Maren Nordberg

Teufelsweg


Скачать книгу

mit dem die Schlafzimmertür ins Schloss gezogen wurde und atmete erleichtert auf. Inga war auf dem Weg zur Küche, vielleicht mit einem Umweg ins Bad.

      Er nahm zwei Frühstücksteller aus der Spülmaschine und stellte sie auf den Tisch. Die Messer und die Löffel für die Marmelade legte er auch hin. Er dachte an die Reste der Buchweizen-Himbeertorte, die Inga gestern für ihn und Marc gebacken hatte, und legte auch noch Kuchengabeln dazu. Als Inga auftauchte, hatte er sein erstes Brötchen gegessen und überlegte, ob er schon zur Torte übergehen sollte, die er neben den Kühlschrank gestellt hatte.

      Inga nahm einen Schluck Kaffee und brach sich ein Stück vom Brötchen ab. Während sie an dem trockenen Teil herumknabberte, unternahm Rainer einen Versuch: »Könntest du mir heute einen Gefallen tun?«

      Inga hob misstrauisch die Augenbrauen: »Soll ich Peter heute vielleicht zufällig deinen guten Bohrhammer oder den elektrischen Fliesenschneider bringen? Ich warne dich, diese Mühe kannst du dir sparen, da falle ich nicht drauf rein!«

      Rainer schüttelte entschieden den Kopf: »Nein, ich weiß, dass du keinen Kontakt mehr zu deiner besten Freundin Doris und ihrem Mann willst. Ich wollte dich lediglich bitten, im Internet Informationen zur Gründung eines Vereins zu suchen.«

      »Aha, jetzt kommt er doch, dein Tempo 130 Verein, ich hätte es mir ja denken können, nein danke!« gab Inga patzig zurück.

      Rainer versuchte, mit einer Erklärung wenigstens das Gespräch in Gang zu bringen. Damit Inga ihm auch zuhörte, spickte er sie mit unangenehmen Denkanstößen: »Dazu fühle ich mich geradezu verpflichtet, jetzt, wo ich es durch die Medien zu einem gewissen Bekanntheitsgrad gebracht habe. Außerdem kann man es schon als Wink des Schicksals deuten, denn überzeugt von einem Tempolimit war ich schon immer. Ich glaube auch, dass du hierbei eingeplant wurdest, sonst hättest du doch im entscheidenden Augenblick auf dem Beifahrersitz gesessen und würdest nicht mehr leben.«

      Inga versetzte jede einzelne Äußerung einen Stich. Sie zitterte und wischte sich die aufsteigenden Tränen mit dem Handrücken ab. Ihr Leben, so wie es jetzt war, konnte sie vergessen.

      Nach Marcs Geburt hatte sie nie wieder angefangen zu arbeiten. Jetzt, genauer seit dem Unfall, fehlte ihrem Leben urplötzlich jeglicher Sinn. Vor dem Unfall hatte sie immer gesagt, zu Hause fühle sie sich am wohlsten und eine Frau, die das Haus in Ordnung halte und den Garten pflege, könne ja nicht schaden. Das war auch in Ordnung gewesen, aber seit dem Unfall hatte sie jeglichen Kontakt zu Nachbarn und Freundinnen abgebrochen, mit denen sie sich bisher regelmäßig zum Walking oder Klönen getroffen hatte. Entweder putzte sie nun ununterbrochen, kochte so komplizierte Gerichte, dass sie den ganzen Tag in der Küche verbrachte oder sie legte sich gleich nach dem gemeinsamen Frühstück auf die große Couch im Wohnzimmer und schluckte Beruhigungs- oder Schlafmittel, die sie noch in großen Mengen von ihrer Mutter im Haus hatten. Dort lag sie dann abends immer noch, müde und mit fettigen Haaren, wenn Rainer heimkam. Sie wurde immer dünner, weil sie nur noch in homöopathischen Dosen Nahrung zu sich nahm. Den Garten hielt Rainer gerade noch notdürftig in Ordnung, Inga selbst ging nicht mehr raus zum Arbeiten, denn es könnte ja ein Nachbar etwas zum Unfall fragen. Telefon- und Haustürglocke stellte sie tagsüber ab, da sie keinen Bedarf an Gesprächen oder Einladungen hatte. Zum Einkaufen war sie noch nie mit ihrem neuen, von der Versicherung bezahlten dunkelblauen Kombi mit Perleffekt-Lackierung gefahren. Sie kaufte zu Fuß ein, am liebsten ließ sie aber Rainer oder Marc die Einkäufe erledigen.

      Genauso verbissen, wie sie sich neuerdings einigelte, weigerte sie sich, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Rainer wollte eigentlich wenigstens die Medikamente zu vernichten, hatte es bisher allerdings noch nicht gewagt. Er wartete sehnlichst darauf, dass sie wieder Lebensmut fand. Der Verein konnte wirklich eine Lösung für ihre Probleme sein. Er konnte Ingas Hilfe gut gebrauchen und ihrem Leben gleichzeitig einen neuen Sinn geben. Im Bekanntenkreis könnten sich viele zukünftige Mitglieder finden, und als ehemalige Assistentin der Geschäftsführung eines kleinen, aber feinen Yachtherstellers im Hemelinger Hafen in Bremen hatte sie immer gutes Organisationstalent bewiesen, was sie zu einer wertvollen Mitstreiterin in dem Verein machen würde.

