Maximilian Christis

homo connectus


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über seine Romane gab es gleich dazu, für Leute, die sich gebildeter als der Durchschnitt vorkommen wollten. Diese Kritiken las auch Ralph ab und zu; dann konnte er über die Liebesromane seiner Frau ablästern, wenn er ihr sonst nichts zu sagen hatte. Was ziemlich oft vorkam - es war ja überhaupt nichts mehr los in der Welt! Ralph seufzte. Keine größeren Missstände, keine Kriege, Konflikte, politische Debatten. Nicht mal Verkehrsunfälle. Alles abgeschafft, „wegrationalisiert“, indem intelligente Fahrzeuge, Entscheidungsalgorithmen und automatisierte Versorgungssysteme das Überleben der Menschen vom Faktor Mensch entbunden hatten. Befreit von jeglicher Verantwortung und Pflicht, durften die Leute ihren Lebenstag mit Unterhaltung füllen. Das existenziellste Dilemma des modernen Bürgers war doch, welches Web-Video er als nächstes ansehen sollte! Auch die waren alle nach maschinell generierten Skripten produziert und jederzeit weltweit in atemberaubender Qualität vor dem inneren Auge zu sehen, wurden von einem haselnussgroßen Implantat in die Nervenzellen gestreamt. Eine zweite Realität, wenn man so wollte. Die erste war zu langweilig geworden. Der Rechner hatte Stück für Stück alles, was das Leben interessant machte, aus der Welt genommen und in seinen Unterhaltungskosmos gesperrt, um den Alltag der Menschen grau und ihre Freuden künstlich zu machen. Damit konnte er ihren Gemütszustand effektiv steuern oder jedenfalls das, was davon für ihn messbar war: Befriedigungsgrad und Anspannung. Wahrscheinlich war das Emotionsspektrum der Menschen aber sowieso schon so weit zurückgebildet, dass diese beiden Werte ausreichten. Das Maximieren der Zufriedenheit war der Job des Rechners; steigende Anspannung die Nebenwirkung davon.

      Gedankenverloren begann Ralph, die Ränder seiner Zeitung anzureißen. Wie Pinzetten arbeiteten seine Daumen und Zeigefinger, fixierten das Papier, zogen es auseinander. Immer beherzter sezierte Ralph die Seiten und riss irgendwann einfach die ganze Zeitung in Fetzen. Sollte diesen Dreck doch die restliche Menschheit konsumieren. Er wollte jetzt einen Kaffee.

      “Möchtest du vielleicht einen Espresso?”

      Die freundliche Stimme riss Ralph aus seinen Brütereien. Intuitiv verspürte er das Bedürfnis, seiner Frau “Gerne, Schatz, vielen Dank” zu entgegnen. Aber dem Geklapper nach hantierte die immer noch in der Küche herum. Gestern morgen hatte er sie zum letzten Mal gesehen. Sie war wohl am Abend einkaufen gegangen und erst spät zurückgekehrt. Das machte sie ja öfters. Ralph wusste zwar nicht, wieso man das nicht tagsüber erledigen konnte, aber die Zeiteinteilung seiner Frau ließ er lieber unkritisiert.

      Das änderte nichts an der Tatsache, dass er gerade von irgendwo her angesprochen worden war. Verwirrt blieb er eine Weile auf der Toilette sitzen.

      „Möchtest du einen Espresso? ‘Ja’ für Espresso. ‘Nein’ für keinen Espresso.“

      Moment mal. Das war seine Toilette, die ihm gerade sein Lieblingsgetränk anbot. Seit wann hatte die bitte etwas zu sagen? Das ging zu weit. Dieses Hightech-Ding hatte er wegen der Sitzpolsterung gekauft, nicht damit es ihm Kaffee servierte. So weit kam es noch, dass seine eigene Toilette mit ihm umging wie seine Ehefrau! Man musste diese Technik in ihre Schranken weisen.

      “Halt die Klappe und lass mich in Ruhe kacken, du Mistding!”

      Bevor die Toilette nach der Kaffeestärke fragen konnte, fand sie ihren Lautsprecher großzügig mit Klopapier gestopft. Ralph schmunzelte. Ein kleiner Erfolg für ihn, ein großer Triumph der Menschheit über die eben doch unterlegene Technik. Dann bemerkte er, dass es kein Klopapier mehr für ihn gab.

