Maren Nordberg

Teufelsweg


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nichts Gutes.

      »Inga, heute Abend ist das Interview.«

      »Ach ja?« Für Inga verliefen derzeit alle Tage in einem einheitlichen, grauen Nebel, sie sah die Tage kommen und gehen, alles war egal.

      »Nicht ach ja, du musst jetzt endlich wieder aufwachen!«

      So hatte ihr Mann sie noch nie angesehen.

      Sie ließ den Staublappen auf das Regalbrett sinken und folgte ihrem Fluchtinstinkt. Allerdings hatte sie nicht mit Rainer gerechnet. Er stellte sich vor die Zimmertür und packte sie an den Schultern. Erstarrt blickte sie ihn an und versuchte, den Sinn seiner ernsten, langsam gesprochenen Worte zu erfassen. »Wir sind es Marie schuldig, dass wir gegen die Raser auf deutschen Autobahnen kämpfen. Inga, du musst mitkommen, Marie braucht dich!«

      Inga schüttelte seine Hände ab. Aber er hatte den Nerv getroffen. Sie hatte sich mit solchen Gedanken schon selbst das Hirn zermartert, aber staunte doch über die Worte, die ihren Mund verließen. »Ich weiß, ich werde tun, was zu tun ist.«

      Rainer atmete erleichtert auf, seine Inga, er wusste, auf sie war Verlass, wenn es drauf ankam. Zum Glück ahnte er nicht, welche Bedeutung ihr Satz noch erlangen sollte.

      Am Nachmittag fuhren Inga und Rainer im Leihwagen zum Sender. Rainer redete während der Fahrt ohne Unterlass, Inga ließ ihn und übte sich im Denken an nichts.

      Später saßen sie im hellen Licht der Strahler, Inga wurde richtig heiß. Rainer berichtete von der getöteten Marie, die nur sechs Jahre alt werden durfte, weil ein Raser auf der linken Fahrspur alle anderen Fahrzeuge zum unkontrollierbaren Ausweichen genötigt hatte.

      Dann war Inga dran. Doch sie schwieg und hatte das Gefühl, dass sie niemals etwas sagen konnte. Alle warteten und niemand anders sagte etwas, so begann sie zu ihrer eigenen Überraschung stockend und leise.

      »Ich wollte Marie gerade zuwinken, sie hat so vergnügt gelacht, mit ihrer Zahnlücke und den süßen Zöpfen.« Inga rang mit den Tränen, zwang sich aber zum nächsten Satz. »Und dann, dann ist sie im nächsten Moment zu Tode gequetscht worden und ihr Innerstes ist mir auf den Hals getropft.« Sie hielt mit der Hand die Stelle am Hals bedeckt und verstummte, von einem Weinkrampf geschüttelt.

      Rainer ergänzte: »Wir haben inzwischen erfahren, dass Maries Körper so zerquetscht worden ist, dass Lungen, Herz und Darm über uns ausgepresst wurden.«

      Inga hatte sich wieder etwas gefangen und beschrieb den Zuschauern stockend, aber sehr genau den eigenartigen Geruch, den die tropfenden Körperflüssigkeiten verströmt hatten. Rainer lieferte weitere Informationen: »Marie hatte das Pech, in einem älteren Kleinwagen ohne Airbags und ohne Seitenaufprallschutz zu sitzen.«

      Nun endlich war der richtige Zeitpunkt, Rainer konnte seine vorbereitete Argumentationskette anbringen, an der er so lange gefeilt hatte: »Es ist leider heute so, dass Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Sicherheitseinrichtungen gemeinsam die Straßen nutzen. Angefangen beim Seitenaufprallschutz, der erstmals von Volvo im Jahr 1991 angeboten wurde über diverse Airbagsysteme bis hin zu ESP. Auch in der Größe und im Gewicht unterscheiden sich die Fahrzeuge, man denke an die kleinen Smarts, die beliebten SUVs und die viele Tonnen schweren Lkw. Alle sollen gemeinsam die gleichen Straßen nutzen, auch die Autobahnen, da wird gleiche Sicherheit für alle nie zu erreichen sein. Aber«, und hier machte Rainer eine wohlüberlegte Pause, »wenn keiner mehr über 130 Kilometer pro Stunde fahren würde, hätten wir einen immensen Zuwachs an Sicherheit. Es wären viel weniger Fahrspurwechsel nötig, da die Zahl der Überholvorgänge deutlich reduziert würde. Außerdem wären die physischen Kräfte, die bei einem Unfall entstehen auf einem viel niedrigeren Niveau gedeckelt. Man stelle sich mal den Unterschied vor, ob ein Fahrzeug mit 130 oder mit 190 Kilometern pro Stunde auf einen anderen Wagen prallt. Das sind glatte 60 Kilometer pro Stunde weniger. Und wie viel 60 Kilometer pro Stunde ausmachen, kann man sich leicht bei Crashtests im Internet ansehen, bei denen Fahrzeuge mit dieser Geschwindigkeit gegen eine Wand fahren.« Um diesen Umstand zu unterstreichen, erinnerte er an den Fahrer eines Erlkönigs, der erst im April 2010 nachts mit 190 Kilometern pro Stunde in eine Unfallstelle auf der rechten Fahrspur einer deutschen Autobahn gefahren war und dadurch einen Menschen getötet hatte. Rainer hatte sich vorgestern bei der der Zeitungslektüre sehr darüber gewundert, dass vor Gericht verhandelt wurde, ob dem Fahrer deswegen wohl der Führerschein entzogen werden solle.

