Maren Nordberg

Teufelsweg


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aus ihrer linken Hand und steckte ihn mit rechts ins Schloss. Welche Macht einem die richtigen Schlüssel im Leben doch gaben. Dieser Schlüssel war ihr vertraut, er war in ihrer Hand warm und wärmer geworden, während sie bei Trudi im Flur ausharrte und ihr Rede und Antwort stand. Inga war sehr zufrieden mit sich, denn sie hatte bis zum Ende ausgehalten und Trudi ganz viel vom Vorgefallenen erzählt. Das hatte sie nicht ganz ohne Berechnung getan, denn sie war unsicher, was Rainer während ihrer Abwesenheit für Geschichten über sie in Umlauf gebracht hatte. Und Trudi würde jetzt sofort loslaufen und die Neuigkeiten von Inga brühwarm in alle Richtungen verteilen. Es war Inga wichtig, nicht als halbirre durchgeknallte Frau zu gelten, sie wollte hier weiterhin wohnen!

      Inga trat in den Flur und meinte, einen zarten Duft wahrzunehmen, den sie nicht kannte. Ob Rainer Probleme hatte, den Männermief rauszubekommen, wenn er den ganzen Tag arbeitete und niemand lüftete oder aufräumte? Sie sah sich um, aber nirgends war ein Duftspender zu entdecken. Eigentlich passte der Duft auch nicht zu solch einem Raumlufterfrischer, es duftete eher nach einem sorgsam ausgewählten, dezenten Parfüm.

      Sie überlegte, dass sie jetzt am besten beim Bahnhof anrufen sollte, um sich eine Zugverbindung nach Augsburg zusammenstellen zu lassen..

      Sie ging zielstrebig ins Wohnzimmer, fand das Telefon auf dem Couchtisch, holte sich Papier, Kugelschreiber und Telefonbuch und wählte bald die Nummer der Deutschen Bahn. Während sie in der Warteschleife hing, lief sie im Wohnzimmer auf und ab. Sie merkte, dass sie sich lieber etwas schonen sollte, und setzte sich auf das Sofa. Die schwarze Strickjacke, die über der Lehne lag, schob sie zu Seite. Sie stutzte, als sie wieder diesen Duft aus dem Flur in der Nase hatte, diesmal sogar noch viel intensiver. Sie betrachtete die Jacke genauer. Am Kragen war ein Aufnäher mit Strasssteinchen in Form des Buchstabens J befestigt. Es war also nicht Rainers Jacke, sondern eindeutig eine Damenjacke. Deshalb auch dieser feminine Duft. Warum sollte denn Marcs Freundin hier gewesen sein, hatte er überhaupt eine Freundin? Hielt sich Marc zurzeit wieder in Bremen auf? Ein Hoffnungsschimmer durchfuhr sie, war er vielleicht der Liebe wegen zurückgekehrt? Inga musste gleich in Marcs Zimmer nachsehen. Sie stürmte zur Treppe, jetzt meldete sich endlich ein Berater der Deutschen Bahn.

      Inga entschied sich für eine Bahnverbindung, die um dreizehn Uhr neunzehn am Bremer Hauptbahnhof begann. Sie bestellte sich gleich ein Leihfahrrad für Augsburg dazu, so war sie dort unabhängiger. Der Zug kam zwar erst gegen 21 Uhr in Augsburg an, aber um diese Jahreszeit sollte es in der Augsburger Innenstadt kein Problem sein, ein Hotelzimmer zu finden.

      Inga legte das Telefon im Flur auf der Station ab, ignorierte fürs Erste den hektisch blinkenden Anrufbeantworter und machte sich auf den Weg in Marcs Zimmer. Sie musste Gewissheit erlangen, ob er wirklich in Bremen war. Aber selbst wenn er da sein sollte, wusste Inga, dass sie auf alle Fälle nach Augsburg fahren musste, obwohl es ihr ein ungutes Gefühl in der Magengrube verursachte. Sie wollte ihn nicht gleich wieder alleine lassen. Andererseits brannte sie darauf, nach der apathischen Phase der Depression etwas vom verpassten Leben aufzuholen. Sie wollte nicht wieder wie die Glucke am Bremer Rathausbogen zu Hause sitzen und allen ein schönes Nest bereiten. Inga schweifte ab und dachte an die Sage von der Gründung Bremens, wonach Fischer sich hier an der Weser ansiedelten, weil sie eine Gluckhenne beobachtet hatten, die sich mit ihrem Nachwuchs auf einer Düne niederließ. Diese Sage wurde erst im 19. Jahrhundert von Friedrich Wagenfeld geschrieben und war heute trotzdem fester Bestandteil der Bremer Geschichten, und für viele auch der Bremer Gründungsgeschichte, vermutete Inga. Sie stand in Marcs Jugendzimmer und betrachtete das abgezogene Bett und den leeren Schreibtisch. Nein, er war sicher nicht in Bremen.

      Vielleicht gar nicht schlecht, so konnte sie ohne Gewissensbisse nach Augsburg fahren und dort tiefe Einblicke in die Psyche eines Rasers erhalten. Manchmal tauchten schließlich die guten Ideen auf, wenn man eine Sache Schicht für Schicht sezierte. Vielleicht hatte sie während des Prozesses einen Einfall, womit man die Raser auf psychischer Ebene packen und von der Raserei abhalten konnte.

