Maren Nordberg

Teufelsweg


Скачать книгу

an und horchte angestrengt. Jetzt hörte sie wieder die typischen quietschenden Schritte, die sich langsam näherten. Vorsichtshalber ging Inga schon mal auf Tauchstation hinter der Liege, die dem Schreibtisch gegenüberstand. Nun hörte sie von draußen nichts mehr. Eine Tür klappte in einiger Entfernung und erleichtert vernahm Inga einen über den Boden schabenden Stuhl im Flur. Das war Petras Entwarnung.

      Jetzt musste sie die Auskunft anrufen, denn ein Telefonbuch stand nirgends in den Regalen und Inga wollte keine Zeit damit verschenken, die Türen der Büroschränke aufzuschließen.

      Sie sah sich nach Papier und Stift zum Notieren der Telefonnummer um. Der Schreibtisch war vollständig abgeräumt, aber in einem offenen Regalfach hinter ihr türmten sich Werbeartikel verschiedener Pharmaunternehmen. Sie wählte einen Notizklotz von riopharm und einen Kugelschreiber von Boyar.

      Die Nummer der Auskunft wusste sie auswendig, seit Verona Feldbusch die spezielle Werbung mit da werden sie geholfen gemacht hatte. Inga fiel ein, dass Verona schon lange nicht mehr Feldbusch hieß und ihr Werbewert durch die Finanzaktionen ihres Mannes nachhaltig beschädigt worden war. Das Leben war eben eine Achterbahnfahrt und ihr eigenes Leben sollte jetzt noch mal richtig an Fahrt aufnehmen, gespannt wählte sie die Nummer der Auskunft. Nun ging es ganz schnell, die Nummer von Herrn Strecker wurde angesagt und Inga ließ sich gleich weiterverbinden. Leider wurde der Rechtsanwalt Strecker erst heute Nachmittag ab vier wieder im Büro erwartet.

      »Soll Herr Strecker zurückrufen? «, fragte die Frau am Telefon.

      »Nein, danke«, stotterte Inga, »ich melde mich nachher noch mal.« Darauf war Inga nicht eingestellt gewesen. Nun musste sie wieder warten, oder sollte sie einen anderen Anwalt anrufen, fragte sie sich. Aber sie hatte sonst noch nie einen Rechtsbeistand benötigt und einer der sie nicht kannte, würde ihr am Ende nicht trauen und sie hier versauern lassen. Also hieß es warten.

      Sie legte den Block wieder ins Regal zurück, steckte den Zettel mit der Telefonnummer und auch den Kugelschreiber ein, dann machte sich auf den Weg zur Tür. Das Faxgerät, erinnerte sie sich, Petra sagte etwas von einem Faxgerät. Vielleicht muss ich etwas unterschreiben, das kann ich schnell und unkompliziert per Fax erledigen, falls ich das Gerät finde und auch bedienen kann.

      Inga verbrachte die folgenden zehn Minuten mit dem Faxgerät, das betriebsbereit auf einem kleinen Tischchen rechts hinten in der Ecke des Raumes stand. Sie studierte die auf das Gerät geklebte Kurzanleitung genau und suchte die genannten Tasten. Sie fand auch den Einschubschlitz für das Papier und merkte sich, dass die Rückseite ihres Dokuments nach oben zeigen musste, wenn sie ihr Fax absenden wollte. Wie zu Hause dachte sie, die Faxnummer musste sie sich also auf einen Extrazettel notieren, da sie auf ihrer eingelegten Vorlage nicht zu sehen sein würde. Wieder etwas, was man viel besser und nutzerfreundlicher gestalten konnte, wahrscheinlich fehlten in den Entwicklungsabteilungen Frauen, die ihr Augenmerk auf das Praktische richteten. Zuletzt notierte sie noch die Rufnummer des Faxgeräts auf dem riopharm–Zettel und ging Richtung Tür. Mehr konnte sie jetzt nicht ausrichten. Petra hatte nicht wieder gehustet, sie müsste das Zimmer also ungestört verlassen können.

      9

      Regen tropfte an das Fenster, es war grau in grau. Inga murmelte: » Jetzt kommt der trübe, lange Winter. Wenn es schon am ersten Oktober unter zehn Grad bleibt, wird der Winter bestimmt wieder so hart wie im letzten Jahr.«

      »Der vergangene Winter war unangenehm, nur die Hauptstraßen waren geräumt und in allen kleineren Straßen hatte sich ein Eispanzer mit Spurrillen gebildet. Manchmal war das Eis in der Mitte so hoch, dass man fürchten musste, sich den Auspuff abzureißen.«

      »Und wenn ein Fahrzeug am Straßenrand parkte, kam man kaum aus den Spurrillen und musste aufpassen, dass man nicht wieder hineinrutschte und das Fahrzeug touchierte.«

      Inga war total erschöpft aber zufrieden, denn sie hatte ihren ersten Etappensieg errungen. Sie saß gerade im Taxi, welches sie vom Krankenhaus Ost nach Hause fahren sollte und freute sich, mit dem südländischen Taxifahrer einige nette Worte während der etwa dreißigminütigen Fahrt zu wechseln.

