Maren Nordberg

Teufelsweg


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kennengelernt.«

      Sie verabschiedeten sich nun sehr schnell und Rainer ging ins Wohnzimmer zurück. Dort blickte er eine Weile sinnierend auf die Reste des Abends. Die Gläser trug er in die Küche, die beschriebenen Blätter heftete er ordentlich in einen Schnellhefter, den er in Marcs Zimmer fand. Es war schon eigenartig, bei diesem spontanen Treffen hatten alle gemeinsam an einem Strang gezogen und sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Es hatte keine Sticheleien und Grüppchenbildungen gegeben. Er wusste aber, dass dies das einzige spannungsfreie Treffen bleiben würde. Schon bei der nächsten Zusammenkunft waren die ersten Probleme zu erwarten: Ein Streit um die erste Aktion, ein Versuch, Macht zu erobern oder auch nur Unstimmigkeiten über den Zeitpunkt des folgenden Treffens könnten die Stimmung ganz langsam kippen lassen. Mit weiteren Treffen oder zusätzlichen Mitgliedern würden zwangsläufig Situationen entstehen, die zu Unstimmigkeiten führen mussten. Die menschliche Eigenschaft, Unfrieden zu stiften, drang eben in jede Gesellschaft ein, überlegte Rainer. Vielleicht war das der Grund, weshalb der Mensch die Erde erobern konnte, denn solange man mit sich selbst und anderen zufrieden war, war man träge. Erst die Unzufriedenheit öffnete die Fenster für Erneuerungen und Veränderungen.

      Zu viel Unzufriedenheit konnte aber auch alles abtöten, schoss es ihm durch den Kopf, als er an Inga dachte. Warum konnte sie ihre Unzufriedenheit bloß nicht positiv nutzen? Er musste nun wohl oder übel nach ihr sehen.

      Er schlich hoch ins Schlafzimmer. Dort schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen, der ihn an ein Krankenlager erinnerte: Körperliche Ausdünstungen gemischt mit dem Geruch der erkalteten Suppe auf den Nachtischen. Es widerte ihn an. Inga schien zu schlafen. Er öffnete vorsichtig das Fenster und nahm leise einen frischen Schlafanzug aus der Kommode. Er wollte sich mit Fernsehen ablenken. Dazu musste er ins Gästezimmer ausweichen, um Inga nicht zu wecken. Der Gedanke, im sauberen wohlduftenden Gästebett alleine mit eingeschaltetem Fernseher einzuschlafen, ließ ihm wohlige Schauer über den Rücken laufen. So weit hatte er sich schon von Inga entfernt, sie war ihm seit Kurzem eher ein Klotz am Bein, wie er traurig feststellte.

      Während er es sich im Gästezimmer bequem machte, fragte er sich, ob Marc die Nachricht von seiner Mailbox wirklich noch nicht abgerufen hatte oder ob er sich einfach so nicht meldete. Schade, dass man bei der Mailbox keine Empfangsbestätigung anfordern konnte wie bei einer E-Mail. Aber im Grunde hätte er an diesem Abend durch den unerwarteten Besuch sowieso keine Zeit für eine konzentrierte Aussprache gehabt. Er holte sich noch zwei Flaschen Bier aus dem Keller und machte es sich im Gästebett gemütlich.

      6

      Rainer hatte sehr unruhig geschlafen und war immer wieder aus kurzen Träumen aufgeschreckt, um sechs Uhr dreißig stellte er sich schließlich unter die Dusche und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Inga musste heute erst essen und dann zum Arzt, alles Weitere konnte warten. Und wenn er dafür heute Urlaub nehmen musste, würde er das auch irgendwie regeln können. Schade, dass er dafür keine Gleittage nehmen konnte, genug Überstunden hatte er in diesem Monat schon gesammelt, aber die durfte er nicht tage-, sondern nur stundenweise abbummeln. Allein das wäre eigentlich ein Grund, nach einem neuen Arbeitgeber zu suchen. Unzufriedenheit ist wirklich die Urkraft für Verbesserungen, dachte er, an seine Gedanken vom Vorabend anknüpfend.

      Als er in den Flur trat, erklang aus dem Schlafzimmer ein lautes Schnarchen, Rainer seufzte erleichtert, wer so laut schnarchte, konnte mit seinen Kräften noch nicht ganz am Ende sein. In der Küche stellte er fest, dass kein Brot mehr da war, auch kein eingefrorenes. Er fluchte leise vor sich hin, der Gang zum Supermarkt war unausweichlich und er machte sich sofort auf den Weg.

