Maren Nordberg

Teufelsweg


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denn er lief wie ein Tiger in seinem durch eine Glasscheibe abgetrennten Büro herum. Als Rainer sich im Flur kurz die Beine vertrat, stürmte Jana Meyerdierks in ihrer offenen und unbekümmerten Art auf ihn zu. »Auch wenn die würdigen Herren über euch lästern, ich finde die Idee toll und trete sofort in euren Verein ein! Du glaubst nicht, was für Wildwest-Szenen ich gerade am Wochenende wieder auf der A7 kurz vor Hannover erlebt habe.«

      Rainer war perplex: »Wer hat dir von der Vereinsgründung erzählt, und wer lästert?«

      »Ich habe gerade eine Mail von Alexa in der Disposition bekommen. Die hat zufällig mitbekommen, wie Herr Rudolf aus deiner Abteilung mit einem Kollegen unten in der Werkshalle über euer Vorhaben gelacht hat.«

      »Das hat sich ja verbreitet wie ein Lauffeuer, das erste Gründungsgespräch habe ich gerade in der Mittagspause mit Heiner Meier geführt. Jetzt suchen wir noch mindestens fünf weitere Gründungsmitglieder.«

      »Da kannst du ganz beruhigt sein, die bekomme ich ganz bestimmt schon bis heute Abend zusammen, unter einer Voraussetzung«, sie lächelte spitzbübisch und zupfte einen modischen dünnen Schal zurecht, wie ihn einige Frauen in Italien sogar bei fünfunddreißig Grad im Schatten getragen hatten, »ich bin auch Gründungsmitglied und darf tatkräftig mitarbeiten.«

      Rainer grinste väterlich: »Das lässt sich wohl machen, Arbeit wird es genug geben, wenn wir viele Mitglieder haben und Aktionen auf die Beine stellen.«

      Er kehrte gut gelaunt an den Computer zurück, kämpfte mit den betriebswirtschaftlichen Zahlen und hatte sie schließlich um siebzehn Uhr in einer gut lesbaren Tabelle zusammengeführt. Er mailte sie sofort an Herrn Schwarz und beobachtete ihn durch die Scheibe. Man konnte an seiner Reaktion meistens erkennen, wann er solch eine Datei öffnete und ob er zufrieden war. Diesmal dauerte es nur fünf Minuten, bis er sich über die Mail hermachte und sich schließlich zufrieden im Bürostuhl zurücklehnte. Das war für Rainer das Signal, dass er jetzt Feierabend machen konnte. Viele andere waren schon gegangen. »So, ich mach für heute Schluss, kommst du auch?«, meinte Rainer in Richtung Heiner gewandt.

      »Geht noch nicht, ich muss das hier zu Ende bringen, egal wie lange es dauert. Dafür kann ich mir aber dann auch in den nächsten Tagen mal einen frühen Feierabend gönnen und unsere Gründung bearbeiten.«

      Rainer ging heute ungewöhnlicherweise die Treppe hinunter. Er spürte so viel Energie, dass er keine Lust auf den Fahrstuhl hatte. Er stieß mit Elan die Außentür auf und hielt sie gerade noch rechtzeitig fest, bevor sie einem dunkel uniformierten Mann an den Kopf prallte.

      »Immer langsam«, rief dieser, Rainer erkannte jetzt Heinrich Altmann vom Werkschutz, »ich denke, Sie wollen einen Schneckenverein gründen.« Rainer stutzte kurz, so schnell funktionierten also die Buschtrommeln.

      »Schönen guten Abend«, entgegnete er leicht irritiert und ging weiter.

      Der Wind hatte deutlich zugenommen und ein kräftiger Regenschauer peitschte Rainer Wasser ins Gesicht, als er zum überdachten Fahrradständer ging. Er zog sich, leise Flüche ausstoßend, das Regencape über und versuchte dann den Schlüssel richtig herum ins Schloss zu stecken. Da hätte ich gleich noch eine Verbesserungsmöglichkeit, wo wir gerade beim Weltverbessern sind, dachte Rainer grimmig. Warum konnte man den Schlüssel nicht einfach von zwei Seiten ins Schloss stecken? Auf seinem kurzen Weg in die Havelstraße musste er dreimal die Badewanne leeren, die sich immer wieder zwischen seinen Armen auf dem Regenumhang bildete.

      5

      Irgendetwas stimmte nicht, als er zu Hause die Gartenpforte öffnete. Es war aber nicht offensichtlich. Er brauchte die Zeit, bis er sein Fahrrad im Schuppen abgestellt hatte, um sich klar darüber zu werden, was es war.

