Maren Nordberg

Teufelsweg


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ihr nichts Ernstes geschehen. Marc und Rainer hatten ebenfalls nichts über sie erfahren, und Inga war sich sicher, dass sie sich auch nicht nach ihr erkundigt hatten. Männer lebten eben in ihrer eigenen Welt.

      Als Erstes mussten sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus die Servicenummer der Versicherung anrufen. Wieder typisch Mann, anstatt vom Krankenhaus aus alles zu organisieren, konnten sie jetzt hier in der Hitze nach einer Telefonzelle suchen, weil ihre Handys noch irgendwo im Autowrack klemmten. Und Rainer war zufrieden mit sich, dass er bereits am Vortag den Unfall gemeldet hatte und glaubte, dass jetzt alles für die Heimfahrt geregelt war.

      Inga stiegen komischerweise Tränen in die Augen, wenn sie an die ganzen Sachen im Wohnwagen und im Kofferraum dachte. Ihre Hosen, T-Shirts, ihre Bücher, die Taschen und natürlich ihren Rucksack mit der Kamera vermisste sie schmerzlich. Dabei konnte sie doch froh sein, dass ihnen fast kein Haar gekrümmt worden war. Wenn Rainer ihr gleich die Schmerztabletten besorgte, konnte sie den Unfall doch einfach aus ihrer Erinnerung streichen und sich freuen, dass sie ihre Kleidung und das technische Equipment sozusagen rundum erneuert bekam.

      »Wann können wir wohl unsere Reste aus dem Auto holen?«, fragte sie mühsam, der Kloß im Hals störte und sie ärgerte sich, sie wollte doch nichts mehr denken und fühlen.

      »Falls davon überhaupt noch etwas zu gebrauchen ist, werden wir die Sachen sicher irgendwie bekommen.«

      Das half ihr nicht.

      Rainer hatte andere Dinge im Kopf. »Mich interessiert vielmehr, wie wir heute noch nach Hause kommen. Die Lust auf eine Nacht im Hotel will sich bei mir einfach nicht einstellen.«

      »Oh nein«, pflichtete ihm Marc bei, »heute Abend ist die Geburtstagsfeier von Daniel, ich habe fest zugesagt.«

      Inga wunderte sich ein wenig, wie Marc jetzt an eine Feier denken konnte, sagte aber nichts. Irgendwie war Ablenkung vielleicht gar nicht so verkehrt. Aber sie übte sich lieber langsam und unbemerkt im nichts denken und fühlen.

      Rainer entdeckte die Telefonzelle direkt neben einem kleinen Supermarkt als Erster.

      Während er die Versicherung anrief, ging Inga ging mit Marc Getränke kaufen. Die Hitze hatte Europa weiterhin fest im Griff.

      Nach dem Bezahlen ließ Inga einen Blick über die Zeitungen schweifen. Da lachte sie von vielen Titelseiten das Mädchen mit den blonden Zöpfen an. Ein erster freudiger Impuls durchzuckte sie. Die Schlagzeile dazu lautete Marie (6) tot, Raser unverletzt. Inga fühlte jetzt wirklich nichts mehr, die Ohnmacht kehrte zurück. Sie griff nach Marcs Arm, der sie so gut es ging, auffing.

      Inga fand sich auf einer Holzbank wieder, die auf dem Marktplatz vor einem flachen Brunnen stand. Rainer sah aus der Froschperspektive irgendwie unwirklich aus, wie er sich über sie beugte und ihr Luft zufächelte. Seine Stirnfalten wölbten sich viel mehr als sonst und die Unterlippe hing leicht nach unten. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als Marc sich auch über sie beugte.

      »Mensch, wir wollten gerade einen Krankenwagen rufen.« Rainer zog sie liebevoll in seine Arme und drückte sie an sich. »War es Dir nach den Strapazen in der Sonne zu heiß oder hast Du doch eine leichte Gehirnerschütterung?«

      Inga biss die Zähne aufeinander und schwieg. Nun war es wirklich so weit, sie dachte und fühlte nichts mehr.

      »Nein«, erklärte Marc, »wir haben gerade aus den Zeitungen erfahren, dass das kleine Mädchen bei dem Unfall gestorben ist. Und laut Schlagzeile ist auch noch ein Mann daran schuld, der schon ein dickes Punktekonto in Flensburg hat und trotzdem mit seinem schicken Sportwagen meinte, dass er mit hohem Tempo und Lichthupe die störenden Fahrzeuge aus dem Weg bekommt.«

      Inga nickte nicht, sondern sie sah wie entrückt den im Brunnen planschenden Kindern zu und spürte wieder, wie die warme eigenartige Flüssigkeit auf ihren Hals tropfte.

