Maren Nordberg

Teufelsweg


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der Hoffnung, dass alles gut ging, machte sie sich auf den Weg zur Toilette. Danach drückte sie auf den Spülknopf, hörte erleichtert, dass die Spülung durch die versenkten Schlüssel nicht blockiert wurde, und schleppte sich wieder ins Bett. Vorsichtshalber stellte sie ihren Wecker auf acht Uhr und schlief sofort wieder ein.

      *

      Um neun Uhr war Inga so weit. Sie hatte sich umgezogen, ordentlich gefrühstückt und sehnlichst auf Petra gewartet. Die Pflegekräfte hatten sie bisher unbehelligt gelassen. Als ihre Mitwisserin um halb zehn endlich im Speiseraum auftauchte, sah Inga das als Startsignal, den Schlüssel aus dem Spülkasten zu angeln. Für dieses Unterfangen hatte sie eine Gabel vom Frühstücksbüfett im Ärmel verschwinden lassen. Der Zeitpunkt war günstig, Petra brauchte mindestens zehn Minuten für ihren Kaffee und die meisten Angestellten der Station saßen zu dieser Zeit bei ihrer Frühstücksrunde im Büro am anderen Ende des Gangs.

      Inga gelangte in ihr kleines Bad und begann, die Drückergarnitur zu demontieren, um die Schlüssel herauszuholen. Immer wieder unterbrach sie ihre Arbeit und vergewisserte sich, dass noch niemand in ihrem Zimmer war. Der Schweiß lief ihr aus allen Poren, denn Anstrengung, Schwäche und Aufregung schienen sich zu potenzieren. Sie hatte die Zinken der Gabel umgebogen, zum Glück waren die billigen Gabeln so weich, dass es ohne Zange ging. Nun steckte sie ihre Hand samt Handgelenk durch das Loch im Spülkasten und versuchte, den Schlüsselring anzuhaken, um ihn hochzuheben. Sie erwischte ihn aber nicht richtig und schob die Schlüssel nur hörbar hin und her. Zu schade, dass sie nicht etwas biegsamere Arme hatte, dachte sie. Ständig glaubte sie, Schritte in ihrem Zimmer zu hören und zuckte zusammen.

      So fahrig würde sie es nie schaffen. Sie musste diesen Raum irgendwie absperren, damit sie ein Mindestmaß an Sicherheit hatte. Nur leider öffnete sich die Tür nach außen, sonst hätte sie leicht etwas in diesem schmalen Raum zwischen Tür und Wand klemmen können. Die Türklinke, dachte sie, dann musste sie eben die Türklinke von innen festbinden, vielleicht am Wasserhahn, der war genau gegenüber der Tür. Das könnte gehen.

      Sie lief in ihrem Zimmer auf und ab und überlegte, womit sie die Tür zubinden konnte. Kabel gab es hier natürlich nicht, wo alles aus dem Weg geräumt war, womit sich lebensmüde Patienten aufknüpfen konnten. In ihrer Wut riss sie an der Klinke der Toilettentür. Da, die Klinke ließ sich etwas herausziehen, das bedeutete, die Arretierschraube hatte sich gelockert. Inga deutete es als gutes Zeichen, nun würde sie bestimmt auch alle weiteren Hürden auf dem Weg in die Freiheit nehmen. Sie benötigte nicht lange, um die Türklinke vollständig zu lockern und herauszuziehen. Glücklich hielt sie in jeder Hand eine Klinke, in einer steckte noch der viereckige Bolzen, der durch die Tür gesteckt werden musste. Das Ende ohne Vierkant legte sie in ihrem Zimmer auf den Boden. Sie schob es so nah es ging an die Tür ihrer Nasszelle, als mehr konnte man ihr Minibad nicht bezeichnen. Es sah aus, als ob die Klinke gerade abgefallen war, so konnte niemand die Tür auf Anhieb öffnen. Das andere Ende nahm sie mit ins Bad, steckte ihren kleinen Finger in das viereckige Loch, das sich an der Stelle auftat, an der sonst die Klinke angebracht war, und zog die Tür mit einem Ruck hinter sich zu.

      Jetzt fühlte sie sich sicher und verbuchte das als ersten Punkt auf ihrer Seite. Ruhig griff sie zu ihrem Werkzeug, der verbogenen Gabel. Die Gabel hatte vier Zinken, vielleicht war sie zu breit, um damit das Schlüsselbund anzuhaken. Inga versuchte, drei Zinken weiter umzubiegen, damit sie nicht mehr im Wege waren. Alle drei brachen sofort ab. Na, auch gut, solange die letzte Zinke hält, dachte sie und tauchte ihre Hand wieder in das kalte Wasser des Spülkastens. Jetzt ging alles sehr schnell. Triumphierend zog sie die Schlüssel mit der Gabel nach oben. Schnell nahm sie ein Handtuch und trocknete das Schlüsselbund ab, anschließend ließ sie es in ihre Hosentasche gleiten. Für den Rest dieser Aktion benötigte sie nochmals gut fünf Minuten, dann hatte sie alles wieder in Ordnung gebracht und die Türklinke so gut es eben ohne Werkzeug ging wieder befestigt. Die Gabel hatte sie ganz weit oben in die dicken gewebten Ziervorhänge in ihrem Zimmer gehakt, dort war sie schnell zur Hand, aber trotzdem gut versteckt. Völlig erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett sinken.

