Maren Nordberg

Teufelsweg


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ob der Knall immer noch nachhallte und ihre Ohren wieder taub werden ließ.

      Es hatte sich so angefühlt, als ob alle Luft aus ihrem Körper gepresst wurde, während die ganze Welt ein Strudel war, dann musste sie ohnmächtig geworden sein, auf alle Fälle war da nichts mehr, keine noch so kleine Erinnerung. Als Nächstes hing sie irgendwie auf der Seite und überall waren diese, zunächst noch weißen, Beutel. Sie spürte wieder die unendliche Angst der ersten Sekunden, als sie nichts von Rainer und auch nichts von Marc hörte.

      Inga merkte, wie ihr Körper jetzt mitten in der Hitze einfror, diese Erinnerungen zerstörten sie regelrecht, aber sie konnte nicht anders, die Bilder drängten aus dem Gedächtnis ins Bewusstsein. Rainers erstes Stöhnen und ihre Furcht, dass Marc tot war. Es war entsetzlich gewesen und diese Angst hatte nicht nachgelassen, sie hatte sich nicht getraut, zu ihm hinzusehen. Stattdessen war ihr Blick an den Resten des Beifahrersitzes klebengeblieben. Dort, wo sie eigentlich hätte sitzen sollen, waren irgendwelche Metallteile sichtbar gewesen, die sich von vorne in die Rückenlehne gebohrt hatten. Und dann hatte sie den ersten Tropfen abbekommen, es tropfte und tropfte warm und bräunlich-rot auf sie herab. Und es stank nach Exkrementen und Erbrochenem. Sie sah wieder den rot-bräunlich verfärbten Airbag über sich, aber sie schaffte es, die aufkommende Ohnmacht abzuwehren. Ganz sicher war sie im Unfall-Wrack wieder ohnmächtig geworden, denn bis sich die Rettungskräfte bis zu ihnen vorgearbeitet hatten, musste es noch eine Weile gedauert haben. An eine Wartezeit fehlte Inga aber jegliche Erinnerung, vielleicht hatte ihr Gehirn aus Selbstschutz diese Zeit aber auch ausgeblendet, denn der nächste gespeicherte Eindruck war dann Marcs Stimme. Marc, ihr ein und alles, er hatte mit den Sanitätern gesprochen, es ging ihm anscheinend gut. Danach war es relativ schnell gegangen, die Gurte wurden durchtrennt, das Metall der Karosserie an einer Stelle mit schwerem Gerät geöffnet und sie alle nacheinander aus dem Wrack herausgeholt.

      Erst jetzt setzte Inga ihren Gang im Zimmer wie in Zeitlupe fort. Als sie an den verwrungenen Blechhaufen auf der Autobahn dachte, rammte sie sich ihre Daumennägel in die Kuppen der Zeigefinger. Es tat alles so weh, aber sie selbst hatten ja Glück gehabt.

      »So, jetzt rasiere ich vorsichtig die Haare an der Wunde etwas ab, damit wir sie gut und sauber kleben können.« Etwas knisterte, dann war es wieder still. Warum sie jetzt plötzlich überlaut jedes vergangene Detail hörte, war ihr unklar. Das war die Stimme des Arztes gewesen, der Marcs Platzwunde am Kopf geklebt hatte. »Jetzt bitte nicht bewegen.« Inga sah wieder ganz genau, wie er sich mit angespanntem Gesicht über Marcs Haaransatz beugte und die Wundränder zusammenpresste, damit sich nur eine ganz kleine Narbe bildete.

      Sie lauschte in ihre Erinnerungen an die nüchterne Stille hinein, die nur ab und zu durch Rascheln, Rollen oder wenige menschliche Laute unterbrochen wurde. Außer ihnen schien an diesem schönen Sommertag niemand im Krankenhaus zu sein.

      Rainer hatte am wenigsten abbekommen, lediglich die Bisswunden im Mund, die üblicherweise bei einem starken Aufprall von den Zähnen gerissen wurden, teilte er mit Inga und Marc.

      Inga schleppte sich jetzt mit letzter Kraft ins Bett, ob sie wollte oder nicht, sie musste sich hinlegen, und zwar sofort. Sie schloss die Augen und sah die nicht mehr zu differenzierenden Schrottwagen. Wie bestellt öffnete sich plötzlich die Tür des Krankenzimmers und Inga ließ das Rütteln sowie das Blenden mit dem hellen Taschenlampenlicht über sich ergehen.

      Es hatte sowieso alles keinen Sinn mehr, jede noch so schöne Erinnerung bekam automatisch einen Makel, sobald sie gedacht war. Sie merkte wieder die Wut in sich aufsteigen, Rainer hatte eine Prophezeiung abgeliefert, als er die Raser in Eraser umtaufte, eine Prophezeiung, die sich jetzt bewahrheitet hatte. In Wirklichkeit handelte es sich aber nicht um eine unerklärliche Vorahnung, sondern einzig und allein darum, dass sie gerade in schönster Konsequenz die natürlichen Folgen der deutschen Straßenverkehrsordnung ausbadeten. Und sie wusste nicht mal, wie viele Menschenleben diesem Eraser zum Opfer gefallen waren, am besten, sie dachte nichts mehr. Entschlossen kniff sie ihre Augen wieder zu und versuchte krampfhaft, an nichts zu denken.

