maulfauler Gast. Ich saß in Hall, war in Gedanke jedoch in Hohenberg. Warum wollte Huber die Versicherung umschreiben? Und auf wen? Hatte das etwas mit seinem Tod zu tun? Oder war doch alles nur Zufall?
Ich würde keine Ruhe haben, bis ich die Antworten wusste. Und ich würde auch keine Ruhe geben, bis ich sie hatte.
Nach dem Essen brauchte ich noch einen Absacker. Ich sah mich in den Kneipen um, fand jedoch niemanden, dessen Gesellschaft mir nach so einem Tag genehm gewesen wäre. Bis ich schließlich auf meinen alten Kumpel Robert traf. Wir hatten fast alle Probleme der Menschheit gelöst, als man uns hinauswarf. Das ist die Tragik des Lebens. Es fehlt immer das letzte Bier zur endgültigen Lösung.
Ich machte mich auf den Heimweg. Die alte Stadt lag still und friedlich da. Es war eine klare, kalte Herbstnacht. Auf der Henkersbrücke schaute ich in die braunen Fluten des Kochers. Da jetzt hinunterfallen! Aber es war nur Wasser, kein Betonboden. Ich würde es überleben.
Außer mir war niemand in der Neuen Straße unterwegs. Für eine Stadt, die je nach Bedarf ihre erste Erwähnung auf das Jahr 1037, 1156 oder 1204 zurückführt, war die Straße tatsächlich noch neu.
Beim großen Stadtbrand von 1728 war ein Großteil der Altstadt abgefackelt. Wo das Feuer haltgemacht hatte, kann man heute noch sehen. Erhalten geblieben waren die mittelalterlichen Fachwerkbauten, den Rest hatte man barock neu erbaut.
Damals war auch die Neue Straße angelegt worden, als Brandschneise und als gerader, schneller Weg zum Löschwasser des Kochers.
Die Horde Jugendlicher, die sich vor der Disco am Hafenmarkt auf einen multikulturellen Dialog vorbereitete, hatte davon garantiert keine Ahnung. Die hatten andere Sorgen. Gleich würde die Schlägerei losgehen. Russen gegen Türken.
Das war nichts Ungewöhnliches hier. Ich machte, dass ich weiterkam.
Mittwoch
Hauptkommissar Keller saß an seinem Schreibtisch und bemühte sich erfolgreich, einen miesepetrigen Eindruck zu machen. Es musste ihn ziemlich viel Mühe kosten, das Klischee vom griesgrämigen Kommissar zu kultivieren: schlecht gekleidet, schlecht rasiert, schlecht gelaunt. Jeder hat halt so seine Ticks.
Keller war Mitte fünfzig, hager, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen. Auf seine Art ein attraktiver Mann. Neuerdings trug er sein dichtes, graues Haar ganz kurz. Wenn er wollte, konnte er durchaus charmant sein. Meistens wollte er nicht. Heute schon gar nicht.
»Sie schon wieder«, brummte er.
Mein Verhältnis zu Keller war nicht eindeutig. Wir waren uns berufsbedingt bei ein paar Fällen über den Weg gelaufen und hatten uns halbwegs vertragen. Ich hatte sogar den leisen Verdacht, dass er mich ganz gut leiden konnte.
»Ich habe Sie doch nicht etwa aus Ihrem Beamtenschlaf geweckt?«, fragte ich so munter, wie es mir um diese Zeit möglich war.
»Sie haben mir einen schönen Mist eingebrockt«, knurrte Keller und linste über den Rand seiner Lesebrille zu mir.
Er schaute noch zerknautschter aus als sonst und kaute schon am frühen Morgen auf einem Zigarillo herum. Kein gutes Zeichen.
»Eine glasklare Geschichte. Aber ich muss meine Zeit verschwenden mit Vernehmungen und Protokollen«, schimpfte er. »Und warum?«
»Weil ich Sie irritiert habe?«, schlug ich vor.
»Weil Sie eine gottverdammte Eingebung hatten!«
»Na, dann will ich euch doch gerne an meinen göttlichen Eingebungen teilhaben lassen«, grinste ich.
Keller nahm mein Gequassel nicht ernst, aber sein Assistent sprang natürlich prompt an. Bergers Haltung zu mir war wenigstens klar. Er mochte mich ganz entschieden nicht. Das beruhte freilich auf Gegenseitigkeit.
