Maren Nordberg

Teufelsweg


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es richtig heiß war.

      »Frau Gartelmann.«

      Die sattgrünen, unwirklich leuchtenden Bergwiesen zogen rechts und links der Autobahn vorüber.

      »Frau Gartelmann!«, gleichzeitig zog und schüttelte jemand ungeduldig an ihrer linken Schulter. Bei jedem Stoß durchzuckte sie ein Schmerz, als ob sie sich an einem elektrischen Weidezaun festklammerte. Augenblicklich riss Inga die Augen auf, aber nur, um sie geblendet sofort wieder zuzukneifen. Das war wirklich die Höhe, sie nachts andauernd aufzuschrecken.

      »Frau Gartelmann, Ihre Pupillenreflexe sind unauffällig, sonst auch alles in Ordnung?« Inga sagte nichts und atmete auf, als die Tür wieder zufiel.

      Erst dann biss sie sich vor Wut auf die Zunge und schmeckte sofort Blut, klar, die Bisswunden gingen wieder auf. Sie roch immer noch diesen ekeligen Schweiß, den sie schon kannte. Gab es hier in diesem verfluchten heißen Krankenhaus denn kein vernünftiges Personal? Sie würde einen Teufel tun und dieser Person von ihren Schmerzen berichten, nicht, dass sie sich noch über sie beugte, um eine Injektion zu verabreichen. Inga hatte doch Glück gehabt, hatten sie alle immer wieder betont, ihr fehlte eigentlich nichts. Schließlich war sie genau untersucht worden und abgesehen von einigen Prellungen hatten die Ärzte nichts gefunden! Dass ihre Wirbelsäule nach solch einem Aufprall protestierte und Schmerzsignale versandte, konnte man ihr nicht verdenken.

      Nein, ihr war nichts passiert! Dieser zynische Satz klang ihr noch in den Ohren. Nichts! Dabei war er so schön gewesen, der, so wie es aussah, letzte gemeinsame Familienurlaub. Sie hörte ihr eigenes unterdrücktes Schluchzen und ballte ihre Hände zu Fäusten. Dabei hatte sie sich so gefreut, dass Marc kurz vor den Sommerferien doch noch zu dem Entschluss gekommen war, sie in den Campingurlaub nach Italien zu begleiten. Mit fünfzehn Jahren war das keine Selbstverständlichkeit, viele seiner Freunde fuhren nur noch mit Jugendgruppen, aber keinesfalls mehr mit den eigenen Eltern in den Urlaub. Marc war ihr einziges Kind geblieben, was die Sache auch nicht leichter machte. Sie hatten sich mindestens noch ein zweites Kind gewünscht, aber an die schwierige Zeit mit den ganzen Fehlgeburten wollte sie jetzt auch nicht denken. Ihr Mund fühlte sich an wie mit Mehl bestäubtes Schmirgelpapier und das Wasserglas war schon seit Stunden leer. Kein Wunder, dass sich bei dieser sommerlichen Hitze auch die Krankenzimmer dieses süddeutschen Kleinstadtkrankenhauses in Brutöfen verwandelten, die sogar nachts nicht mehr auskühlten. Aber sie mochte ja die Wärme, eigentlich. Die Aussicht, mit dem Klingelknopf wieder die sehr persönlichen Duft verbreitende Grobmotorikerin ins Zimmer zu holen, gefiel ihr nicht. Doch der Tropf fesselte Inga an das Bett, denn der Beutel mit der klaren, farblosen Lösung hing hoch über ihr. Zum Wasserhahn an der Seitenwand des Krankenzimmers kam sie so nicht. Zaghaft zog sie ein wenig am farblosen Plastik, das von ihrem Arm zum Infusionshalter hinaufführte, im Liegen hatte sie keine Chance. Es wurde Zeit, dass die Flüssigkeit endlich in ihre Vene geflossen war. Aber wenn sie aber dabei zusah, mit welcher quälenden Langsamkeit die Tropfen den Durchflussregler passierten, dauerte es sicher noch bis zum nächsten Morgen. Was bekam sie eigentlich verabreicht, wenn ihr nichts fehlte? Erstaunlicherweise besiegte eine untypische Trägheit ihre im Gehirn unaufhörlich kreisende Unzufriedenheit und Unruhe. Sie blieb einfach liegen, ohne etwas gegen ihren Durst zu unternehmen.

      Es musste so gehen, sie presste die Augen wieder fest zu und lenkte ihre Gedanken zurück an den Lago Maggiore, auf den Campingplatz. Im Liegen, solange sie sich nicht bewegte, regten sich wenigstens keine Nerven im Rücken.

      Selbstverständlich war die Wahl auf einen der italienischen Orte gefallen, ein Urlaub am Schweizer Ufer dieses langen, großen Alpensees war beim derzeitigen Wechselkurs des Euro unerschwinglich. In Ascona konnte man umgerechnet für eine Pizza locker achtzehn Euro zahlen, an der Promenade in Cannobio war man dagegen schon ab fünf Euro dabei. Und die Pizzas waren exzellent gewesen, sie spürte einen Moment dem Geschmack von gut gewürzter Tomatensoße, Basilikum und dem typischen Steinofenaroma des Hefeteigs nach. Rainer, ihr Ehemann, und Marc hatten den Wohnwagen gemeinsam in Cannobio auf einen Stellplatz mit Blick auf den glitzernden See manövriert. Inga erinnerte sich genau, wie sie spürte, dass der Urlaub in dem Moment begann, als der Wohnwagen mit Unterlegkeilen in seiner Position arretiert wurde. Augenblicklich war die Anspannung von ihr abgefallen und sie hatten sich alle drei in Ruhe auf die Sonnenliegen gelegt, noch bevor Marc sein Zelt aufgebaut hatte. Das war ein friedvoller Moment gewesen. Inga atmete tief durch und dachte an Rainers weißen Wohlstandsbauch, den er dort der Sonne entgegengestreckt hatte. Mit Mitte fünfzig war ein Waschbrettbauch eben nur noch durch hartes Training zu erhalten. Bei diesem Gedanken musste sie in ihrem Krankenhausbett lächeln, denn Rainer war schon immer leicht vollschlank gewesen und mit den Jahren traten die speziellen Eigenschaften stärker hervor.