      Rainer war mit sich zufrieden, jetzt brauchte er nur noch einmal kurz auszuholen, um sein Vorhaben mit Eleganz abzuschließen. Im Publikum blieb es still, entweder er hatte die Menschen wirklich erreicht oder er hatte sie einfach mit seinem Gerede schläfrig gemacht. Der Moderator machte jedenfalls keine Anstalten, ihn zu unterbrechen. Das lag vielleicht auch daran, dass er ihn aus dem Konzept gebracht hatte, eine Wendung des Gesprächs in diese Richtung hatte Rainer vorher absichtlich nicht angekündigt. Rainer folgerte: »Da wir unsere Autobahnen weiterhin für die verschiedensten Fahrzeuge offen halten müssen, sind wir gleichermaßen verpflichtet, eine größtmögliche Sicherheit herzustellen. Und die effektivste und einfachste Lösung, die bereits seit vielen Jahren in den USA praktiziert wird und auch in allen anderen Ländern der Europäischen Union Anwendung findet, ist das Tempolimit. Mit jedem Tag, den es in Deutschland nicht eingeführt wird, sterben überflüssigerweise Menschen auf deutschen Autobahnen, die mitten aus dem Leben gerissen werden, wie die kleine Marie.«

      Nach diesen Worten herrschte absolute Ruhe. Der Moderator schwieg anscheinend minutenlang, bevor er sich bei Inga und Rainer für das Gespräch bedankte.

      4

      Der Alltag kehrte zurück, der durch die Routine vieles wieder ins Lot bringen sollte. Rainers Urlaub war vorbei und die Schule hatte wieder begonnen. Aber Inga fühlte sich weiterhin zerrissen und das Interview war die Hölle gewesen. Sie hätte niemals mitgehen dürfen, sie ärgerte sich über sich selbst. Es hatte alle Erinnerungen an den Unfall aufgefrischt und schien sie exakt für alle Ewigkeit zu konservieren. Sie hatte ständig Maries lachendes Gesicht vor Augen und litt weiter unter Schlaflosigkeit, weil sie alle paar Minuten von dem dumpfen Knall aufwachte. Sie wusste, dass sie ihr Training, an nichts zu denken, unbedingt intensivieren musste. Abschnittsweise gelang es ihr schon ganz gut, aber noch nicht gut genug.

      Rainer ging anders mit dem Geschehenen um. Er redete sich die Last gerne von der Seele. Inga hätte über diese Rollenverteilung unter normalen Bedingungen geschmunzelt, eigentlich fraßen doch Männer die Probleme in sich hinein und Frauen redeten so lange darüber, bis sich die Schwierigkeiten aufgelöst hatten. Aber normale Bedingungen hatten sie beide nicht mehr.

      Rainer entging Ingas Zustand nicht, er machte sich zunehmend Sorgen um seine Frau. Er musste unbedingt etwas unternehmen, das wurde ihm in den folgenden tristen Tagen klar. Sie musste dem Sog des Unfalls entrissen werden und ins Leben zurückkehren. Es reifte langsam aber sicher eine Idee in ihm.

      Er arbeitete als kaufmännischer Angestellter bei einem großen Genussmittelhersteller in Bremen und fühlte sich schon lange nicht mehr von den stupiden Aufgaben am Computer ausgefüllt. So sah er eine Chance darin, seine durch den Unfall erlangte Bekanntheit zu nutzen und sich die Durchsetzung von Tempo 130 auf deutschen Autobahnen zur persönlichen Aufgabe zu machen. Dadurch könnte der noch vor ihm liegende Teil seines Lebens die gewisse Würze erhalten. Vielleicht wurde er ja noch mal ins Fernsehen eingeladen und konnte interessante Gespräche mit bekannten Persönlichkeiten führen. Wie viel Spaß ihm das machte, hatte er in der letzten Zeit erfahren, so traurig der Anlass für die Gespräche auch war. Hoffentlich half Inga tatkräftig mit. Das könnte die Lösung für alle Probleme sein. Er hatte bloß noch keine Ahnung, wie er Inga zur Mitarbeit bewegen konnte.

      Am Montagmorgen schob Rainer die restlichen Sonntagsbrötchen in den Backofen und drehte den Startknopf der Kaffeemühle auf zehn Tassen. Er trank den Kaffee gerne stark, deshalb würde das Kaffeemehl genau für fünf kräftige Tassen Kaffee reichen. Marc ging seit dem Ende der Sommerferien vor drei Wochen regelmäßig um sieben Uhr ohne Frühstück aus dem Haus. Rainer öffnete die Tür zum Flur und horchte, ob Inga schon aufgestanden war. Er fürchtete den Tag, an dem sie morgens nicht mehr herunterkommen wollte. Besonders montags war es immer kritisch, denn jedes Wochenende