»Dillinger, Ihre Meinung interessiert hier überhaupt nicht!«, herrschte er mich an.
So, so. Ein bloßes »Dillinger«, ohne ein »Herr« davor, wie das unter gebildeten und gesitteten Menschen üblich ist. Gut, Keller sprach mich auch so an. Aber Berger war nicht Keller.
»Ein Kerl muss eine Meinung haben, Bergerchen«, sagte ich ganz freundlich. »Haben Sie auch eine Meinung?«
»Von Ihnen schon!«, giftete er. »Sie sind nichts weiter als ein Klugscheißer.«
Hm. Darüber könnte man diskutieren. Aber nicht jetzt. Und nicht mit Berger.
Der Kerl war nur neidisch. Er war etwa so alt wie ich, sah aber lange nicht so gut aus. Klein und dick war er, mit strähnigen Haaren, seine Brille rutschte ihm ständig auf die Nase und das Hemd aus der Hose. Sie gaben ein göttliches Bild ab, er und Keller, wenn sie gemeinsam durch die Stadt trotteten.
»Und überhaupt, Chef«, sagte Berger zu Keller, »weiß ich nicht, was der Dillinger hier zu suchen hat.«
»Schon vergessen, Herr Berger«, sagte ich, wobei ich das »Herr« betonte, »dass der Dillinger so was wie ein Zeuge ist? Ich habe den Toten schließlich gefunden. Ich muss doch das Protokoll unterschreiben, das Sie sicher schon fertig haben. Aber bitte ohne Tippfehler diesmal.«
Berger starrte mich wütend an. Er war ja so leicht auf die Palme zu bringen.
»Fertig jetzt?«, fragte Keller ungerührt. »Dann zu den Fakten. Todeszeitpunkt ist klar, zwischen acht und zehn Uhr, genauer lässt er sich im Moment nicht eingrenzen. Wunde am Hinterkopf. Bei der eigentlichen Todesursache will sich die Gerichtsmedizin im Moment noch nicht eindeutig festlegen. Vielleicht ein Schlag auf den Schädel, möglicherweise eine Folge des Sturzes, von was immer der ausgelöst wurde.«
»Was gefunden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Noch nichts. Wenigstens nichts, was als mögliche Tatwaffe in Betracht käme. Blutspuren am Rand der Luke, durch die er gefallen ist. Wahrscheinlich hat er sich beim Sturz angeschlagen.«
»Irgendeine Theorie?«
»Das Geländer oben auf dem Heuboden ist morsch. Vielleicht hat er sich dagegengelehnt, vielleicht ist er ausgerutscht.«
»Oder er ist dagegengesprungen«, gab ich zu bedenken.
Berger mischte sich ein: »Ein als Unfall kaschierter Selbstmord? Wozu das denn?«
»Doppelte Versicherungssumme bei Unfall. Reine Fürsorge. Man tut ja alles für seine Lieben«, sagte ich.
»Das ist doch Blödsinn!«, fuhr Berger auf. »Dillinger, Sie haben eine krankhafte Phantasie!«
»Ei forbibbsch! Wänn’s um dä Mäbbse gäht!«, sagte ich spöttisch.
Berger lief rot an. Er war ein Wendeimport aus Sachsen, der sich krampfhaft bemühte, hochdeutsch zu reden. Ein aussichtsloses Unterfangen. Er mochte es gar nicht, wenn man ihn damit hänselte.
Keller wiegte bedächtig den Kopf.
»Ko scho sei«, sagte er. »Älles scho do gwest.«
Er war auch nicht von hier. Aber als Schwabe von der Ostalb, sozusagen als landsmannschaftlicher Vetter, hatte er einen Bonus. Außerdem: Er konnte Hochdeutsch. Und sprach es auch meist.
Er wechselte wieder in die Amtssprache. »Wir können derzeit jedenfalls kein Verdachtsmoment ausschließen.«
Das Wort »Verdachtsmoment« hörte ich gerne. Es bedeutete, dass der Kommissar die Akte noch nicht geschlossen hatte.
»Was weiß man über den Tathergang?«, fragte ich.
»Vorerst gibt es noch keinen Tathergang, sondern nur einen Todesfall, dessen Ursache wir untersuchen«, belehrte er mich.
»Es war ein Unfall, nichts weiter«, sagte Berger.
»Das glaube ich vorerst mal noch nicht«, erwiderte ich.
»Und warum nicht?«, wollte Berger wissen.
»Sagt