      Die Dunkelheit hatte ihn alarmiert, es war schon so duster durch den Regen, aber Inga hat noch keine Lampe angeschaltet. Auch das bläulich flackernde Licht, das einen laufenden Fernseher im Wohnzimmer verraten hätte, fehlte. In Marcs Zimmer war ebenfalls alles dunkel. Er öffnete die Tür und zwang sich, sein übliches tiefes melodisches »Hallooo!« zur Begrüßung zu rufen, obwohl es ihm fast in der Kehle steckenblieb. Er hörte keinerlei Reaktion und stellte die Tasche im Flur ab, sein triefendes Cape ließ er einfach draußen über dem Treppengeländer hängen. Langsam schnürte sich seine Kehle immer weiter zu. War etwas passiert? Inga war doch um diese Zeit seit dem Urlaub immer zu Hause gewesen. Hätte er doch bloß die Tabletten rechtzeitig entsorgt! Er rief noch mehrmals, erhielt aber keine Antwort. Richtig laut durchs Haus zu brüllen traute er sich allerdings nicht. Er fühlte eine unendliche Trägheit und mochte nicht in den Zimmern nach Inga suchen. Falls etwas passiert war, wollte er es eigentlich noch nicht wissen, so lange konnte er noch hoffen, dass sein altes gutes Leben irgendwann zurückehrte.

      Ihm kamen die Sekunden wie Jahre vor und er hatte jetzt glasklar vor Augen, dass er es schon seit mindestens zwei Wochen ahnte. Inga war depressiv und mit Sicherheit auch suizidgefährdet. Er hätte sie zwingen müssen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber er war so mit sich und seinem Medienruhm beschäftigt, dass er Ingas Probleme geflissentlich übersehen hatte. Es war eben sehr angenehm gewesen, mit Mitte fünfzig noch einmal jugendliches Feuer zu spüren und sich neben dem Büroalltag einer neuen Herausforderung zu stellen.

      Er öffnete langsam die Wohnzimmertür und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Nichts. Er wandte sich Richtung Küche, das Frühstück stand noch auf dem Tisch, es hatte niemand aufgeräumt oder das Abendessen zubereitet. Also erklomm er mit weichen Beinen die Treppenstufen zum ersten Obergeschoss. Zögernd drückte er die Klinke der Schlafzimmertür und trat ein.

      Da klingelte das Telefon. Im Bett zuckte Inga erschrocken zusammen.

      Rainer fiel die Last von den Schultern und er sackte kraftlos auf die Bettkante: »Mensch Inga, du hast mir aber einen Schrecken eingejagt.« Er dachte nicht mehr an seinen Vorsatz vom Vormittag, Inga ihr Selbstmitleid an den Kopf zu werfen. Er sah seine völlig apathische Frau bleich in den Kissen liegen und brachte nichts anderes zustande als: »Inga, ich liebe dich doch so, ich will, dass es dir endlich wieder besser geht.«

      »Oh ja, dafür kannst du sorgen, knall die Raser ab, dann wird alles besser.«

      Rainer war völlig perplex: »So was habe ich ja noch nie von dir gehört, ich denke, du bist Pazifistin und außerdem noch mit einer christlichen Erziehung aufgewachsen.«

      »Manchen Ballast wirft man halt nach neueren Erkenntnissen über Bord«, entgegnete Inga zynisch. Rainer versuchte, einen Funken Ironie aus ihren Worten herauszuhören, da war aber nichts zu entdecken. Er wusste nicht, ob er diese Reaktion schon als Zeichen der Genesung verstehen sollte oder ob seine Sorgen nur noch größer wurden. Das Telefon klingelte nun mindestens schon zum zehnten Mal, Rainer interessierte es gerade überhaupt nicht. Sollte der Verein doch warten, das war bestimmt Jana am Telefon mit ihren Gründungsmitgliedern. Das konnte man auch noch morgen erledigen. Jetzt war es Zeit, sich wieder besonders um Inga zu kümmern.

      Er musste jetzt schnell eine leichte Suppe zubereiten und sie ihr schmackhaft machen. Gemüsesuppen hatte sie schließlich immer gemocht. Anschließend könnte man vielleicht gemeinsam duschen, danach würde er ihr das riesige weiße Frottierhandtuch umlegen und mit ihr im Bett kuscheln. Er grübelte, zärtlich miteinander waren sie seit jenem Tag im Juli wirklich nicht mehr gewesen. Vielleicht half das ja.

      Inga durchkreuzte seine fast romantischen Gedanken, indem sie mit spitzen Fingern einen Brief vom Nachtisch nahm und ihm vor die Füße warf. Er bückte sich und verstand den Zusammenhang nicht. Im Briefkopf stand die Anschrift des Sportinternats Spüngler am Bodensee.

      »Was ist denn an diesem Brief so schlimm?«, fragte er ratlos.

      »Na, dann lies mal zu Ende«, trieb Inga ihn an.

      Rainer überflog nun das Schreiben. Beim letzten Absatz stutzte er: Wir freuen uns, dass Sie sich entschieden haben, Ihren Sohn Marc Gartelmann ab September 2010 in unserem Hause unterrichten und fördern zu lassen. Da er sich durch seine exzellenten sportlichen Leistungen und seine guten Schulzeugnisse sowie mit Hilfe des Schulgutachtens erfolgreich für ein Stipendium qualifiziert hat, ist sein Aufenthalt bei uns bis zum