      Herr Strecker, ihr frisch engagierter Anwalt, war ihr sehr wohl gesonnen gewesen und hatte sich beeilt. Noch am Donnerstagnachmittag war er für sie tätig geworden und hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, so dass er sie schon heute, am ersten Oktober, gleich morgens besucht hatte und sie sofort mit in die Freiheit nahm.

      Petra würde den grauen Winter nicht mehr über sich ergehen lassen, das war klar. Inga hatte erahnt, wie sich Petra mit den Zimmer- und Schrankschlüsseln befreien wollte, deshalb war sie auch hart geblieben und hatte ihr die Schlüssel erst heute bei ihrem Abschied überlassen.

      Petra hatte zwar schon gestern Nachmittag unaufhörlich gejammert und gebettelt, aber Inga brauchte noch Bedenkzeit, ob sie Petra die Schlüssel unter diesen Umständen überhaupt überlassen konnte. Außerdem hätte Petra am Ende noch Ingas Freiheit gleich mit auf Spiel setzen können, wenn sie zu unvorsichtig ans Werk gegangen wäre.

      Inga hatte lange mit sich gerungen und sich dann für Konsequenz entschieden: Erstens hatte sie mit Petra die Vereinbarung getroffen, dass sie ihr das Schlüsselbund bei der Abreise übergibt und zweitens war sie nach wie vor der Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht hatte, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen.

      Dieses Recht nahm sie auch für sich selbst in Anspruch. Nicht umsonst trug sie in ihrem Jackensaum genügend gesammelte Beruhigungsmittel durch die Gegend, um sich zehnmal frei zu fühlen. Petra stellte sich vielleicht genau jetzt einen starken Cocktail aus den Medikamentenschränken zusammen, um genüsslich ins Nirwana zu entschwinden.

      Inga fühlte einen Stich im Herzen, mit Petra hatte sie so eine Art Seelenverwandte getroffen. Oder war es bereits eine abgewandelte Form von Stockholmsyndrom, dass sie sich nach längerer Gefangenschaft einer Leidensgenossin und nicht dem Entführer an den Hals warf. Sie bedauerte in diesem Moment zutiefst, dass sie Petra nie wieder sehen würde.

      Das Taxi war jetzt schon in der Pappelstraße und näherte sich ihrem Zuhause. Inga traute ihren Augen nicht, als sie Rainer und eine sehr junge Frau an einer Fußgängerampel stehen sah. Sie unterhielten sich angeregt und trugen beide große undefinierbare Pakete im Arm. Inga erinnerte sich, dass sie bei ihrem letzten Osterurlaub Skifahrer mit ähnlichen Paketen in der Gondel der Seilbahn gesehen hatten. Diese Skifahrer transportierten ihre Paraglidingschirme vor dem Bauch, mit denen sie sich kurz darauf steile Abhänge hinabstürzten und dann mit angeschnallten Skiern und geöffneten Paraglidingschirmen über ihre Köpfe hinweg flogen. Aber Inga glaubte nicht eine Sekunde daran, dass Rainer unter die Paraglider gegangen war. Zudem hätte er dann den Schirm nicht einfach so aufgerollt durch die Straßen getragen. Außerdem war diese Sportart eher etwas für Lebensmüde, hatten sie beide damals festgestellt, denn schon eine schräge Windböe konnte einen tödlichen Absturz verursachen.

      Auf diese Art aus dem Leben zu scheiden, wäre auch eine Option, überlegte Inga. Wenn man mit klarem Kopf nachdachte, war es doch nicht so schwer, sich umzubringen, ohne für die Hinterbliebenen die Lebensversicherung zu riskieren.

      Das Taxi bog in ihre Straße ein. Inga griff in die Tasche und fühlte, ob die Hundert Euro von Anwalt Strecker noch in Sicherheit waren. Strecker hatte ihr das Geld vorgestreckt und angemerkt, dass er den Betrag mit auf die erste Rechnung setzen würde. Für ihn begann die Arbeit jetzt erst richtig, denn das Betreuungsverfahren war durch Ingas aktuelle Freiheit nicht ausgesetzt, es wurde nicht mal davon tangiert. Inga lief Gefahr, schon sehr bald unter Rainers Betreuung zu stehen. Der Rechtsanwalt und Notar hatte Inga die Lage eindringlich und präzise erläutert, worauf sie ohne zu zögern entschied, Herrn Strecker einen Folgeauftrag zu erteilen.

      Inga zahlte und gab dem Taxifahrer ein anständiges Trinkgeld. Sie sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke gebogen war. Nun hoffte sie, dass Trudi zu Hause war, damit sie sich den Ersatzschlüssel besorgen konnte, um die Haustür zu öffnen. Dass sie sich mit der tratschenden Trudi dabei unterhalten musste, war ein geringeres Übel, als Rainer auf seinem Handy anzurufen. Sie stutzte, seine Handynummer hätte sie eh nicht gehabt. Inga war sogar ganz froh, dass Rainer nicht zu Hause war. Und Marc war sicher sowieso in Süddeutschland