Maren Nordberg

Teufelsweg


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geraten, zu Ihrem Schutz für kurze Zeit die Vormundschaft zu beantragen.«

      »Und das hat er wirklich gemacht?«

      »Ja, er hat sich überzeugen lassen, dass es für Sie in der derzeitigen Situation richtig ist, gerne hat er das sicher nicht gemacht.« Nun war alles vorbei. Ohne Rainers Hilfe würde sie hier nicht wegkommen. Und ihn anbetteln, kam für sie nicht in Frage. Sie glaubte zu träumen, da können in Bremen stadtbekannte Drogenabhängige ihre Kinder jahrelang unbehelligt mit Heroin, Kokain und Valium ruhigstellen, sogar noch nach dem Fall Kevin, der von seinem drogenabhängigen Ziehvater langsam zu Tode gequält worden war, und sie selber hatte mal einen kleinen Durchhänger und wurde sofort entmündigt. Das durfte doch nicht wahr sein.

      Petra Anders war inzwischen aufgestanden und verfolgte die Szene mit ihren tiefliegenden dunklen Augen aus sicherer Entfernung. Ihre langen schwarz gefärbten Haare beschatteten ihr Gesicht und gaben ihm etwas Unheimliches. Inga musste weg von hier, sie musste flüchten. Sofort. Sonst endete sie noch wie Frau Anders. Sie warf Herrn Dr. Langner einen kurzen Blick zu. Er strich sich über seine Haare und schien darauf zu warten, dass Inga geknickt von dannen zog. Sie dachte aber nicht daran, sich in ihr Schicksal zu fügen. Jetzt war die Gelegenheit günstig, Langner schien ihre Gedanken nicht zu erahnen, er war völlig arglos.

      Sie beugte sich vornüber und fasste sich an den Kopf.

      »Kommen Sie, Frau Gartelmann, setzten Sie sich hier auf den Stuhl an der Wand.« Der Arzt versuchte, sie vorsichtig zu stützen. Darauf hatte Inga gehofft. Sie tat so, als ob sie gegen ihn stürzte, und griff dabei mit ihrer Rechten gezielt in seine linke Kitteltasche. Sie krallte sich am Kittel fest und riss den Mann damit fast zu Boden. Sie spürte, wie sein gepflegter Schnauzer ihre Haare streifte. Da, sie konnte das kalte Metall in der Tasche spüren. Sie griff beherzt zu, nun musste sie die Schlüssel nur noch unbemerkt aus der Tasche herausbekommen. Sie lockerte den Klammergriff ihrer linken Hand kurz, um dann erneut fest zuzugreifen, diesmal hatte sie allerdings nicht nur den Kittelstoff erwischt, sondern auch noch eines seiner kleinen Fettröllchen, die über seinen Gürtel quollen, fest zwischen Mittel- und Ringfinger eingeklemmt. Sie kniff zu, so fest sie konnte. Gleichzeitig rammte sie ihren Kopf in Richtung Schnauzer. Sie erinnerte sich, dass ihr Sohn ihr auf diese Weise früher bestimmt zweimal aus Versehen die Lippen blutig geschlagen hatte. Ihr Widersacher zuckte heftig zurück, es gelang ihr tatsächlich, ihre rechte Hand mitsamt dem Schlüsselbund unbemerkt aus seiner Tasche zu ziehen. Sie verbarg die Schlüssel so gut es ging in ihrer Hand und ließ sich zu Boden gleiten.

      Langner hielt sie für ohnmächtig und drehte sie geübt in die stabile Seitenlage. Er atmete hörbar erleichtert auf. Sofort griff er zu seinem Telefon in der Brusttasche und rief eine Schwester herbei, gleichzeitig suchte er in seiner Kitteltasche nach dem Schlüsselbund, weil die Tür zum Erste-Hilfe-Raum neben seinem Zimmer abgeschlossen war. Da er die Schlüssel nicht fand, rannte er in seinen Raum zurück, wahrscheinlich in der Annahme sie dort vergessen zu haben. Vielleicht brauchte er auch dringend ein Taschentuch um sich Blut abzuwischen, Inga konnte aus ihrer Lage leider nicht erkennen, ob er tatsächlich eine aufgeplatzte Lippe oder Nasenbluten hatte. Gegönnt hätte sie es ihm, sie einfach hier festzuhalten und Rainer gegen sie aufzuhetzen! Inga ließ die Schlüssel in ihrer Hosentasche verschwinden.

      Sie hörte von Ferne heraneilende Schritte mit quietschenden Schuhen, sie musste sich jetzt irgendwie in Sicherheit bringen. Inga blinzelte vorsichtig den Gang entlang, konnte aber noch niemanden sehen, auch Petra Anders war verschwunden. Vorsichtig rappelte sie sich auf, ihr war total schwindelig und ihr wurde schwarz vor Augen. Diese verdammte Schwäche, ärgerte sie sich. Langsam wurde es besser. Langner war noch nicht wieder aufgetaucht, die Helfer wussten hoffentlich noch nicht, wem sie helfen sollten, sie hatte nur eine einzige Chance, sie musste sich ganz normal zu ihrem Zimmer bewegen, als ob nichts geschehen wäre. Mutig machte sie sich mit gemessenen Schritten auf den Weg.

