Jasmin Adam

Felsenmond


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kleines Mädchen hatte sie oft Fragen nach dem „warum“ und „wozu“ gestellt. Das war aber gar nicht gerne gesehen, sondern als vorlaut und gotteslästerlich kritisiert worden. Auch in der Schule hatten die Lehrer irritiert und argwöhnisch reagiert, wenn sie Fragen stellte, die den Gesamtzusammenhang und die Ursachen betrafen. Wollte sie etwa die Autorität der Lehrer infrage stellen? Oder gar Wissenslücken bei ihnen aufdecken? Wollte sie sich selbst wichtigmachen oder den Lernfortschritt der Klasse behindern?

      Eine Zeit lang hatte Sausan dann ihre unbeantworteten und zum Teil ungestellten Fragen in einem kleinen Heftchen aufgeschrieben, in der Hoffnung, irgendwann jemanden zu treffen, dem sie all diese Fragen würde stellen können. Und immer, wenn sie sich einsam und missverstanden fühlte, hatte sie sich in dieses Heftchen vertieft und seine Ränder mit fantasievollen Zeichnungen aus ihrer Traumwelt verziert. Doch dann war das Heft ihrem großen Bruder bei einer seiner Razzien in die Hände gefallen. Erst hatte er sich über sie lustig gemacht und gedroht, das Heft überall herumzuzeigen. Dann hatten sie gestritten, er war wütend geworden, hatte sie als Ungläubige beschimpft und schließlich das Heft kurzerhand verbrannt. Damals war Sausan etwa zwölf Jahre alt gewesen. Sie hatte daraus gelernt. Aufgeschrieben und gezeichnet hatte sie nichts mehr, auch nicht mehr viele Fragen gestellt. Aber sie hoffte immer noch auf jemanden, der so dachte wie sie und mit dem sie ihre Gedanken und Fragen teilen und vielleicht gemeinsam auch Antworten finden konnte.

      Inzwischen war Sausan am Haus von Malika angekommen. Eigentlich waren die zwei Mädchen so verschieden, wie man nur sein konnte. Doch da sie sich schon von der ersten Klasse an kannten und nun zusammen Englisch studierten, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Sausan klopfte, blieb jedoch vor der Tür stehen, als von drinnen ein „Ja? Wer ist da?“ ertönte.

      „Ich bin es, Sausan. Bist du so weit?“ Statt einer Antwort ging die Tür auf und Malika trat hinaus. Noch nie hatte Sausan auf Malika warten müssen, sie war das Pflichtbewusstsein in Person. Malika war ein ganzes Stück kleiner als Sausan. Auch sie trug den langen schwarzen Balto und vor dem Gesicht die Luthma. Während Sausans Balto jedoch an den Ärmeln und dem Saum mit filigranen Stickereien verziert war, besaß Malikas Balto keinerlei Schmuckelemente.

      „Wie geht es dir?“, fragte Sausan und begrüßte die andere mit einem Kuss auf beide Wangen.

      „Allah sei gelobt. Und dir?“, erwiderte Malika den Gruß. „Wir müssen uns beeilen, es ist schon spät!“

      „Wirklich?“, fragte Sausan erstaunt und schaute auf ihre Uhr, aber die war wieder einmal stehen geblieben. Daraufhin holte sie ihr Handy aus der Tasche. „Tatsächlich. Komisch. Ich dachte, ich sei heute früher losgegangen. Na ja.“

      Schweigend gingen die beiden weiter, denn statt auf der Straße zu laufen, die in weiten Serpentinen den Berg hinaufführte, folgten sie nun einem schmalen holprigen Pfad, der sich steil zwischen den Häusern hindurchschlängelte, aber eine enorme Abkürzung darstellte. So kamen sie dann auch noch gerade rechtzeitig zum Beginn der ersten Stunde an.

      Professor Mumbai war Inder und unterrichtete schon viele Jahre an diesem College. Neben ihm gab es in der Englischfakultät noch mehrere irakische Professoren und neuerdings auch einen Jemeniten. Professor Mumbai war beliebt, da er gerecht war und sich ernsthaft bemühte, in seinen Studenten die Liebe zur Literatur zu wecken. Es gab aber auch Studenten, die ihm mit kühler Verachtung begegneten. Malika gehörte dazu. Als Sausan sie einmal nach dem Grund dafür fragte, hatte Malika erstaunt erwidert: „Professor Mumbai ist Hindu, weißt du das denn nicht? Er betet Kühe und Elefanten an und Tausende von Göttern mit vielen Köpfen und Unmengen von Brüsten und was weiß ich noch alles für schreckliche Gestalten. Wie kann ein intelligenter Mensch nur an so etwas glauben? Davor habe ich keinen Respekt!“ Sausans Neugierde war geweckt, und so hatte sie den kleinen rundlichen Professor gleich nach der Stunde abgepasst und gefragt, ob er tatsächlich Hindu sei. Daraufhin hatte dieser sich erst nachdenklich an der Nase gerieben und Sausan dann direkt in die Augen geschaut. „Ich wurde als Hindu geboren, das ist wahr. Aber ich bin Atheist. Ich glaube nicht an Gott.“ Dann hatte er kurz genickt, sich umgedreht und war gegangen. Das wiederum war für Sausan fast nicht zu glauben. Dass jemand eine falsche Gottesvorstellung hatte oder dem falschen Propheten folgte oder aber einfach Gott ungehorsam war und sich seinem Willen widersetzte, all das konnte man sich ja noch vorstellen. Aber dass ein Mensch, noch dazu einer, der studiert hatte und sehr belesen war, die Dreistigkeit besaß, Gott einfach zu leugnen? Wo doch die ganze Welt in ihrer Vielfalt und Komplexität tagtäglich bezeugte, dass es einen Schöpfer gab? Unvorstellbar! Wie man Gott verstehen solle und wie man ihm gefallen könne, darüber ließ sich ja vielleicht streiten, aber an seiner Existenz zu zweifeln, das war selbst Sausan zu abgehoben. Trotzdem mochte sie den kleinen Professor, auch wenn er ihr jetzt irgendwie leidtat. Ganz allein in einem fremden Land und noch dazu ohne Gott? Der Arme!