      Und jetzt lag sie hier, wo sie nicht sein wollte. Ihre Zungenspitze rieb trocken über die Oberlippe, bald ging es nicht mehr, ohne etwas zu trinken. Sie hielt die Luft an und versuchte, weitere angenehme Erinnerungen zu erhaschen. Wie im Zeitraffer tauchten Erinnerungsfetzen an die Wanderungen im wilden, schroffen Verzascatal auf, ihre Vertrautheit miteinander. Abends war Marc an der riesigen, authentischen Promenade von Cannobio losgezogen und hatte sich mit Gleichaltrigen vergnügt. Eigenartigerweise schmerzte Inga diese Erinnerung jetzt, das musste am Durst liegen.

      Der Beutel der Infusion hing einfach zu hoch, sie erreichte ihn vom Bett aus nicht, sonst hätte sie ihn einfach mit zum Wasserhahn genommen. Sie zählte im nächtlichen Dämmerlicht die in die Tropfkammer fallenden Tröpfchen. So wenig, wie davon in den Körper floss, konnte nichts helfen, außerdem fehlte ihr nichts, also brauchte sie auch keine Medikamente. Es tat zwar weh, als sie sich ungeübt die Nadel aus dem Unterarm zog, aber es war auszuhalten. Jetzt fühlte sie sich gleich ein wenig besser, nicht mehr ganz so angebunden. Die Nadel stach sie in die Matratze, dort steckte sie besser als in ihrem Arm. Sie knirschte mit den Zähnen, diese verfluchte Nacht im Krankenhaus hatten sie nur Rainer mit seiner Kritiklosigkeit zu verdanken. Ihr selbst hatte am Abend die Kraft gefehlt, sich gegen das Ansinnen aufzulehnen, eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben. Aber Rainer, der war schon wieder ganz munter herumgelaufen. In welchem Zimmer war er eigentlich in dieser Nacht untergebracht? Jetzt, wo sie ihn gebraucht hätte, war er nicht da.

      *

      Nun kam eine der schwierigen Aufgaben dieser Nacht, sie musste aus dem Bett herauskommen, ohne ihre Nacken- und Rückenwirbel zu beanspruchen. Ganz langsam schälte sie sich aus dem Bett, dabei bemühte sie sich krampfhaft, den Rücken wirklich gerade zu halten. Der Nacken fühlte sich trotzdem an, als ob ihr hier und dort mit Genuss und Ausdauer kleine Stacheln hineingestochen würden. Sobald sie auf ihren eigenen Füßen stand, war es viel besser. Hoffentlich kam jetzt niemand ihre Reflexe prüfen, dachte sie missmutig. Sie nahm ihr ausgetrocknetes Glas und ging vorsichtig Stück für Stück über das von der Sommerhitze lauwarme Linoleum in Richtung Waschbecken. Dort angekommen, zog sie mit dem Fuß einen der beiden kleinen Hocker heran und ließ sich so gerade darauf nieder, als hätte sie einen Stock verschluckt. Wenn Rainer sich um sie kümmern würde, hätte sie sich das alles sparen können, grummelte es in ihr, dabei drehte sie das Wasser voll auf. Es dauerte eine Weile, bis es richtig kalt war, Inga trank und trank. Wie gut, dass sie im Gegensatz zu ihrem Mann so eine schlanke Figur behalten hatte, das hielt wenigstens die Gelenke jung, dachte sie dabei. Sie ließ das Wasser noch eine Weile über ihre Hände laufen, wusch sich das Gesicht ab und fühlte sich sofort viel besser. Nachdenklich strich sie sich wieder über diese Stelle am Hals, unterhalb vom Ohrläppchen. Bevor sie zu Ende gedacht hatte, war schon die Krankenhausseife großzügig auf ihrer Handfläche verteilt. Richtig, sie musste das Blut und was auch immer da noch auf sie getropft war, gründlich abwaschen. Sie seifte die Stelle ein, tränkte ein Handtuch mit viel frischem Wasser und wischte damit den Schaum wieder ab. Dass ihr Leih-Nachthemd dabei ebenfalls nass wurde, störte sie nicht. Und sie konnte in diesem Moment nicht ahnen, dass sie in absehbarer Zeit wieder etwas mit viel Seife von sich entfernen musste, um die allerletzte Spur eines Menschen zu beseitigen.

      Als sie wieder vom Kunstleder-Hocker aufstand, fühlte sie sich gestärkt und die verdammten Schmerzen beim Beanspruchen der Wirbelsäule hatten sich auf einem Niveau eingependelt, das sie ignorierte. Ihr fehlte ja auch nichts. Morgen früh, gleich wenn sie aus diesem Krankenhaus raus waren, musste Rainer für sie ein gutes Schmerzmittel besorgen.

      Sie lief acht Schritte in Richtung