      Sie erreichte ihr Zimmer tatsächlich unbehelligt. Schade, dass Patienten ihre Zimmer nicht abschließen konnten. Die entwendeten Schlüssel durfte sie dafür natürlich auch nicht verwenden, dann wusste gleich jeder, wer für das Verschwinden verantwortlich war. Sie musste die kostbaren Schlüssel jetzt sehr schnell verschwinden lassen. Ihr fiel spontan nichts Besseres als der Spülkasten der Toilette ein. Es war zwar ein moderner Unterputzspülkasten, aber zum Glück ein gängiges Modell. So wusste sie von den großen Putzaktionen in den vergangenen Wochen zu Hause, wie man die Drückerarmatur entfernte. Inga riss sie eilig ab, drehte zwei lange, weiße Kunststoffbolzen heraus und dankte dabei dem Himmel, dass die Platte, welche die Barriere zwischen Wassertank und Drückermechanismus bildete, nicht mit altmodischen, widerspenstigen Metallmuttern gesichert war.

      Sie hielt inne, um ihre Pulsfrequenz zu bändigen, was ihr leidlich gelang. Nun konnte sie die Schlüssel sicher in eine der Aussparungen klemmen. Dachte sie jedenfalls. In der Eile ließ sie wohl etwas zu früh los, jedenfalls fielen sie mit einem leisen Schmatzen ins Wasser. Vor Ärger biss sie sich herzhaft auf die Unterlippe und quiekte leise auf. Inga schmeckte das Blut und hätte sich ohrfeigen können.

      Sehen konnte man die Schlüssel jedenfalls nicht mehr, hoffentlich bekomme ich die da mit meinen bescheidenen Mitteln auch wieder raus, dachte sie, während sie in Windeseile die Drücker wieder aufsteckte. Sie hörte Stimmen vor der Zimmertür, fast hätte sie die Blende vergessen, sie riss die Spülknöpfe wieder ab, setzte die Blende ein und knallte die restlichen Teile wieder an Ort und Stelle. Schnell riss sie den Wasserhahn auf, ließ sich kaltes Wasser in die Hände laufen, um sich Gesicht und Haare anzufeuchten, so wirkte sie vielleicht etwas irre und niemand würde sie so schnell verdächtigen, die Schlüssel genommen zu haben.

      Kurz darauf kamen die Helfer ins Zimmer geströmt, geleiteten sie vom Bad zum Bett und gaben ihr eine gut wirkende Beruhigungsspritze. Inga entspannte sich sofort und fiel bald in einen tiefen Schlaf.

      8

      Etwas störte sie. Sie lauschte in die Dunkelheit. Es war warm und stickig. Da, sie hatte es jetzt deutlich gehört, es raschelte hinter ihr. Das passte nicht hierher, okay, sie erinnerte sich, dass sie nicht im warmen Süden war, sondern in Bremen–Ost, in der Psychiatrie. Sie hatte so schön geträumt, aber jetzt kamen die Erinnerungen wieder.

      Nun bildete sie sich auch noch ein, ein leises Atmen zu hören. Bin ich schon total verrückt, dachte Inga, ich habe wohl Halluzinationen, es ist stockdunkel im Raum, jede Nachtschwester würde Licht anmachen, bevor sie den Raum betritt. Oder sitzt hier etwa ein Verrückter im Raum, Verrückte gibt es hier schließlich genug. Sie spürte ihren ausgetrockneten Hals. Durch die heruntergelassenen Rollläden kam nur ein minimaler Lichtschimmer, es konnte nur von den alten Leuchten im Park sein, die die kleinen Fußwege nachts friedlich erhellten. Man konnte sich nicht vorstellen, dass hier in der Psychiatrie mit dem schön angelegten Park während der Nazizeit fürchterliche Gräueltaten geschehen waren. Es passte auch nicht dazu, dass hier heute immer noch Menschen gegen ihren Willen festgehalten wurden, nur damit sie sich nichts antaten. Jeder freie Mensch hatte das Recht zu bestimmen, ob er seinem Leben selbst ein Ende setzt, war Inga überzeugt. Von wegen, entmündigen und einsperren, das ließ sie sich nicht gefallen. Sie tastete nach einem Glas, fand es aber nicht, also griff sie seitlich an die Wand, um den Schalter der Lampe zu finden. Ihre Hand suchte die Wand auf Kopfhöhe ab, wahrscheinlich war ihr Bett bei der Aktion mit der Beruhigungsspritze verschoben worden und der Schalter war noch weiter hinter ihrem Kopfende. Sie richtete sich im Dunkeln auf und langte beherzt nach hinten.

      Sie griff genau in ein Büschel Haare, gleichzeitig ging das Licht an, ohne dass Inga den Schalter selbst gefunden hatte. Das Licht blendete sie so sehr, dass sie nichts mehr sah. Sie wollte schreien, aber es kam nur ein heiseres Krächzen aus ihrem Mund. Gleichzeitig zischelte es neben ihrem Ohr.

      »Pscht, Schschscht.« Eine knochige kalte Hand schob sich über ihren Mund.

      Inga schüttelte sich und drehte sich entschlossen um. Die kalte Hand zuckte zurück und Inga erkannte langsam Petra Anders schwarze Haare und ihr schmales Gesicht.

      »Was soll das?« stieß Inga heiser hervor.

      »Der Schlüssel kann uns beide befreien«, versuchte Petra die Lage zu erhellen.

      Inga