Maren Nordberg

Teufelsweg


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in den Krankenwagen halfen. Kurz darauf fuhr dieser ab.

      Rainer wandte sich zur Haustür, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und zitterte am ganzen Körper. Die Tür war ins Schloss gefallen, er zog wieder mühsam den Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche und steckte ihn ins Schloss. Er ließ sich aber nicht weit genug hineinschieben. Rainer ruckelte am Schlüssel und versuchte ihn weiter zu schieben, denn solch ein Problem hatten sie vorher noch nie mit der Tür gehabt. Er bekam die Tür nicht auf, aber ihm fiel ein, dass Marc im Haus war. Er klingelte und wartete, nichts rührte sich. Wahrscheinlich betäubte Marc seine Gefühle mit lauter Musik dachte Rainer und begann, energisch gegen die Tür zu hämmern. Rainer konnte durch das Milchglas der Eingangstür erkennen, wie auf einmal Licht in den Flur strömte, Marc hatte also endlich eine Zimmertür geöffnet und war auf dem Weg. Seine Schritte näherten sich der Haustür, er öffnete sie aber nicht. Er rief: »Du musst dich noch eine Weile gedulden, ich will in Ruhe packen, mein Zug fährt heute um elf Uhr. Ich habe von innen den Schlüssel ins Schloss gesteckt.«

      »Bitte, Marc, ich muss mit dir reden, es ist nicht so, wie du denkst.«

      »Ich sehe doch ganz klar vor mir, wie es ist, du kannst mir nichts mehr erklären.«

      »Los, du machst sofort auf!«

      »In zwanzig Minuten bin ich weg, dann kannst du eine deiner Freundinnen anrufen und ihr könnt den Saustall hier bewohnen. Mum ist nicht mehr im Weg und mich bist du auch los, dann kannst du machen, was du willst.«

      »Marc, bitte!« brachte er gerade noch hervor, bis ihm die Tränen die Kehle zuschnürten. Er ließ sich auf die Treppe sinken.

      *

      Marc hatte sein Ding durchgezogen, nach zwanzig Minuten war er mit einer großen Reisetasche und seinem 120-Liter-Rucksack aus der Haustür getreten und hatte Rainer keines Blickes mehr gewürdigt. Die Reisetasche hievte er auf sein Fahrrad, dann schob er davon.

      Rainer konnte gerade noch die zufallende Haustür aufhalten, bevor die ins Schloss fiel. Er schleppte sich ins Wohnzimmer zum großen Sessel. Ihm liefen die Tränen über das Gesicht. Er fühlte sich kraftlos, wund und zerstört. Warum hatte sich alles gegen ihn verschworen? Alles, wofür er in den letzten Jahrzehnten gelebt hatte, war zusammengebrochen. Inga und Marc wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sein ganzes Leben war ihm entglitten, ja, warum lebte er eigentlich noch? Warum hatte er den Unfall unbeschadet überstanden, wenn sein Leben danach nichts mehr wert war? Der angenehme Teil des gestrigen Abends war wohl so etwas wie die Abschiedsvorstellung seines Lebens gewesen, als ob es ihm noch mal zeigen wollte, wie schön und ausgelassen es sich leben lässt. Nun hatte ihn die Realität eingeholt, die er so lange es ging verleugnet hatte. - Jetzt bin ich schon so wie Inga, fuhr es ihm in die Glieder.

      Wenn ich mich jetzt nicht aufraffe, bin ich nichts anderes als ein Depri-Wrack wie Inga. Ich muss etwas tun, um mich abzulenken. Wenn ich mich krankmelde, muss ich den ganzen Tag zu Hause hocken, das halte ich nicht aus. Inga wird sicher nicht so schnell aus dem Krankenhaus anrufen, falls sie überhaupt von sich aus Kontakt aufnimmt. Zu Hause werde ich am wenigsten gebraucht. Aber wenn ich in die Firma gehe, kann ich wenigstens die PRO 130-Bewegung vorantreiben. Es war erst Viertel vor neun, wenn er bis um zehn Uhr am Arbeitsplatz war, brauchte er niemandem etwas erklären, das war auch besser so. Am Ende wollten ihn sonst alle schonen und die Vereinsarbeit geriet ins Stocken. Nach diesen schnörkellosen nüchternen Überlegungen raffte er sich mühsam auf und räumte als Erstes die Spülmaschine ein.

      Ich bin wohl ein typischer Urbremer, dachte er, die werden doch immer als eher emotionslos und geschäftstüchtig beschrieben. So erinnerte er sich an einen Aufsatz aus dem 19. Jahrhundert von einem Herrn Beurmann, der Bremen als ernste, kahle, gescheuerte Stadt bezeichnete, in der man seine Geschäfte besorgte und ansonsten seine Ruhe pflegte, die Ruhe allerdings wohl nur am Sonntagnachmittag, wenn er es sich richtig gemerkt hatte.

