Maren Nordberg

Teufelsweg


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gezogen hast. Ich habe es genau gesehen. Die haben schon mit mehreren Helfern die Zimmer inspiziert, deins auch, und zwar sehr lange, aber das Schlüsselbund wurde nicht gefunden. Was glaubst du, was das da draußen für eine Stimmung ist, noch dazu, wo Dr. Langner morgen seinen dreiwöchigen Urlaub beginnt.«

      Inga war plötzlich hellwach, so wach wie schon seit Wochen nicht mehr.

      »Das heißt, mit den Schlüsseln kann man dieses Gebäude tatsächlich verlassen?«

      »Nun, nicht direkt, unten für den Ausgang braucht man eine Karte mit Pin, wie du eigentlich schon bemerkt haben solltest.«

      »Bis gestern wusste ich nicht, dass ich als Gefangene hier lebe.« Sie spie Petra Anders diese Worte förmlich in das ausgemergelte Gesicht. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass die mich hier entmündigen lassen und mit Hilfe meines Mannes einsperren.« Bei dem Gedanken schossen Inga wieder Tränen in die Augen, diesmal aber vor Wut.

      »Das ist bei mir ähnlich gelaufen, und ich war so blöd und habe meine kleine Chance verpasst, die du die nächsten Tage noch hast.«

      Inga brauchte einige Sekunden und sah ihr Gegenüber dabei zweifelnd an. »Die Chance habe ich aber noch nicht bemerkt.«

      Petra setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und erholte sich zwei schweigsame Minuten lang vom bisherigen Gespräch. Inga wartete ungeduldig, sie musste Petra die Verschnaufpause lassen. Es war sowieso ein Wunder, dass Petra zu einem richtigen Gespräch fähig war. Inga hörte von Ferne Schritte, eigentlich müsste regelmäßig jemand nach ihr schauen, während sie sediert war, überlegte sie. Schnell sprang sie aus dem Bett und schob einen kleinen Plüschhocker hinter das Kopfende ihres Bettes. Dann zog sie Petra am Arm zum Hocker und bedeutete ihr, sich darauf niederzulassen. Petra setzte sich ohne Widerspruch und Inga schlich durch den Raum, um festzustellen, aus welchen Positionen Petra noch zu erkennen war. Sie war ausreichend verborgen, befand Inga, legte sich wieder ins Bett und schaltete das Licht aus. Vor der Tür war es wieder leise. Es wäre doch schade, wenn ihre Unterhaltung zu schnell beendet werden würde.

      »Und, welche Chance habe ich?« nahm Inga das Gespräch leise wieder auf.

      Petra tat verschwörerisch. »Du musst mir erst etwas versprechen.«

      »Ich?«

      »Ja, Inga, ich habe nichts davon, wenn ich dich verpfeife, dann finden sie die Schlüssel, die auf dieser Station alle Türen und Schränke öffnen, und ich brauche sie unbedingt.«

      Inga wusste nicht, worauf Petra hinaus wollte. »Was muss ich dir denn versprechen?«

      »Dass du dir die Schlüssel von niemandem abnehmen lässt und dass du sie mir gibst, bevor du in wenigen Tagen offiziell dieses Haus verlässt.«

      Inga beschlich ein leiser Zweifel, wusste Petra eigentlich, was sie da redete? Eine Tür klappte und quietschende Sohlen näherten sich leise und stetig. Sofort erstarb jede Unterhaltung im Raum.

      Die Tür wurde geöffnet, Licht fiel vom Gang herein. Eine forsche Krankenpflegerin durchquerte sicher das Zimmer und zog den Rollladen hoch. Damit hatte Inga nicht gerechnet, vom Fenster aus war Petra leicht zu entdecken.

      Die Krankenpflegerin arbeitete stupide ihre Aufgaben ab, sie stellte das Fenster auf Kipp, beugte sich kurz zu Inga hinüber um sich zu vergewissern, dass sie ruhig atmete und zog schnell wieder die Tür von außen zu.

      Komisch, dass man als Mensch nur das wahrnimmt, was man auch erwartet, zumindest, solange man arglos ist, dachte Inga.

      Im Nachhinein war ihr klar geworden, warum einmal auf Rainers Gepäckträger eine Aktentasche geklemmt hatte, als sie ihn durch den Park des Klinikums Ost fahren sah. An dem Tag hatte er die Unterlagen für die Entmündigung transportiert. Sie meinte sich auch daran zu erinnern, dass er an diesem Tag seinen schwarzen Mantel, die dunkle Hose mit dem feinen Stoff und die guten Schuhe getragen hatte. Aber sie war völlig arglos gewesen und hatte das herannahende Unheil nicht erkannt.

      Inga riss sich zusammen, sie durfte jetzt nicht in Grübeleien abdriften und nahm das Gespräch nach der unfreiwilligen Pause wieder auf.

