Jasmin Adam

Felsenmond


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natürlich! Aber die Mutter braucht mich erst noch in der Küche!“, entgegnete Latifa. Sie scheute sich, alleine zu den doch fast fremden Frauen zu gehen und dort die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen.

      Aber ihr Vater erwiderte unwirsch: „Du tust, was ich dir gesagt habe, verstanden?! Deine Mutter wird auch ohne dich zurechtkommen.“

      Latifa nickte gehorsam. Sie lief die Treppe hoch zu der Kammer, welche sie sich mit ihren drei kleinsten Brüdern teilte. Schnell verriegelte sie die Tür, stellte sicher, dass der verschossene, einst blau geblümte Vorhang das kleine Fenster auch richtig bedeckte und holte dann einen großen alten Mehlsack hervor, in dem ihre Kleider verstaut waren. Hastig leerte sie den gesamten Inhalt auf den Boden und begann nervös darin zu wühlen. Doch alle Kleider schienen ihr zu alt! Manche waren definitiv zu kurz oder zu eng, andere hatten Risse oder waren vom Kochen angesengt, hier oder da war der Reißverschluss kaputt. Latifa spürte, wie ihr Tränen der Wut in die Augen stiegen. Ihr Vater hatte gut reden! Was sollte sie denn nur anziehen? Jeder wusste, wie kritisch diese Frauen aus der Stadt waren! Konnte sie etwas dafür, dass sie keine angemessene Kleidung besaß? Schließlich stopfte sie trotzig das ganze Durcheinander wieder in den Sack zurück und tauschte nur ihr schwarzes Kopftuch gegen ein dunkelrotes mit Goldfäden aus. Dieses Tuch hatte sie zum letzten Opferfest vom Vater bekommen und seitdem geschont, es sah noch aus wie neu. Dann goss Latifa etwas Wasser aus einer Plastikflasche auf den Zipfel eines der herumliegenden Tücher, wusch sich damit schnell das Gesicht und befreite auch noch ihr schwarzes Kleid vom gröbsten Staub. Schließlich atmete sie tief durch, versuchte sich zu sammeln und ging langsam die Treppe hinunter zum Frauendiwan.

      „Friede sei mit dir, meine Tochter. Bei Allah, wie bist du groß geworden! Wie geht es dir, mein Liebes?“, begrüßte Tante Fatima ihre Nichte und küsste Latifa überschwänglich auf beide Wangen und die Stirn, woraufhin diese der Älteren ehrerbietig die Knie küsste. Auch mit den anderen Frauen wurden Küsse getauscht und auf die stets gleiche Frage: „Wie geht es dir?“ folgte die stets gleiche Antwort: „Al-hamdu li-llah! Allah sei gelobt!“

      Latifa fühlte sich angesichts des Interesses, mit dem die älteren Frauen sie bedachten, unwohl. Wie viel lieber wäre sie der Mutter zur Hilfe geeilt oder hätte ihre Bekanntschaft mit den Cousinen erneuert! Und als bald darauf einige Nachbarinnen auftauchten und sofort in eine rege Unterhaltung mit den Städterinnen verfielen, nutzte Latifa die Gelegenheit sofort und gesellte sich zu den beiden Mädchen, die sie freudig in ihre Mitte nahmen.

      „Latifa, wir haben uns so gefreut, dass wir mitkommen durften und dich endlich wieder sehen können! Aber der Weg hierher ist ja fürchterlich! Ich habe jetzt bestimmt lauter blaue Flecken!“, sagte Sausan, die ältere der beiden, lächelnd und ihre Schwester Hanna flüsterte theatralisch: „Mich hat Tante Mariam beinah zerquetscht, sie saß halb auf meinem Schoß, so eng war es im Auto!“ Mit einem schiefen Seitenblick auf die besagte Frau fügte sie verschwörerisch hinzu: „Und die Gute wiegt bestimmt hundert Kilo!“

      Latifa hielt sich die Hand vor den Mund, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Sie wusste nicht recht, was sie denken sollte. Zwar besaß ihr Vater ein Auto, doch sie kannte den Weg in die Stadt nicht, denn er hatte sie noch nie mit dorthin genommen. Eine Frau aus dem Dorf hatte meistens nur dann eine Chance in die Stadt zu kommen, wenn sie ins Krankenhaus musste, doch Latifa war bisher immer gesund gewesen. Konnte die Straße in die Stadt denn so schlimm sein? Außerdem verunsicherte Latifa der Ton, in dem Hanna über die fremde Frau sprach. Hatte man den Mädchen in der Stadt denn nicht beigebracht, Erwachsenen mit Respekt zu begegnen? Latifa musterte ihre Cousinen verstohlen von der Seite. Nachdem sie nun ihre schwarzen Gesichtsschleier abgelegt hatten, erschienen sie ihr noch fremder, ja, kaum wiederzuerkennen! Und mit diesen Mädchen war sie, Latifa, verwandt? Ihre Haut schien so viel weißer, ihr Auftreten so viel erwachsener und selbstsicherer! Bei Sausan lugte unter dem Kopftuch sogar eine blondierte Haarsträhne hervor!

