Maren Nordberg

Teufelsweg


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das frühestens eine Stunde zu spät, wenn sie kamen, um sie mit der Taschenlampe zu blenden.

      Inga lief und mit jedem Schritt leuchtete ein neuer Erinnerungsfetzen hell auf. Marc mit seinen braunen, halblangen Locken und seiner drahtigen, durchtrainierten Figur hoch oben auf dem imposanten Staudamm im Verzascatal. James Bond, alias Pierce Brosnan, hatte sich in der berühmten Anfangsszene von GoldenEye an einem Bungeeseil von dort in die Tiefe gestürzt. Jeder, der sich traute, konnte die ganze Sommersaison über diesen Sprung an der Bungeesprunganlage selbst austesten. Zum Glück war Marc der Preis von mehr als zweihundert Schweizer Franken zu hoch gewesen, sonst hätte er sich todsicher von der Mauer hinabgestürzt. Es war schon schwachsinnig, wovor sie Angst gehabt hatte, der Bungeesprung wäre nicht halb so gefährlich gewesen wie die Rückfahrt mit dem Auto nach Norddeutschland.

      Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf, Inga wollte nicht an das Schreckliche denken, sie brauchte den Urlaub und die Erinnerung daran. Die auf dem Fuße folgende Schmerzwelle versuchte sie wieder zu ignorieren, musste aber einen Moment innehalten. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie sich noch in der trügerischen Sicherheit gewähnt, dass alles gutgegangen war. Niemand war während des Urlaubs von einer der Giftschlangen oder einem der Skorpione gebissen worden, die es rund um den Lago Maggiore geben sollte. Bei all ihren Spaziergängen durch die malerischen Orte mit den unzähligen alten Steintreppchen und bei den Wanderungen durch fast unberührte Täler, hatten sie lediglich ungefährliche Ringelnattern entdeckt. Inga selbst war am Ende des Urlaubs richtig tiefenentspannt gewesen. Am liebsten hätte sie gesagt »Das Gleiche noch einmal bitte!«, im Bewusstsein, dass ohne Angst alles noch viel schöner war.

      Ohne Angst, das war ein gutes Stichwort, ihr lief ein fröstelnder Schauer über den Rücken. Sie war sich unsicher, ob das am gut gewässerten Nachthemd oder an der Erinnerung lag. Wenigstens tropfte das Nachthemd von der Waschaktion jetzt nicht mehr. Sie wusste noch, wie sie auf der Rückfahrt aus dem Urlaub ihren Pullover über die Beine gelegt hatte, weil der kühle Luftstrom der Klimaanlage den Fußraum in einen Kühlschrank verwandelte. Wie angeweht war der Vorbote der Katastrophe aufgetaucht.

      »Typisch, kaum auf der deutschen Autobahn, schon geht es los!«, war Rainers Kommentar dazu gewesen. Ein drängelnder PKW hatte Rainer aufgeschreckt. Sie erinnerte sich noch, dass er, ganz entgegen seinem sonst sehr ausgeglichenen Wesen, aufbrausend geworden war. In der Nachbetrachtung war es richtiggehend eine Prophezeiung gewesen. Er ärgerte sich lautstark über das fehlende Tempolimit, das diese Spezies von Autofahrern förmlich heranzuziehen schien. »Im Urlaub in der Schweiz, Österreich, Frankreich oder Italien gibt es auch mal einen A-Raser, aber dort sind sie wenigstens die Ausnahme, bei den Strafen, die auf Geschwindigkeitsüberschreitung stehen«, hatte er gepoltert, »außerdem ist Rasen dort kein von der Masse toleriertes und gepflegtes Allgemeingut! Irgendwann knallt es hier ganz gewaltig!« Inga sah noch ganz genau sein in Falten geworfenes Gesicht, das den ganzen aufgestauten Ärger darüber ausdrückte. Sie wusste auch noch, wie sehr sie bedauert hatte, dass ihm in diesem Moment das Urlaubsflair vollständig entglitten war. Wie oft hatte er Inga sein Wortspiel schon erklärt. Der Begriff A-Raser stand für Alpha-Raser und gleichzeitig für das im Englischen ganz ähnlich ausgesprochene Wort eraser, Radiergummi. Diese speziellen Autofahrer radierten eben alles aus, was ihnen im Weg war.

      Wie recht er hatte, war kurz darauf wieder einmal sonnenklar erwiesen worden, aber das half nichts und interessierte auch keinen.

      Inga stockte beim dritten Schritt in Richtung Fenster. Wie viele Runden sie schon gelaufen war, wusste sie nicht, aber sie spürte ganz klar, dass es für ihren geschundenen Körper jetzt zu viel wurde. Ein Krampf breitete sich in ihrer linken Wade aus. Das war ja lächerlich, bei den Wanderungen war das nie geschehen. Wenigstens ein anständiges Mineralwasser brauchte sie jetzt, aber schon der Gedanke an den Schweißgeruch ließ sie wieder würgen. Ihr Blick fiel auf die Infusionslösung, was wollten die ihr eigentlich in den Körper leiten? Freundlich gestimmt, weil sie den Tropf los war, griff sie nach dem Beutel mit der Flüssigkeit.