      Falls Marc wirklich in Bremen gewesen wäre, noch dazu mit Freundin, hätten es zu Hause auch einige nette Familientage werden können, dachte Inga, wenigstens dieses eine Wochenende, der Prozess begann erst am Montag. Ein Zug am Sonntagabend hätte gereicht, um rechtzeitig in Augsburg zu sein.

      Obwohl, grübelte sie, in Bremen herrschte an diesem Wochenende so etwas wie Ausnahmezustand, denn die offiziellen Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung fanden dieses Jahr turnusgemäß in Bremen statt. Dazu gehörten verschiedene jahrmarktähnliche Veranstaltungen, zu denen jeweils Tausende von Gästen erwartet wurden. Sie hatte viel darüber im Weser-Kurier gelesen, dazu war in Bremen Ost genug Zeit gewesen.

      »Einheitsfeier hin oder her«, murmelte sie, »auch wenn die Millionen Gäste der Einheitsfeier am dritten Oktober fast gleichzeitig am Sonntag wieder nach Hause fahren wollten, für mich hätte es sicher noch einen Stehplatz im Zug nach Augsburg gegeben.« Aber Rainer, kam es ihr in den Sinn, wer weiß, was der mit ihr anstellen würde. Aus lauter Fürsorge würde er sie sicher unter einem Vorwand wieder in einer Psychiatrie abliefern, vielleicht diesmal bei der Klinik Dr. Heines im Stadtteil Oberneuland. Sie kicherte leise vor sich hin, Harald Juhnke hatten sie dort auch nicht wirklich helfen können. Manchmal konnte man sich nur selbst helfen.

      Oh ja, Rainer, überlegte sie, wenn das Krankenhaus Ost ihn inzwischen per Handy von ihrer Abreise informiert hatte, könnte er jeden Moment hier auftauchen und sie suchen, weit weg war er nicht, sie hatte ihn d och gerade erst in der Pappelstraße gesehen. Sie hatten einander im Laufe der vielen gemeinsamen Jahre liebevoll ergründet, ihm musste klar sein, dass ihr erster Weg von der Klinik nach Hause führen würde. Jetzt aber schnell, bevor er hier auftaucht, trieb Inga sich an. Sie glaubte schon Schritte im Vorgarten zu hören und blickte vorsichtig hinaus. »Die Nerven!« stieß sie mit einem Seufzer hervor und kümmerte sich um das Wesentliche.

      *

      Eine Viertelstunde später verschloss Inga die Haustür gewissenhaft. Sie hatte nur eine kleine Reisetasche dabei, den Personalausweis und ihre EC–Karten. Was sie im Gästezimmer vorgefunden hatte, verwirrte sie sehr. Es war eindeutig bewohnt, von einer Frau mit jugendlichen Jeans und Shirts in Größe M. Diese Unbekannte hatte auch eine Kulturtasche im Badezimmer abgestellt. Wahrscheinlich waren es die Sachen von der Brünetten, die mit Rainer an der Ampel gestanden hatte, durchfuhr es Inga. Arbeitete Rainer heute nicht? Hatte er Urlaub genommen, während sie in die Anstalt verbannt war?

      Im Schlafzimmer waren die Betten mit neuer farbiger Bettwäsche bezogen. Inga hatte sie vorsichtig angefasst und die neuen Kunstfaserbettdecken in den Bezügen ertastet. Keine Spur mehr von ihren schönen Daunendecken. Das kam alles sehr plötzlich und ließ bei gefühlloser Betrachtung nur einen Schluss zu. Obwohl es nicht zu Rainer passte, sich gleich eine junge Nachfolgerin für seine Ehefrau ins Haus zu holen.

      Inga stand auf der Straße, blinzelte in die Sonne, die sich inzwischen gegen die dicken Regenwolken durchgesetzt hatte, und sog die frische, kühle Luft ein. Sie genoss den Hauch von Freiheit, der sie umspülte. Klar, es gab viele Baustellen in ihrem Leben, aber sie wollte jetzt nach Augsburg und fühlte sich lebendig und unternehmungslustig. Marie, ich komme, dachte sie und stutzte. In den Wochen nach dem Unfall war Marie in ihren Träumen jede Nacht mehrfach zerquetscht worden, aber seit sie den Kampf gegen ihre Entmündigung aufgenommen hatte, war Marie nicht mehr erschienen. Und jetzt hielt sie sogar Zwiesprache mit ihr, dadurch wurde sie so etwas wie ihre Vertraute oder Komplizin, obwohl sich an Maries Tod nichts geändert hatte. Die Änderungen waren in ihrem eigenen Leben eingetreten und der zeitliche Abstand zu dem schrecklichen Ereignis hatte wohl auch etwas bewirkt, sinnierte Inga.

      Sie schritt energisch Richtung Straßenbahnhaltestelle und sah dabei in die gepflegten herbstlichen Vorgärten der schmalen einstöckigen Bremer Reihenhäuser. Orangener Sonnenhut, lilafarbene Astern und gelbe Kletterrosen strahlten mit der Sonne um die Wette. Wie schön es Ende September sein kann, wenn das Laub noch an den Bäumen und Pflanzen ist, dachte sie. Das könnte sich innerhalb weniger Tage ändern, wenn die Temperaturen weiter in den Keller rutschten. Sie näherte sich der Langemarckstraße, wo sie in die Straßenbahn der Linie 1 einsteigen wollte.

      An der Haltestelle Pappelstraße angekommen, musste sie nur kurz warten, bevor sie sich genüsslich auf einen freien Platz in der Bahn setzen konnte. Als die Bahn über die