer Abwesenheit neben ihr Krankenbett gestellt.« Nun war die Gelegenheit, endlich zu erfahren, wie die Bundestagswahl damals ausgegangen war.

      »Am meisten interessiert mich, was sich in unserem Land abgespielt hat, nachdem ich das Bewusstsein verloren habe. Die Wahl, wie ist sie ausgegangen? Wer bildete die neue Regierung?«

      »Da bin ich überfragt.« Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Das war vor meiner Zeit. Aus Ihren Akten, die ich von meinen Vorgängern übernommen habe, weiß ich nur, dass Sie bei einer Wahlveranstaltung ohnmächtig geworden sind und alle Versuche, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen, vergebens waren. Aber ich kann Ihnen die Krankenakte gerne bringen. Vielleicht erfahren Sie darin mehr.«

      »Es wäre mir sehr wichtig. Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet!« Er verabschiedete sich nickend, ich kehrte in mein Zimmer zurück und sah gleich das Tablett auf dem Beistelltisch. Mächtiger Kohldampf ließ meinen Magen pochen, als hätte dieses Organ ein kardiologisches Problem. Ich entfernte den Plastikdeckel. Der optische Eindruck des Essens war leider nicht gerade ansprechend. Es sah so aus, als hätte ein Hund auf dem Teller sein Geschäft verrichtet. Ich griff nach der Gabel und kostete ein wenig. Es schmeckte so, wie der optische Eindruck erwarten ließ. Manche Dinge ändern sich wohl nie, dachte ich. Wäre ich nicht von diesem Bärenhunger genötigt – ich hatte das Zeug retour gehen lassen.

      Eine Krankenschwester platzte herein und schleppte einen Stapel mit Ordnern herein.

      »Mit freundlichen Grüßen vom Oberarzt«, stöhnte sie, legte alles auf den Beistelltisch und eilte wieder aus dem Zimmer.

      Ich war unglaublich gespannt, nun zu erfahren, wie die Wahl ausgegangen sein würde, wegen der ich in diese langanhaltende Bewusstlosigkeit gefallen war. Der erste medizinische Bericht begann mit einer mehrseitigen Beschreibung des Ablaufs der Einlieferung einer Bundeskanzlerin, also meiner Person, in einem komatösen Zustand. Es folgten Versuche mit Adrenalin und vielen anderen Mitteln, deren lateinische Namen nichtssagend waren. In dem Ordner waren Röntgenspektroskopien von meinem Gehirn abgeheftet, die ausschließlich mit kein Befund kommentiert waren, ergo wurde nichts Schwerwiegendes festgestellt. In solchen Fällen hatte man auch keine bewährte Therapie in petto, die man hätte einsetzen können. Das Werk hatte ich schnell durchgeblättert, ich griff nach dem zweiten Ordner. Man hatte nun einige Experimente mit neuen Medikamenten angestellt, was nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Mir fiel das Lesen der Berichte extrem schwer. Zu viel lateinische Wörter. Der Medizin fehlte jemand wie Martin Luther, der das Ganze in eine verständliche Sprache hätte übersetzen können. Sogar die katholische Kirche war in diesem Detail fortschrittlicher als dieser viel gelobte Medizinsektor. Ich unternahm einen weiteren Versuch und blätterte in dem nächsten Werk, einem dick gefüllten Wälzer. Mit meinem Fall hatten sich offensichtlich unzählige Mediziner beschäftigt, es wurden mehrere Dissertationen darüber verfasst. Ich überflog Promotionsschriften, doch für mich war es zu viel an unverständlichem Kauderwelsch, mit dem ich kaum etwas anfangen konnte. Ordner für Ordner sah ich durch, über viele Jahre testete man neue Verfahren oder neu zugelassene Medikamente wie … Kokain, kristallines Methylamphetamin, Heroin …? Ich sah wohl nicht recht! Hoffentlich würden diese Menschenversuche an meinem Körper keine ernsthaften Folgen nach sich ziehen. Ich wollte mein Leben und meine Karriere als Bundeskanzlerin nicht am berüchtigten Bahnhof Zoo beenden und als Junkie an einer Überdosis sterben. All dies medizinische Bemühen war umsonst, enttäuscht warf ich den letzten Hefter auf den Stapel neben meinem Bett. Mich hatte vor allem interessiert, wie das Ergebnis der Bundestagswahl damals ausgegangen war. Sie hätten dies einfach in einem der Ordner abheften können. Stattdessen gab es nur diese Ansammlung unzähliger Maßnahmen, die allesamt gescheitert waren. Ich war so schlau wie vor dem Lesen der Berichte. Und sehr müde, so dass ich mich auf die Seite rollte und eine angenehme Position fand, bei der ich mich entspannen konnte, um mir ein wenig Schlaf zu gönnen.