      Es dauerte eine Weile, bis er mit Brot und Brötchen im Leinenbeutel wieder in die Havelstraße einbog, denn er hatte nicht eingeplant, dass der kleine Supermarkt in der Ahornstraße seit Ende der Sommerferien erst um neun Uhr öffnete. Deshalb musste er bis zur Friedrich-Ebert-Straße gehen, um in der Bäckerei Schmieder, einem alteingesessenen Bremer Familienbetrieb, einzukaufen. Er schreckte zusammen, als ein Krankenwagen mit Blaulicht um die Ecke bog und über das Kopfsteinpflaster der Havelstraße holperte. Er hoffte, dass keinem ihrer Bekannten etwas passiert war. Früh morgens sollte es die meisten Herzinfarkte geben, hoffentlich hielt der Wagen nicht bei ihrer Nachbarin Trudi Gehringsdorf, sie war schließlich herzkrank, wie sie immer wieder betont hatte. Der Wagen bremste vor ihrem Haus stark ab. Rainer lief immer schneller, vielleicht konnte er helfen, zum Beispiel, indem er Trudi beruhigte und versprach, sich um ihre Katzen zu kümmern. Oh man, dachte er, die Krankenwagenfahrer sind heute wohl auch nicht mehr richtig ausgebildet, denn er sah die beiden Sanitäter nicht zu Trudis Haustür, sondern direkt nebenan durch ihr eigenes Gartentor laufen. Er rief, aber sie hörten ihn nicht. Inga würde ihnen niemals öffnen, hoffentlich rammten sie dann nicht die Haustür auf. Er legte die letzten zweihundert Meter im Dauerlauf zurück und sah gerade noch, wie sich seine eigene Haustür hinter den Sanitätern schloss.

      Vor dem Haus stand Marcs Fahrrad. Fahrig suchte Rainer nach seinem Haustürschlüssel. Er zog ihn aus seiner Jeanstasche und öffnete mit zitternden Fingern die Tür. Drinnen stieß er fast mit Marc zusammen. Er wühlte gerade in Ingas Rucksack, der neben der Haustür lag. »Was ist hier los?« quetschte Rainer atemlos heraus.

      »Das fragst du noch? Du küsst hier unten seelenruhig junge Frauen und lachst mit denen so laut, dass ich es gestern Abend noch fünf Häuser weiter hören konnte, während deine Frau, die übrigens auch meine Mutter ist, oben im Bett verreckt!«, schleuderte ihm Marc entgegen.

      »Lass mich vorbei, ich will sofort zu ihr!« Rainer zwängte sich an ihm vorbei.

      »Du brauchst nicht hinlaufen, sie hat ausdrücklich gesagt, dass sie niemanden im Zimmer haben will. Die Sanitäter machen sie gerade transportfertig. Die lassen keinen rein.«

      Rainer zuckte zurück: »Hat sie sich was angetan?«

      »Du hast ihr was angetan!«, brüllte Marc. »Ich habe sie gerade fast verhungert und verdurstet im verdreckten Bett gefunden. Und der ach so feine Herr, der so sozial ist, treibt sich die ganze Nacht mit irgendwelchen jungen Dingern herum, die meine Schwestern sein könnten!«

      »Nun mach mal halblang, ich war gestern den ganzen Abend zu Hause und habe sogar für Inga gekocht.«

      »Und warum hat Inga dann gesagt, dass du heute Nacht woanders geschlafen hast und warum stinkt hier dann alles nach Müll?«

      Rainer wusste nicht, wie er antworten sollte und sagte vorsichtshalber nichts.

      »Mir kannst du nichts erzählen. Ich war gestern Abend hier, wegen deiner dringenden Nachricht auf der Mailbox, und ich habe euch alle durchs Fenster gesehen. Mum war jedenfalls nicht dabei!« trumpfte Marc auf. »Ich habe mir gestern schon Sorgen um sie gemacht, sie klang am Telefon ganz komisch.«

      »Das ist ja auch kein Wunder, wo der Herr Sohn Dokumente fälscht und auch noch nach Süddeutschland ziehen will.« Marc setzte zur Antwort an, aber oben wurde die Schlafzimmertür geöffnet und die beiden Sanitäter halfen Inga behutsam die Treppe hinunter.

      »Haben Sie die Versicherungskarte gefunden?« wandte sich der jüngere der beiden an Marc. »Nein, hier ist sie nicht.«

      »Sie ist noch im Briefumschlag der Versicherung«, fiel Rainer ein, »wir haben doch nach dem Unfall alle neue Karten erhalten.«

      Er suchte den Umschlag schnell aus dem Stapel auf dem Flurschrank heraus. »Ich nehme die Karte und begleite meine Frau ins Krankenhaus.«

      »Das geht leider nicht, Frau Gartelmann wünscht keine Begleitung, und im Anbetracht der Umstände ist es wohl auch das Beste«, schob er kühl hinterher.«

      »Wo bringen Sie sie denn hin?«

      »Sie wird sich bei Ihnen melden, wenn sie es möchte, weitere Auskünfte dürfen wir nicht geben.« Diese Worte schienen ihm zu gefallen. Rainer grübelte, ob die beiden ihn wohl aus dem Fernsehen oder aus den Zeitungen kannten. Hoffentlich rannten sie nicht mit Ingas Problemen zu irgendeinem Boulevardblatt, das wäre für ihn persönlich nicht gerade schmeichelhaft. Schlechte Presse konnte die ganze Initiative für Tempo 130 gefährden, denn diese würde zwangsläufig mit seiner Person verknüpft sein.

      Rainer