Maximilian Christis

homo connectus


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gegen diesen Rechner liefen, und zu den entsprechenden Kanälen hatte er durchaus Kontakt. Dass das in der Zukunft anders sein sollte, wo der Rechner alle unter seinen Fittichen hatte, bezweifelte er. Dann würde endlich ein wenig Ruhe in diese vormals kriegs- und krisengeplagte Welt einkehren. Das war vielleicht das Einzige, auf dass der Mann sich wirklich freute. Aber jetzt galt es noch, eine Rede zu beenden.

      “Sie sehen, der Zentralrechner ist nichts weniger als die Universallösung für die Probleme unserer Existenz. Ich freue mich, feststellen zu können, dass es ab diesem Zeitpunkt für die Menschheit nur noch aufwärts gehen wird. Alternativen benötigen wir nicht mehr, Querdenker im negativen Sinne wird es nicht mehr geben. Der Zentralrechner ist alternativlos, und das, meine Damen und Herren, ist zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ein Grund, zu feiern!”

      Ein etwas erzwungener und fadenscheinger Schluss, aber er zeigte Wirkung. Nun brauchten die Zuhörer im Saal nicht einmal mehr Schilder, um aufzuspringen und zu klatschen. Die Zuschauer im Internet würden ruhigen Gewissens das nächste Video anklicken, arbeiten gehen oder sich schlafen legen, je nachdem, wo auf der Welt sie gerade waren. Damit war der offizielle Teil dieses historischen Tages erfolgreich über die Bühne gebracht. Zeit für einen Sekt und ein leckeres Schnittchen.

      - wenn er schlief, war Ralph eine Moorleiche. Aufgedunsen trieb er in sumpfig grauen Gedanken, die sich nicht zu Träumen formen ließen. Wie ein Teigmischer durchwühlte sein Unterbewusstsein die trübe Erinnerungsmasse nach nennenswerten Details, stieß aber nur auf bedeutungslose Eindrücke - kaum des Erinnerns wert. Trotzdem hielt es Ralph in diesem Morast fest, anstatt ihm erholsam gedankenlosen Tiefschlaf zu gewähren. Er träumte, wie er nichts träumte, trieb durch den grauen Schlamm, während er vergeblich zu atmen versuchte. Orientierungslos ruderte er in der Masse umher, fand keinerlei Anhaltspunkte. Überall nur belanglose Momente von erdrückender Leere. Alltag, wohin er seine Arme bewegte. Nein, jetzt striff seine Hand etwas Warmes, Strahlendes. Ralph griff danach, aber seine Hand tauchte in das Objekt ein, anstatt es zu erfassen. Sie wurde von einer besonderen Stimmung umgeben, die wie wabernder Dampf durch seine Finger glitt. Angenehm agitierend, von etwas unbestimmt Gutem erfüllt. Na, das war doch eine nähere Betrachtung wert. Ralph begann, die Substanz zu verinnerlichen, spürte, wie er leichter als seine trüben Gedanken wurde und aufwärts glitt. Um ihn herum wurde es immer klarer und weniger erdrückend. Schon hatte er die Oberfläche des Sumpfes erreicht. Sobald er oben ankam, verflog die Leichtigkeit und ließ ihn zurück. Zaghaft schlug Ralph seine Augen auf, konnte aber nichts erkennen. Er musste einige Male blinzeln, bis sein Sichtfeld frei von geometrischen Mustern war. Mit einem Seufzer sah er sich jetzt im Zimmer um. Innerlich bis drei zählen – schon war es da, sein Verlangen nach Espresso. Manchmal blieb Ralph einige Minuten liegen und malte sich aus, wie er von einem Kaffee kostete, ihn im Mund umherschwappen ließ, sich an feinen Geschmacksnoten erfreute und nach dem Schlucken dem verfliegenden Aroma nachsann. Danach war er eigentlich bereit, aufzustehen, sofern seine Gliedmaßen alle ordnungsgemäß arbeiteten. Heute war das wieder einmal nicht der Fall. Sein rechtes Bein wollte partout nicht aufwachen. Ralph griff unter der Bettdecke danach und schüttelte es ein wenig. Keine Reaktion. Zusätzlich schmerzte ihn jetzt das Kniegelenk. Ralph seufzte und ließ sich seitlich aus dem Bett rollen. Sanft landete er auf dem Bettvorleger und blieb dort eine Weile liegen, spürte, wie die Baumwolle sich unter seinem Körper erwärmte. Wieso gab es eigentlich keine Matratzenüberzüge aus diesem flauschigen Stoff? Ein klägliches Versäumnis. Ralph überlegte, den Vorleger auf seiner Matratze zu drapieren. Verlockend war es schon, seine Nächte auf einer so komfortablen Unterlage zu verbringen. Andererseits würde er dann fast jeden zweiten Morgen, wenn eines seiner Glieder versagte, auf dem kalten Laminatboden enden – ein grauenhafter Start in den Tag. Das war den zusätzlichen Komfort nicht wert. Ach, warum waren seine Beine nur so fehleranfällig? War das etwa ein Grund zur Unruhe? Ralph gähnte abwesend. Wohl kaum. Da musste er sich mehr Sorgen um diese chronische Bedeutungslosigkeit machen, die seinen Alltag dominierte. Es war, als ob eine übergeordnete Macht jegliche Besonderheit in seinem Leben vereitelte. Sie hinderte Ralph zum Beispiel daran, für den Rest des Tages hier liegen zu bleiben. Er hievte sich seufzend am Nachtkästchen hoch, die schwerste Arbeit, die er heute voraussichtlich verrichten würde. Dabei hatte der Tag so gut begonnen - wo war das Gefühl aus seinem Traum geblieben? Diese Vorahnung, dass heute etwas anders kommen würde? Blut durchfloss sein rechtes Bein. Er streckte und dehnte es einige Male. Faszinierend… nein, eigentlich nicht. Ralphs rechte Hand ertastete eine Zeitung auf dem Nachtkästchen. Seine Frau hatte sie dort deponiert, wie jeden Morgen eben. Auch war sie bereits aufgestanden und erzeugte allmorgendliches Küchengeklapper. Ralph fiel auf, dass es heute ein wenig lauter, energischer war als sonst. Na ja, konnte vorkommen. Er schlurfte mit der Zeitung zur Toilette.