      Nachdem er die Spülmaschine gestartet hatte, quälte er sich ins Schlafzimmer und zog die Betten ab. Er stopfte die Überzüge in die Waschmaschine und stellte den Regler auf Kochwäsche, so als ob man Ingas Depressionen zusammen mit den schlechten Gerüchen und dem Schmutz auskochen könnte. Er besah Ingas abgezogene Daunendecke, sie war total fleckig und stank. Die Decke konnte man den Symbolen nach nur Reinigen lassen und nicht selber waschen. Diese Decke in der Reinigung abzugeben, war Rainer viel zu peinlich. Er stopfte sie in einen großen Müllsack und beschloss, eine neue waschbare Decke für Inga zu kaufen.

      Er war sich sicher, dass Inga irgendwann wieder zurückkehren würde, schließlich gehörten sie beide doch zusammen. Sie waren ein verschworenes Team, das durch solche Tiefphasen und Auszeiten nicht zerstört werden konnte. Mit zunehmendem Abstand zu Inga sah er die momentane Situation schon mit ganz anderen Augen. Rainer spürte, wie sein tiefes Vertrauen in ihre Beziehung langsam wieder erwachte.

      7

      Inga rekelte sich gemütlich im Bett, sie erwachte langsam vom Radiowecker und fühlte sich richtig gut. Gleich gab es ein leckeres Frühstück mit Müsli, Obst, Tomaten, Gurken, Eiern und frischen Brötchen im Gemeinschaftsraum, wie jeden Morgen seit mehr als vierzehn Tagen. Die späte Septembersonne strahlte in ihr Zimmer, das hatte sie hier noch nie erlebt, der September war vom Wetter her gesehen der schlechteste seit Jahren. Das hatte sie nicht weiter gestört, denn da sie als suizidgefährdet galt, durfte sie das Haus nicht für weite Spaziergänge verlassen, ihr stand nur ein kleiner Innenhof zur Verfügung. Sie hatte Glück gehabt, nach ihrer Einlieferung war sie nur die ersten beiden Tage im hässlichen, hohen Krankenhausturm des Krankenhauses Bremen Ost untergebracht, wo man den ganzen Tag den Wind an den Sonnenschutzanlagen heulen hörte. Da ihre psychische Erkrankung offensichtlich war, durfte sie danach in eines der kleinen alten Gebäude der Psychiatrie auf dem weitläufigen Parkgelände umziehen. Hier hatte sie sich mit Hilfe vieler Gespräche schnell erholt, oder lag das eher an der guten Versorgung mit Schlafmitteln und Psychopharmaka, fragte sie sich manchmal. Um das zu ergründen, nahm sie die Tabletten schon seit vier Tagen nicht mehr. Außer ihr selber wusste allerdings niemand von diesem Experiment. Sie sammelte die Pillen zur Sicherheit im Saum ihrer gesteppten Jacke. Von innen hatte sich eine Naht etwas gelöst und sie hatte nie Lust gehabt, das Loch wieder zu nähen. Jetzt erwies sich das als Glücksfall, denn in dieser Abteilung wurde streng darauf geachtet, dass keine Scheren oder scharfen Gegenstände herumlagen. Auch hatte sie oft den Eindruck, dass die Zimmer und Taschen während ihrer Abwesenheit kontrolliert wurden, damit alle Selbstmordversuche im Vorfeld vereitelt werden konnten. Die Pillen, die sie unter Aufsicht zu nehmen hatte, schluckte sie also nur scheinbar und steckte sie eine nach der anderen in den Saum, darin warteten sie aufgereiht wie die Bleigewichte in einer altmodischen Gardine auf ihren Gebrauch.

      Sie fühlte sich nach den vier medikamentenlosen Tagen immer noch erstaunlich gut, obwohl sie zwischendurch leichte Entzugserscheinungen spürte, und das nach nur etwas mehr als vierzehn Tagen Behandlung. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Medikamentenkonsum zu Hause auch mitzählen musste. Ihr war klar, dass sie diese Phase früher oder später sowieso durchzustehen hatte. Und ich will nicht wieder in so ein Loch fallen, denn es wäre doch schade, wenn ich aus dem Leben scheide, bevor ich die Psychologie der Raserei erkundet habe, dachte sie, umbringen kann ich mich dann immer noch.

      Umgeben von Psychiatern, Psychologen und Pädagogen verschiedener Ausrichtungen und eingedeckt mit Lesestoff zu psychischen Problemen war ihr aufgefallen, dass sie bisher noch nie eine psychologische Erörterung über das Phänomen der rückhaltlosen Raserei auf den deutschen Straßen gelesen hatte. Und diese Fragestellung, warum wollen so viele Menschen überhaupt rasen, obwohl sie dabei die Tötung von Menschen billigend in Kauf nehmen, erschien ihr sehr interessant. Das hatte sie allerdings ihrem behandelnden Arzt, Herrn Dr. Langner, lieber nicht erklärt, denn sie hatte ihn öfter mit der Keycard eines Porsche Linien in seinen Schreibblock ziehen sehen. Sie war auf seine gute Meinung angewiesen, denn sie wollte jetzt auf dem schnellsten Weg hier raus. Der Prozess gegen den Unfallverursacher begann Anfang nächster Woche, und dem wollte sie auf alle Fälle beiwohnen, eine direktere Möglichkeit zur Einsicht in die Psyche eines Rasers bot sich so schnell nicht wieder.

      An Rainer dachte sie auch öfter, erst gestern hatte sie ihn wieder mit seinem