      »Petra, ich verspreche dir alles, wenn du mir nur sagst, wie ich hier rauskomme.«

      »Okay, ich werde es dir verraten, dann kann der Schlüssel uns beide befreien.«

      Inga verstand nicht, wie Petra dieses Haus mit Zimmer- und Schrankschlüsseln verlassen wollte, aber sie hörte gespannt zu.

      »Inga, du bist heute noch nicht entmündigt, das ist ein offizieller Akt, am Vormundschaftsgericht gibt es ein Verfahren dazu, es müssen Gutachten geschrieben und eingereicht werden, das dauert immer eine gewisse Zeit. Es heißt heute offiziell übrigens nicht mal mehr Entmündigung, sondern rechtlich Betreuung, läuft aber für dich auf das Gleiche hinaus. Doch solange das Verfahren nicht abgeschlossen ist, bist du noch dein eigener Herr, jeder Anwalt kann dich hier herausholen. Und mit dem Schlüsselbund hast du unbegrenzten Zugang zu Telefon und Faxgerät.«

      Inga schluckte, sie schöpfte langsam wieder Hoffnung. Ein Telefon in einem verschlossenen Büro war gut, denn den Patienten ihrer Abteilung wurden auf Wunsch schnurlose Leihtelefone ausgehändigt, deren Funkreichweite sich lediglich auf einen kleinen Radius um den Aufenthaltsraum herum beschränkte. Das konnte man nicht unbedingt Privatsphäre nennen. Weitere Telefone waren wegen der Kabel und damit verbundener Selbstmordgefahren nicht vorhanden. Handys waren verboten, angeblich damit die medizinischen Geräte störungsfrei liefen.

      Welchen Anwalt konnte sie anrufen? Am besten den alten Herrn Strecker, der schon damals für ihre Mutter die Testamentsangelegenheiten geregelt hatte. Sie musste nur aufpassen, dass Petra das Versteck der Schlüssel nicht erfuhr, sonst nahm sie diese noch an sich, bevor Inga gehen konnte.

      Nach einer gedankenschweren Pause erklärte sie: »Das könnte gehen, Petra, gleich morgen früh werde ich Kontakt zu einem Anwalt aufnehmen.«

      »Wir müssen unbedingt zusammenhalten, ich beobachte immer, ob die Luft rein ist, dann kannst du deine Befreiung in die Wege leiten. Bei mir wundert sich sowieso keiner, wenn ich reglos stundenlang im Flur sitze.«

      Inga ließen diese Aussagen ein wenig frösteln, so kristallklar nahm Petra also ihren derzeitigen Zustand wahr. Sie spürte ein inniges Verlangen, Petra samt ihrem kalten Todeshauch auf Abstand zu halten.

      »Jetzt musst du aber in dein Zimmer gehen, sonst entdeckt noch jemand, dass wir ab heute ein Team sind«, meinte Inga. Sie fürchtete insgeheim, dass Petra das Zimmer nicht mehr verlassen wollte, um dem Schlüsselbund auf die Spur zu kommen. Sie konnte sich denken, dass das Versteck hier sein musste.

      »Hörst du nicht die Schritte auf dem Flur? Es ist jetzt fünf Uhr dreißig und die Reinigungskräfte sind bei der Arbeit, da komme ich schlecht ungesehen in mein Zimmer«, wiegelte Petra ab.

      »In dein Zimmer vielleicht nicht, aber sicher aus meinem Zimmer raus, wenn du hierbleibst, findet dich die nächste Schwester, die in der Morgendämmerung nach mir sieht.«

      Im Zimmer war es zwar noch ziemlich dunkel, aber Inga konnte im anhaltenden Schweigen fühlen, wie Petra mit sich rang.

      »Du musst wirklich sehen, dass du hier wegkommst, sonst riechen die den Braten oder denken noch, du bist eine Gefahr für andere Patienten, weil du heimlich in fremde Zimmer schleichst. Nicht, dass sie dich noch die nächsten Wochen ganz wegsperren, dann wird das nichts mit unserer Freiheit.«

      Inga fragte sich gerade wieder, wie Petra sich mit diesen Schlüsseln befreien wollte. Sie mochte jetzt aber nicht mehr mit ihr reden, sondern sie musste sie rechtzeitig aus dem Zimmer bekommen. »Los, Petra, du musst jetzt aufstehen, damit ich den Hocker wieder an Ort und Stelle rücken kann.«

      Petra erhob sich schwerfällig und Inga zog den Hocker leise durch den Raum. Dann fasste sie Petra sanft an den Schultern und schob sie Richtung Tür. Bevor sie die Tür öffnete, horchte sie angestrengt. Es war wieder ganz still, die Reinigungskräfte würde man ganz sicher hören. Sie öffnete leise die Tür und schob Petra einfach nach draußen. Schnell drückte sie die Tür wieder zu und lehnte sich erschöpft dagegen. Jetzt merkte sie erst, wie wackelig