      Realitätsschock

      Als die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer drangen, dachte ich erst darüber nach, ob ich all das geträumt hätte. War dies ein entsetzlicher Albtraum? Doch befand ich mich in einem weißgetünchten Raum, der eindeutig nach einem Krankenzimmer aussah und auch den entsprechenden Geruch nach Lösungsmitteln besaß. Ich drehte mich zur Seite, dort lag immer noch der Berg an Aktenordnern, den ich am Vorabend durchforstet hatte. Ein kurzes Morgengebet mit der Bitte an Gott, dass dies nur ein Traum gewesen sein möge, blieb folgenlos. Es war nicht mein Stil, ihm die Schuld dafür zu geben, wenn die Dinge nicht so liefen, wie ich es gern hätte. Daher ließ ich mich nun auch nicht dazu verleiten, ihm Vorwürfe zu machen, dass so vieles einen ganz anderen Weg genommen hatte, als ich es mir gewünscht hatte. Im Stillen wandte ich meine Gedanken zu ihm. Bist du da? Und was ich schon immer fragen wollte: bist du ein Mann oder eine Frau? Wie immer bekam ich keine Antwort. Gott war wohl wie ein UNO-Beobachter, der zuschaute, aber niemals eingriff. Wir Menschen waren also weiter auf uns gestellt und daher musste ich selbst herausfinden, wie ich aus dieser Situation das Beste machen könnte.

      »Guten Morgen!« Der Oberarzt stand ohne Vorwarnung im Zimmer, doch dies war hier wohl Sitte. Er blickte kurz auf den Stapel von Aktenordnern. »Ich sehe, Sie haben sich in die Akten vertieft. Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?«

      Ein Nein wäre jetzt unhöflich gewesen. Der Mann hatte getan, was er tun konnte, auch wenn es zu nichts geführt hatte. »Nicht alles. Trotzdem Danke für Ihre Bemühungen. Ich habe alle Akten durchgesehen und mir einen Eindruck verschaffen können.«

      »In Ordnung. Ich werde die Ordner wieder mitnehmen.« Etwas enttäuscht ging er auf den Stapel zu, wuchtete ihn hoch und blieb in der Tür kurz stehen. »Wenn Sie Ihr Frühstück nicht bevorzugt im Zimmer einzunehmen wünschen, empfehle ich Ihnen, sich zum Speisesaal im Erdgeschoss zu begeben. Es ist für Ihre Genesung sicher von Vorteil, wenn Sie möglichst bald wieder unter die Leute kommen.«

      Als er wie ein Lastesel mit dem Aktenberg seines Weges gegangen war, zögerte ich keine Sekunde und machte mich bereit, um mich unter das Volk zu begeben. Abgesehen davon, dass ich mich vollkommen gesund fühlte, hatte er recht damit, dass die Gesellschaft von anderen genau das Richtige für mich war. Über einige Gespräche mit den Bürgern dort in der Gemeinschaft könnte ich mir mit etwas Glück die für meine Planung wichtigen Informationen beschaffen.

      Ich war erkennbar früh dran, denn im Saal saß nur ein einzelner Patient. Am Buffet nahm ich mir einen Teller und legte zwei Brotscheiben darauf, Butter, Marmelade und füllte eine Tasse mit heißem Tee. Vorsichtig balancierte ich damit in Richtung eines einsamen Mannes. Wie beiläufig fragte ich, ob es ihn stören würde, wenn ich mich an seinen Tisch dazusetzen würde. Er nickte, dann schüttelte er den Kopf. Meine Frage war ungeschickt formuliert, sein Lächeln interpretierte ich jedoch als Zustimmung und nahm Platz. Mein Plan war, mit etwas Smalltalk zu beginnen und ein wenig freundliches Interesse für seine persönliche Situation zu demonstrieren.