      *

      Inga saß immer noch vor dem Brunnen und hörte sich ausdruckslos Rainers Erfolgsmeldung an: »Ich soll mich in einer Stunde noch mal bei der Versicherung melden. Bis dahin wollen sie alles für unsere Zugfahrt organisiert haben. Ein Ersatzfahrzeug habe ich abgelehnt, ich könnte mich heute noch nicht wieder hinter das Steuer setzen.«

      Wieder typisch, Rainer war einfach zu gutmütig, nach diesem Unfall stand ihnen ganz sicher eine Taxifahrt bis nach Bremen zu. Inga schüttelte kaum merklich den Kopf. Ihr Mann gab sich mit einer Zugfahrkarte zufrieden und freute sich, dass die Versicherung nicht auf der Weiterfahrt mit einem Mietwagen insistierte. Unwillkürlich wischte sie die warme, stinkende Flüssigkeit vom Hals und wollte sich über die Versicherung auslassen, als sie von einem neuerlichen Anflug von Ohnmacht wieder auf die Bank gedrückt wurde. Hoffentlich überstand sie die Zugfahrt, aber eigentlich war ihr das im Moment auch egal.

      Die Versicherung organisierte tatsächlich ihre Fahrkarten. Inga, Rainer und Marc Gartelmann bestiegen gegen vierzehn Uhr einen Regionalzug, der sie zum nächsten Bahnhof mit ICE-Anschluss brachte. Erst in Hannover mussten sie wieder umsteigen. Es war ein weiterer heißer Tag im Juli 2010. Die Temperaturen erreichten wie in den Tagen zuvor rekordverdächtige 36 Grad. Die Klimaanlage in ihrem ICE versagte, wie es anscheinend üblich war bei dieser Hitze, Fenster ließen sich in Hochgeschwindigkeitszügen grundsätzlich nicht öffnen, im Großraumwagen herrschten etwa fünfzig Grad, Celsius, Getränke gab während der Fahrt nicht mehr zu kaufen. Einige ihrer Mitreisenden erlitten einen Kreislaufkollaps und wurden an irgendwelchen Bahnhöfen in Krankenwagen umgeladen. Noch Wochen später sollten diese Zustände die Medien beschäftigen.

      Inga Gartelmann spürte von den Temperaturen nichts, sie hatte es geschafft mit dem Gefühlsvakuum. Marc und Rainer ließen die Fahrt in ihren nass geschwitzten T-Shirts über sich ergehen und blickten manches Mal besorgt zu ihr hinüber. Inga schien erstaunlicherweise nicht zu transpirieren, ihr von vielen grauen Strähnen durchzogenes Haar war jedenfalls vollkommen trocken, und sie redete kein Wort.

      Inga spürte genau, dass sich etwas in ihrem Leben nachhaltig geändert hatte. Sie konnte bloß nicht greifen, was es war. Und sie ahnte noch nicht im Entferntesten, wie es sich auswirken würde. Wenn sie kurz eindöste, dann lediglich, um vom dumpfen Knall wieder aufzuschrecken. Manchmal wischte sie sich über ihren Hals.

      Nun lag nur noch die kürzeste und wahrscheinlich einfachste Etappe der unangenehmen Heimfahrt vor ihnen. Vom Bremer Hauptbahnhof zu ihrem Reihenhaus in der Neustadt gab es auch am Sonntagabend um zwanzig Uhr eine gute und schnelle Straßenbahnverbindung, doch die Drei stiegen wie verabredet am Bahnhofsvorplatz in eines der wartenden Taxis. Das heißt, Inga hatte niemand um ihre Meinung gebeten, aber sie hatte die leise Tuschelei ihrer beiden Männer auf dem Bahnsteig mitbekommen. Rainer sorgte sich um sie. Er befürchtete, dass seine Frau noch kurz vor dem Ziel zusammenbrechen könnte.

      Rainer gab dem Taxifahrer das Ziel an: »Ahornstraße sechs bitte.«

      Marc blickte erstaunt auf. Bevor er etwas sagen konnte, flüsterte Rainer kumpelhaft: »Dann gehen wir durch den kleinen Fußweg zwischen den Gärten in die Havelstraße, sonst sehen uns alle Nachbarn ohne Gepäck aus dem Taxi steigen und fragen uns schon heute Abend Löcher in den Bauch.«

      Nach der zehnminütigen Fahrt liefen sie durch den schmalen Verbindungsweg ihrem Zuhause entgegen. Selbst in Bremen herrschte Hochsommer und überall aus den schmalen, zugewachsenen Gärten klangen Gesprächsfetzen und fröhliches Kinderlachen. Außerdem lag ein Grillgeruch über der ganzen Siedlung, dass das Atmen schwerfiel. Inga musste ein Würgen unterdrücken, diese Ausdünstungen des toten, heißen Fleisches ekelten sie plötzlich an. Herr Grümpel aus der Nachbarschaft, der seinen Hund Gassi führte, grüßte sie kurz und verschwand dann in seinem Garten.

      Zu Hause nahm Inga den direkten Weg ins Bett, was die anderen beiden mit diesem Abend noch anfingen, interessierte sie nicht.

      3

      Am nächsten Morgen erwachte sie vom lauten Klang ihrer Haustürglocke aus einem überraschend traumlosen Schlaf. Diese Klingel stammte noch aus der Zeit, als sie ihre schwerhörige Mutter im Haus aufgenommen hatten, um sie vor einem Lebensabend im Seniorenheim zu bewahren. Das waren