      Es knallte. Inga schrak zusammen, sie hatte diesen eigenartigen Knall ganz deutlich gehört. Wieder durchzog sie ein stechender Schmerz. Sie blinzelte unwillig, sie musste kurz eingenickt sein und dabei hatte sich ihre Erinnerung sofort selbständig gemacht. Unwillig tastete sie vorsichtig über die Decke. Der Stoff fühlte sich ganz glatt und weich an.

      Ihre Gefühle, die musste sie noch viel besser unter Kontrolle bekommen und wirklich nichts mehr denken. Damit begann sie am besten jetzt sofort.

      2

      Jemand klopfte energisch an die Tür, Inga schreckte hoch. Es war noch heißer im Zimmer als in der Nacht, von draußen leuchtete es hell und warm, die Sonne schien bestimmt schon eine Weile. Es klopfte wieder. Bevor sie auch nur einen Laut von sich gegeben hatte, wurde die Tür schon geöffnet. Zwei Uniformierte kamen auf sie zu. Inga fühlte sich überrumpelt, sie hatte wohl mit Rainer oder Marc gerechnet, aber nicht mit irgendwelchen Polizeibeamten. Sie sah in zwei ernste, junge Gesichter, ein weibliches und ein männliches. Inga musste den Blick abwenden und betrachtete die vier gerahmten Fotos an der ockerfarbenen Wand gegenüber. Immer der gleiche Baum, im Sommer, Herbst, Winter und Frühjahr, wie originell. Die Kranken im Bett konnten auf die symbolischen Fotos starren und sich überlegen, in welcher Lebensphase sie sich selbst gerade befanden. Es gab allerdings einen Haken, beim Baum wiederholten sich die Lebenszyklen viele Jahrzehnte lang, beim Menschen nicht, spätestens am Ende des Winters stand der Tod.

      »Entschuldigung, Frau Gartelmann, wir möchten nicht stören.«

      Das taten sie aber.

      Die Aufnahme der Personalien und ihrer Aussage zum Unfall zogen sich in die Länge, obwohl Inga mit Ausnahme des Mädchens im anderen Wagen nichts gesehen hatte.

      »Sie brauchen wirklich nicht weiter zu fragen, abgesehen von einem undefinierbaren Geräusch und dem Knall habe ich nichts mitbekommen.« Inga merkte, wie sie mit den Zähnen knirschte, denn sie fand es reichlich dreist, ihr jetzt mit einem genormten Fragebogen für Verkehrsunfälle zu kommen.

      »Es tut uns leid, aber es ist Standard, dass alle Unfallbeteiligten detailliert befragt werden.« Dabei sah der Polizist nicht wirklich so aus, als ob ihn die Befragung überhaupt berührte, so kühl machte er sich Notizen für das Protokoll. Seine Kollegin strahlte mehr Mitgefühl aus.

      »Frau Gartelmann, für uns ist das auch nicht so einfach, aber denken Sie doch bitte auch an die anderen Unfallopfer, denen können Sie vielleicht mit ihrer Aussage helfen, ohne dass Sie es ahnen.«

      Wenn man den anderen Unfallopfern noch helfen konnte, war es zumindest möglich, dass das Mädchen überlebt hatte, vielleicht hatte sie alles viel schlimmer in Erinnerung, als es wirklich gewesen war. Inga überwand sich endlich.

      »Wie geht es eigentlich dem Mädchen mit den blonden Zöpfen?«

      Keine Antwort war auch eine Antwort, aber Inga wollte es jetzt genau wissen. »Ihr Wagen war genau neben unserem. Ich wollte ihr gerade zuwinken, dazu war es dann aber zu spät. Ich würde sie gern besuchen, liegt sie auch hier im Krankenhaus?«

      Die Frage war offensichtlich falsch. Schließlich rang sich der unberührte Beamte doch einige überraschende Worte ab.

      »Wir dürfen leider nur Angehörigen Auskunft erteilen. Ich denke, Ihre Aussage reicht jetzt auch so, falls doch weitere Fragen wichtig werden, wenden wir uns schriftlich an Sie. Vielen Dank für Ihre Geduld und gute Besserung.«

      Damit stand er auf, nickte der Kollegin auffordernd zu und beide verließen ziemlich schnell das nach Desinfektionsmitteln riechende Zimmer.

      Was war denn das jetzt, fragte sich Inga irritiert, aber jede Gefühlsanwandlung änderte sowieso nichts. Am besten, wenn sie sich jetzt wieder darauf konzentrierte, nichts zu denken. Und es war Zeit, endlich mit Marc und Rainer das Krankenhaus zu verlassen und nach Hause zu fahren. Obwohl ihr das alles eigentlich auch egal sein konnte, wenn sie nichts mehr dachte und fühlte.

      Gegen elf Uhr wurden sie endlich aus dem kleinen bayerischen Kreiskrankenhaus in einen sonnigen touristischen Sonntag entlassen.