      Sie schreckte auf. Jemand rief leise »Inga, Inga« und schüttelte sie vorsichtig, aber unnachgiebig. Sie musste vor Erschöpfung kurz eingenickt sein, vielleicht waren das auch noch die Nachwehen der ganzen Beruhigungsmittel, dachte sie. Sofort schlug sie die Augen auf. Wie sie vermutet hatte, stand Petra an ihrem Bett. Inga setzte sich auf und bemerkte den störenden Druck, den das Schlüsselbund in ihrer Hosentasche verursachte. Wie leicht hätte Petra sie hintergehen können und sich die Schlüssel aus ihrer Hosentasche nehmen können, durchfuhr es Inga.

      »Los, Inga, draußen ist es gerade ruhig, jetzt musst du telefonieren.«

      »Ja, sofort, ich muss nur noch schnell um die Ecke«, antwortete Inga, »setz du dich doch schon vor Herrn Dr. Langners Büro, wenn er wirklich Urlaub hat, müssten wir dort doch ungestört sein.«

      Petra verließ tatsächlich willig das Zimmer und Inga verschwand im Bad. Dort betrachtete sie die Schlüssel zum ersten Mal bewusst und stellte fest, dass nur ein Zimmerschlüssel dabei war, die anderen waren so klein, dass es sich nur um Schrankschlüssel handeln konnte. Sicher ist sicher, dachte Inga, drehte den Zimmerschlüssel vom Ring und steckte ihn durch den Ausschnitt ihrer Bluse in den BH. Sie schob ihn vorsichtig mit der rechten Hand in das linke Körbchen, so dass er dort einigermaßen sicher ruhte und nicht bei der nächsten Bewegung unter dem Gummizug herausrutschte. Sie bedauerte, dass sie nur so kleine, Brüste hatte, in einem größeren Körbchen ließe sich der Schlüssel sicher viel besser unterbringen. Die Schrankschlüssel steckte sie wieder in ihre Hosentasche und gleich darauf verließ sie ihr Zimmer.

      Es fühlte sich einen Hauch spannend und angenehm aufregend an. Mit dem Schlüssel fühlte sie sich sicher und sie zweifelte nicht daran, dass sie hier einen triumphierenden Abgang machen würde. Schade nur, dass Langner Urlaub hatte und nichts davon mitbekam. Inga hatte sich seit den Urlaubstagen am Lago Maggiore nicht mehr so leicht und gut gefühlt, auch nicht, wenn sie eine ihrer vielen Pillen geschluckt hatte. Sie dachte, es ist doch tatsächlich so, dass der Mensch eine Aufgabe braucht, der er sich stellt und schon geht es ihm viel besser. An speziellen Aufgaben in der kommenden Zeit sollte es ihr nicht mangeln.

      Vor Dr. Langners Büro traf sie auf Petra, die stumm Wache saß. Mit einem Kopfnicken gab sie ihr zu verstehen, dass die Luft rein war. Inga wandte sich der Tür zu, zog schnell den Schlüssel aus ihrem BH, so dass Petra den aktuellen Aufbewahrungsort nicht sah, und öffnete unter heftigem Herzklopfen die Tür. Das passte. Sie zog den Schlüssel ab und Petra murmelte noch: »Immer, wenn jemand kommt, huste ich, wenn keine Gefahr mehr besteht, rutsche ich zur Entwarnung mit dem Stuhl hin und her, das hörst du drinnen ganz sicher.«

      »Okay, ich schließe vorsichtshalber von innen ab, wenn jemand ins Zimmer kommen sollte, muss ich mich eben verstecken. Vielleicht unter dem Schreibtisch«, kicherte Inga albern. Die ganze Aktion machte ihr langsam Spaß.

      Drinnen stürzte sie sich sofort auf das Telefon und hob den Hörer ab. Erleichtert vernahm sie das Freizeichen und setzte sich auf den bequemen Bürostuhl mit Kopfstütze. Wie gut, dass sie direkt nach draußen telefonieren konnte, ohne vorher eine Ziffernkombination einzugeben. Der Stuhl sah so aus wie einer der besonders teuren Bürostühle aus dem Katalog, den Rainer im Frühjahr von der Arbeit mitgebracht hatte, als in seiner Abteilung neue Büromöbel angeschafft werden sollten. Na, kein Wunder, wenn man hier das finanzielle Fingerspitzengefühl verloren hatte, dachte Inga. Im Krankenhaus Ost hatte es vor einigen Jahren einen Skandal um einen betrügerischen Geschäftsführer gegeben, der maßgefertigte Rollschränke mit elektronischer Hightech-Ausstattung bestellt hatte, die von der Größe her nicht mal in die Krankenzimmer passten. Diese Schränke waren nicht nur hoffnungslos überteuert gewesen, der Geschäftsführer wollte auch noch über Umwege gut an diesem Geschäft mitverdienen. Nachdem man im Vorfeld viele Warnhinweise übersehen hatte, wurde gerade noch rechtzeitig die Notbremse gezogen. Der Geschäftsführer wanderte tatsächlich ins Gefängnis und nach langwierigen Gerichtsverfahren konnte die Krankenhausgesellschaft sogar die Abnahme der Rollschränke verweigern, so dass sich der Schaden in Grenzen hielt. Inga schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, dass sich solche Affären immer wiederholten, wo doch schon das Klinikum Bremen Mitte Jahre zuvor ebenfalls finanziell von einem betrügerischen Leiter ausgebeutet worden war.