      Im Stehen erreichte sie ihn ohne Schwierigkeiten, interessiert las sie die Inhaltsstoffe. Isotonische Kochsalzlösung, irgendwelche Mineralstoffe, sonst nichts. Ein anständiges Essen, eine Fruchtsaftschorle und der Tropf wäre überflüssig gewesen. Unentschlossen schüttelte sie den noch fast vollen Beutel und wartete, dass sich der ausgedehnte Wadenkrampf endlich ganz löste. Nun fing auch der Muskel im anderen Bein an zu mucken. Es reichte jetzt, fand sie und drehte den Kunststoffschlauch vom Infusionsbeutel ab. Wenn sie ihr nichts anderes anboten, musste sie eben nehmen, was da war. Sie ließ sich etwas Lösung in den Mund laufen und spürte dem komischen Geschmack nach.

      Langsam führte sie ihren Gang fort, acht Schritte zum Fenster, acht Schritte zurück, dabei trank sie Schluck für Schluck den Infusionsbeutel aus und schob ihn anschließend unter das Bett. Der Beutel war leer und sie selbst fühlte sich mit einem Mal auch völlig erschöpft.

      Mühsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und zwang sich wieder zurück in die Erinnerungen.

      Sie hatte ganz deutlich eine Szene von der Rückfahrt vor Augen. Marc wären beinahe einige von Rainers Weinflaschen mit Tessiner Merlot aus dem Kofferraum auf den Parkplatz einer Raststätte gerutscht. »Wenn die zu Bruch gehen, kannst du sofort per Anhalter zurückfahren und neue kaufen«, war der Originalsatz von Rainer gewesen.

      »Gerne, etwas Besseres als unser Bremer Schmuddelwetter und die Schule finde ich dort bestimmt«, hatte Marc gut gelaunt als Anspielung auf die Bremer Stadtmusikanten zurückgegeben und eine der dunkelgrünen Flaschen mit einem schlichten Etikett zum Spaß in die Höhe gehalten.

      »Etwas Besseres als den Tod findest du überall, also so lass uns ruhig nach Bremen fahren«, variierte sie selbst die Märchenstunde. Obwohl das Wetter in Bremen natürlich wirklich zu wünschen übrig ließ, fühlte sie sich dort wohl und heimisch. Der Urlaub hatte ihnen anscheinend allen gut getan, so entspannt und freundlich, wie sie dort auf dem Rastplatz miteinander umgegangen waren. Und sie war sich ganz sicher, dass auch Marc nach Bremen zurück wollte. Dort musste er langsam wieder ins Leichtathletik-Training einsteigen, denn die nächsten überregionalen Wettkämpfe standen bald an.

      Wenn Marc nicht im Raststätten-Shop auf die verrückte Idee gekommen wäre, eine DVD zu kaufen, wäre alles anders ausgegangen.

      *

      Inga blieb stehen und rieb sich müde die Augen.

      Gern hätte sie sich hingelegt und geschlafen, aber sie mochte sich nicht wieder in dieses Krankenhausbett legen. Vor Anstrengung und Wärme lief ihr der Schweiß mittlerweile über das ganze Gesicht, aber das war ihr egal, sie musste weitergehen.

      Sie konnte ihre Erinnerungen jetzt wie einen Film ablaufen lassen. Marc kam zum Wagen zurück und schwenkte lachend eine DVD in der Sommerhitze.

      »Schaut mal, welche DVD im Raststätten-Shop im Angebot war«, dabei hielt er Bastian Pastewkas erste Comedie-Staffel hoch. »Komm Mum, wenn ich in meinem hohen Alter mit den beiden Alten noch in den Urlaub fahre, lass es uns doch richtig gemütlich machen«, dazu knisterte er mit einer rotgelben Tüte Chips und schwenkte eine Colaflasche.

      »Während Rainer uns fährt, schauen wir im Fond die DVD an.« Danach hatte er das Notebook im Kofferraum gesucht, die Merlotflaschen fast zerdeppert und anschließend die Filmvorführung auf der Rückbank vorbereitet. Inga wusste noch genau, wie sie sich in dem Moment gefragt hatte, seit wann er den Ausdruck Fond benutzte. Ihr Sohn wurde wirklich langsam erwachsen.

      Sie hielt mitten im Krankenzimmer inne und erstarrte förmlich, was jetzt kam, gehörte nicht mehr zum Urlaub.

      Sie hatte sich tatsächlich zu Marc auf die Rückbank gesetzt und die Kopfhörer übergestülpt. Und sie hatten gemeinsam Tränen gelacht, Pastewkas Gesichtsausdrücke waren zu komisch, aber sie würde ihn nie wieder ansehen können. Dann war da das Auto, das sie überholte. Ingas Hand zuckte unwillkürlich, während sie starr mitten im Raum stand und mit ihren Erinnerungen kämpfte. Hinten saß das kleine Mädchen mit den blonden geflochtenen Zöpfen. Sie hatte diesem Mädchen, das beim Lachen eine große Zahnlücke entblößte, zugelacht und sie wollte auch winken. Dazu war sie aber nicht mehr gekommen.