      Heute war es jedoch nicht wie erwartet Professor Mumbai, der den Raum betrat, sondern der irakische Fakultätsleiter und mit ihm ein junger fremder Ausländer. Die Studenten waren augenblicklich still und blickten erwartungsvoll auf die beiden Männer.

      „Friede sei mit euch und die Gnade Allahs und seine Segnungen“, sagte der Fakultätsleiter, und die Studenten antworteten im Chor: „Und mit euch sei Friede.“

      „Ich bin heute gekommen, um Euch Mr Williams vorzustellen. Mr Williams ist ein Englischlehrer aus Amerika und lebt seit Kurzem in unserer schönen Stadt. Er hat die Freundlichkeit besessen, unserem College seine Dienste anzubieten, und wird ab jetzt verschiedene Konversationsklassen übernehmen. Außerdem möchte er uns helfen, die Englischbibliothek zu erweitern und einen kulturellen Austausch mit einem College in den Vereinigten Staaten zu organisieren. Wir sind sehr froh, Mr Williams bei uns zu haben, und freuen uns auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Und nun, Mr Williams, lasse ich Sie mit den Studenten allein. Allah segne euch alle.“

      Das war vielleicht eine Stunde gewesen! So etwas hatte Sausan noch nie erlebt. Allein dem breiten amerikanischen Akzent des Dozenten zuzuhören, war schon der reinste Genuss! Wie im Fernsehen! Und dann sah dieser Mann auch noch gut aus! Groß und sportlich, mit kurzem dunkelblondem Haar und den unglaublichsten blauen Augen, die man sich nur vorstellen konnte. Noch nie hatte Sausan solche Augen gesehen. Aufmerksam hatte sie jede Sekunde des Unterrichts verfolgt, sich beteiligt, versucht, in Blickkontakt mit diesen blauen Augen zu treten, doch vergebens.

      Nun war die Stunde zu Ende und Mr Williams packte seine Bücher in die Tasche. Schnell nahm Sausan die überraschte Malika an der Hand und zog sie mit sich vor zum Pult.

      „Hallo, wie geht es Ihnen?“, fragte sie den Lehrer auf Englisch und legte dabei ihre schlanken schönen Hände so elegant auf den Tisch, dass er sie unmöglich übersehen konnte. „Gefällt Ihnen der Jemen?“

      „Danke, mir geht es gut“, antwortete Mr Williams überrascht. „Ja, der Jemen gefällt mir sogar sehr. Es ist ein schönes Land mit sehr freundlichen Bewohnern.“ Aber er sah Sausan dabei kaum an, sondern schloss seine Tasche und wollte eben schon den Raum verlassen, als sich Malikas Stimme aus dem Hintergrund vernehmen ließ.

      „Entschuldigen Sie, sind Sie Muslim?“

      Plötzlich schien der Amerikaner es nicht mehr so eilig zu haben. Er stellte seine Tasche noch mal ab, blickte Malika forschend an und antwortete dann: „Ich liebe Gott und versuche nach den Geboten von Jesus zu leben.“

      Malika folgerte nüchtern: „Dann sind Sie also Christ. Warum glauben Sie nicht an Muhammad? Er ist der letzte Prophet und das Siegel aller Propheten!“

      Mit einem kurzen Seitenblick auf die anderen Studenten, die von dem Gespräch Notiz nahmen und sowohl den Amerikaner als auch die beiden Jemenitinnen genau beobachteten, antwortete Mr Williams mit einem verhaltenen Lächeln: „Weißt du was? Ich habe es gerade etwas eilig. Aber warum besuchst du nicht einfach mal meine Frau Sally? Sie redet sehr gerne über diese Fragen. Außerdem möchte sie Arabisch lernen. Wir leben in der Altstadt, im Haus der Al-Sayyidis. Komm doch einfach mal vorbei. Wie war noch gleich dein Name?“

      „Malika.“

      „Auf Wiedersehen, Malika, und Gottes Segen“, verabschiedete sich Mr Williams, lächelte den beiden kurz zu und verließ mit eiligen Schritten den Raum.

      Das