      Los Angeles, USA

      Nach einer Zeit voller Selbstzweifel und Auseinandersetzungen mit ihrem – nun ehemaligen - Freund Lenny Marbourgh hat sich Hollywood-Sternchen Sherron Railham (54) nun doch dazu entschieden, auch noch ihre linke Wange mit Botox straffen zu lassen. Während sie schon seit sechs Jahren einen unästhetischen Faltenwurf in dieser Wange zu beklagen hatte, hielt ihr Freund sie unter Äußerung moralischer Bedenken lange von einem weiteren Eingriff ab. Nun, da sie sich aufgrund des jüngsten Party-Skandals (es wurde ausführlich berichtet) von ihm getrennt hat, steht der Verschönerung nichts mehr im Wege.

      […]

      Nürnberg, Deutschland

      Aus einer heiklen Situation musste gestern der 67-jährige Herbert Reitinger befreit werden. Der alleinstehende Rentner wollte etwa um 14:23:04 Uhr seine Dreizimmerwohnung in der Kreuzstraße 7 verlassen, als er im Flur ausrutschte und sich den Kopf stieß. Glücklicherweise konnte sein Implantat einen Notruf absetzen und Rettungskräfte nahmen sich gegen 14:25:13 Uhr des Mannes an.

      […]

      Valigia, Spanien

      Eine Überschwemmung bescheidener Ausmaße hat gestern ungefähr um 13:20:00 lokaler Zeit Infrastruktur und Gebäude der Stadt Valigia (Spanien) in einer Weise beschädigt, die weitere Benutzung ausschließt. Augenzeugen registrierten einen Anstieg des lokalen Flusses über den üblichen Pegel hinaus. Die Einwohner wurden 5,3 km westlich in Espérades (Spanien) aufgefangen. Der Zentralrechner hat die Koordination von Reparaturarbeiten umgehend eingeleitet. Die Situation ist unter Kontrolle und es besteht keinerlei Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

      Alle Blätter der Zeitung waren mit diesen Bedeutungslosigkeiten überzogen. Fremde Menschen und Geschehnisse, die Ralph an jedem anderen Ort der Welt kein bisschen mehr interessiert hätten. Wieso kaufte er diesen Stapel Altpapier überhaupt noch? Die Artikel wurden doch sowieso vom Zentralrechner zusammengeschustert. Trotzdem sah er den Kauf einer nicht-digitalen ‘Informations’quelle wohl immer noch als eine Art Rebellion. Gegen die Flut von Online-Nachrichten, die einen Normalbürger täglich erschlug.

      Während er darüber sinnierte, zerknüllten Ralphs Hände die Zeitungsseite mechanisch zu einer Papierkugel. Ihr Rascheln dumpfte durch das Badezimmer und begleitete den tropfenden Wasserhahn des Waschbeckens. Fehlt nur noch ein betrommelter Stuhl zur Minimal Music, dachte Ralph. Eine Kunst, die unter der Herrschaft der Unterhaltungsindustrie keinen mehr interessierte – wie alle anderen auch. Im Gegensatz zu Katzenvideos erforderte Kunst eben mehr Aufmerksamkeit, als der moderne Mensch aufbringen konnte.

      Die restliche Zeitung durchblätterte Ralph wie ein großes Daumenkino. Ob man den Text vorbeifliegen ließ oder an den Themen vorbei las, machte letztendlich sowieso keinen Unterschied. Es entging einem auf beide Arten alles Wissenswerte oder Interessante, was auf der Welt los war – wenn so etwas überhaupt noch vorkam. Nur noch Langeweile gab es zu lesen, seit man dem Zentralrechner die weltweite Berichterstattung übertragen hatte. Natürlich waren auch die Redakteure, die davor noch arbeiteten, von der Meinungsmaschine bedient worden. Die hatten den inhaltsleeren Artikeln aber wenigstens noch etwas menschliche Würze verleihen können. Der Zentralrechner hatte die Kunst der nichtssagenden Aussagen hingegen perfektioniert – wenn auch sein Schreibstil noch Macken aufwies. Da war zum Beispiel dieser Drang, in jeden Bericht exakte Orts- und Zeitangaben aus seinen Log-Dateien zu packen, auch, wenn sie keinen interessierten. Eben doch eine Maschine, künstliche Intelligenz hin oder her. Bei ihren Erzeugnissen ging es hauptsächlich um Quantität;