      Bei ihrem letzten Besuch vor etwa drei Jahren waren sie gemeinsam noch ausgelassen draußen im Dorf herum gesprungen. Sie hatten erst mit den jungen Ziegen gespielt und dann mit langen Stangen, an deren Ende aufgeschnittene Blechdosen befestigt waren, Kaktusfeigen gepflückt, um sich hinterher lachend gegenseitig die Tausende von kleinen Stacheln aus den Fingern zu ziehen. Wie war das schön gewesen! Am Abend hatten sie zu dritt auf dem Dach unter den Sternen gesessen, sich die Hände und Füße mit Henna verziert und von ihren Träumen erzählt. Latifa seufzte leise. Jetzt erschienen die beiden so gepflegt, so fremd!

      Als ob sie Latifas Gedanken lesen könne, stupste Sausan sie an und zwinkerte ihr zu. „Hey, Latifa“, fragte sie lächelnd, „können wir vielleicht nachher noch zusammen hinausgehen? Ich erinnere mich an einen bestimmten Felsvorsprung, auf den wir das letzte Mal geklettert sind. Wie gerne würde ich da noch einmal hin!“

      „Natürlich!“, antwortete Latifa erleichtert. Vielleicht hatte sich zwischen ihnen ja doch nichts verändert. „Ihr bleibt doch über Nacht, oder?“

      „Aber sicher! Heute Abend ist doch ...“, fing Hanna an, aber Sausan fiel ihr ins Wort.

      „Sollten wir nicht endlich deine Mutter begrüßen, Latifa? Sie freut sich doch sicher, wenn wir ihr helfen!“

      In der kleinen Küche war es jedoch schon so voll, dass niemand mehr hineinpasste. Kurz erhaschte Latifa einen Blick auf ihre Mutter und erschrak. Warum hatte die Mutter geweint? Sicherlich gab es viel zu tun, aber das war bestimmt nicht der Grund für diese Tränen. Hatte der Vater wieder geschimpft? Sie hatte ihn gar nicht brüllen hören! Latifas Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen. Was war nur los? Ob vielleicht Aischa Bescheid wusste? Aber vorerst war es Latifa nicht möglich, mit Aischa zu reden, da das Mittagessen nun begann.

      Eine Stunde später waren alle hungrigen Mäuler gestopft. Erst die der Männer, die nun entspannt im obersten Raum des Hauses auf dem Teppich saßen, an bunte, mit Sägespänen gestopfte Kissen gelehnt und rundherum mit einer spektakulären Aussicht aus den fast auf den Boden reichenden Fenstern beschenkt. Doch ihr Interesse galt inzwischen nur noch den Bündeln grüner Qatstängel, die sie behutsam aus Plastiktüten oder Bananenblättern auspackten, fachmännisch beurteilen und hin und her tauschten, um sie dann schließlich innerhalb der nächsten Stunden allmählich in ihren immer praller werdenden Backen verschwinden zu lassen. Qat gehörte zum Leben dieser Männer ebenso wie die Jambiya, der reich verzierte, vor dem Bauch getragenen Krummdolch. Latifa kannte keinen Mann, der sich dem gemeinschaftlichen Qatkauen entzog. Ablenkung, Entspannung, Anregung, was auch immer es war, das sie beim Kauen der Droge empfanden – es schien Männern wie ihrem Vater eine Menge Geld und Zeit wert zu sein.

      Ahmed hatte beim Bedienen der Männer geholfen, denn die Frauen durften sich bei fremden Männern nicht blicken lassen. Sogar der Vater selbst war mehrfach aufgestanden und hatte seine Wünsche das Treppenhaus hinuntergerufen: „Wo bleibt das Fleisch? Bringt noch Brot! Auf, macht Tee!“ Erst nachdem die vielen Schüsseln und Schalen abgeräumt worden waren und auch die auf dem Boden ausgebreitete Plastiktischdecke wieder verschwunden war, konnten sich die Frauen um das Essen der weiblichen Gäste kümmern. Hier gab es zwar nur noch wenige kleine Fleischreste, aber Reis, Brot und Hilbe war dank der Nachbarinnen genügend vorhanden. Der kleine Raum, in dem die Frauen saßen, war inzwischen gerammelt voll. Teilweise hatten die Älteren in der zweiten Reihe Platz genommen und mussten den Arm lang machen, um das in flachen Schalen auf der Mitte des Zimmerbodens verteilte Essen zu erreichen. Löffel gab es auch nicht genug, aber im Dorf aß man sowieso am liebsten mit der Hand. Latifa, ihre Mutter und Aischa nahmen fast gar nichts zu sich, zu sehr waren sie beschäftigt dafür zu sorgen, dass kein Gast und auch keine der Nachbarinnen sich vernachlässigt fühlen konnte.

      Da die kleineren Kinder sich auch zu den Frauen gesellt hatten, musste Latifa nach dem Essen rasch den kurzen Reisig-Handbesen holen, um die Brotreste und Reiskörner auf dem Teppich zusammenzufegen. Vor der Zimmertür warteten schon ungeduldig mauzend verschiedene dürre Katzen, und auch die Hühner würden sich über die Krümel freuen, die Latifa draußen einfach vor die Tür kippte.

      Nun galt es noch, die Töpfe und Blechschüsseln wieder sauber zu schrubben, dann würden auch die Frauen es sich zusammen gemütlich machen. Die Männer waren ja schließlich versorgt.

      Noch immer wusste Latifa nicht, weshalb ihre Mutter