      »Du könntest mir so viel helfen, ich habe keine Ahnung, wie man einen Verein gründet und der Bürokram liegt mir auch nicht«, versuchte er sie jetzt beim traurigen Montag-Morgen-Frühstück zu locken.

      Inga blieb abweisend: »Ich werde keinen Finger für so einen Verein rühren. Der bringt nämlich gar nichts.«

      »Wenn man nichts versucht, ändert sich auch nichts. In der DDR konnte doch auch niemand ernsthaft an den Fall der Mauer glauben, als sie mit den Montagsdemos begannen. Auch das Rauchverbot ist so ein Beispiel. Oder was hättest du vor zehn Jahren gesagt, wenn jemand für ein generelles Rauchverbot in allen Gaststätten und Restaurants eingetreten wäre?«

      Inga spürte, wie Rainer sich mit seiner Ruhe und seinem Spaß an Argumentation und Rede warmlief. Sie wollte aber keine Diskussionen führen. Eigentlich wollte sie nur ihre Ruhe. »Rainer, du wirst mich nicht überzeugen, außerdem war das mit dem Rauchverbot eine ganz andere Sache. Der Nichtraucherschutz begann in Spanien oder so. Da ging es auch um die Beschäftigten im Gaststättengewerbe, die geschützt werden sollten. Hätte Deutschland nicht gleich mitgezogen, hätte bestimmt ein Kellner vor dem Europäischen Gerichtshof sein Recht auf einen rauchfreien Arbeitsplatz eingeklagt und Deutschland so hinten herum zu einem Rauchverbot gezwungen. Die Schmach wollten sich Merkel und die anderen Politiker sicher sparen. Beim Tempolimit steht so was nicht zu befürchten und die Lobby der Automobilindustrie gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist stark. Die haben garantiert überall ihre Informanten sitzen, und sobald sich eine Pro-Tempolimit-Bewegung formiert, arbeiten sie subtil und geschickt dagegen, denke doch nur an diesen populären Automobilclub.«

      Rainer freute sich insgeheim, dass er Inga so weit aus der Reserve gelockt hatte, dass sie auf seine Argumente reagierte und ihm kontra bot. Vielleicht war das ein erster Schritt zurück ins Leben. Er versteckte also seine Erleichterung und grollte: »Woher willst Du das denn so genau wissen?«

      Sie antwortete nicht, sondern zerhackte die Brötchenkrümel auf ihrem Teller zu feinem Mehl.

      Um das kostbare Gespräch nicht versiegen zu lassen, schob er hinterher: »Ich glaube eher, das Problem wird auf einer ganz anderen Seite liegen, nämlich bei vielen Autofahrern, die glauben, sie verlieren kostbare Zeit durch das Tempolimit. Da könnte man ansetzen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass durch ein Tempolimit auch viele Staus vermieden werden, die die eigentlichen Zeitkiller sind, ganz zu schweigen vom hohen Spritverbrauch beim Rasen. Der sorgt dann für zusätzliche Tankstopps, die die Zeitersparnis locker wieder wettmachen.«

      Ingas Gesicht versteinerte plötzlich und sie würgte das Gespräch mit wenigen entschlossenen Sätzen ab: »Entweder du wirst Bundeskanzler oder du kaufst die Medien à la Berlusconi und verdonnerst sie dann zu einer Kampagne für Tempo 130. Ansonsten kannst du einpacken. Außerdem wirst du keine gute Unterstützung finden, weil die meisten, die gut reden können und in einflussreichen Positionen sind, doch selber gerne von Termin zu Termin rasen. Wenn auch nur irgendeine Partei ernsthaftes Interesse an einem Tempolimit hätte, wären sie schon längst auf dich zugekommen und hätten dir eine Mitgliedschaft angetragen, denn einen besseren Werbe- und Sympathieträger als dich gibt es für dieses Thema derzeit nicht. Und deine Medientauglichkeit hast du ja auch schon ausreichend unter Beweis gestellt. Keiner will sich mit der Automobilindustrie oder mit diesem Automobilclub anlegen. Du hast keine Chance und ich mache keinen Finger dafür krumm!« Damit verließ sie den Frühstückstisch, verschwand mit einer Flasche Wasser und ihren Tabletten im Wohnzimmer und Rainer hörte, wie sie die Couchkissen auf den Sessel warf und sich auf das Sofa fallen ließ.

      Rainer war der Appetit vergangen. Er wollte nur noch raus hier. Nachdem er die Kaffeemaschine abgestellt hatte, verließ er fluchtartig die Küche. Sollte die Torte doch neben dem Kühlschrank vergammeln. Er putzte sich noch schnell die Zähne, band seine Krawatte um und verließ mit der Arbeitstasche das Haus, um mit dem Fahrrad den kurzen Weg zur Arbeit zu fahren.

      *

      Rainer trat kräftig in die Pedalen und knirschte mit den Zähnen. Verwundert stellte er fest, dass sein Mitleid in Ärger umgeschlagen war. Es war ein so herrlicher milder