       “Ähm… Toilette… ” - Eine Personifikation, die seinem Sprachzentrum übel aufstieß. So weit war es also gekommen, dass Toiletten sich wie vollwertige Gesprächspartner verhielten. Wann die Kloschüssel wohl anfangen würde, Smalltalk zu führen?

       “Vorrat bestellt. 4-lagig, super-weich.”, schallte es dumpf durch vierlagiges super-weiches Klopapier. Verbissen murmelte Ralph „Danke“ und griff sich ein wenig Papier aus dem Lautsprecher. Dieser eitlen Porzellankiste würde er es schon noch zeigen. Er erhob sich und verließ das Badezimmer, während die Toilette mit dem Spülvorgang begann. Über einen Gewichtssensor im Toilettenboden ermittelte der Zentralrechner die zum Spülen benötigte Wassermenge. Diese gab er an ein regulierbares Ventil im Zuflussrohr der Spülung weiter, welches 5,3 Liter Wasser in die Toilette laufen ließ, um sich danach wieder zu verschließen. Die bei diesem Vorgang beanspruchte Rechenkapazität hatte weniger gekostet als die gesparten 0,7 Liter Wasser.

      Als Ralph die Küche betrat, erwarteten ihn ein duftender Espresso mit Kondensmilch und ein tödlicher Blick seiner Frau.

      „Ah, vielen Dank, Schatz, so mag ich ihn am Liebsten“, meinte er und ließ sich, das wohltuende Koffeinaroma tief in die Nase einsaugend, auf einen Stuhl sacken.

      Der tödliche Blick blieb.

      „Äh… hast du schon die Post rein geholt?“

      Ihre Augen verengten sich weiter. Ralph räusperte sich unbehaglich. Schnell nahm er einen Schluck Kaffee und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Er ließ die Flüssigkeit über seine Zunge laufen, die an verschiedensten Stellen wunderbare Aromen meldete. Was gab es Schöneres?

      „Schau doch nicht so… betrübt, Schatz. Heute ist ein prächtiger Tag!“

      Sein linkes Auge einen Spalt breit öffnend, beobachtete er, wie seine Frau mit ihrer Beherrschung rang. Verdammt. Bestimmt hatte er wieder mal etwas Wichtiges vergessen. Hoffentlich war heute nicht ihr Hochzeitstag oder so. Ihre Züge entspannte sich kurz und sie sprach mit ruhiger Stimme:

      „Du weißt, dass ich gestern Abend vierzehn volle Minuten im… im triefenden Regen… nach… nach…“

      Ralph wollte sie gerade unschuldig anlächeln, als sie ihre Hände zu Fäusten ballte und ihn nach vorne gebeugt anschrie:

      „Nach Hause latschen durfte, weil du Idiot vergessen hast, mich abzuholen?“

      Oh.

      „Ach ja, du warst im Supermarkt, nicht wahr? Ich… hatte in der Arbeit viel zu tun. Wieso hast du denn kein Taxi genommen?“

      Ralph hatte gestern eine Stunde früher Feierabend gemacht und sich zuhause ins Bett gelegt – er war schrecklich müde gewesen. Wohl zu wenig Kaffee. Leider war er nicht mehr aufgestanden, um seine Frau zu holen. Konnte doch jedem mal passieren. Und überhaupt… sollte sie doch online einkaufen, wenn ihr das bisschen Fußweg zu viel war. Ralph verstand sowieso nicht, weshalb es noch Supermärkte gab, wo doch inzwischen jeder halbwegs vernünftige Kühlschrank seinen Inhalt selber bestellen konnte. Viele Menschen wollten sich unbewusst wohl immer noch selbst für ihre Nahrungsbeschaffung verantwortlich fühlen, wenn sie schon sonst nichts zu ihrer Existenz beizutragen hatten.

      „Du weißt haargenau, das in dieser Stadt kein Mensch mehr Taxis braucht außer wir mit unserem dämlichen Schrottwagen! Der fährt nicht automatisch, den kann man nicht rufen, wenn man ihn braucht. Und dich natürlich auch nicht! Du hast doch bestimmt wieder gepennt.“

      „Äh… Ich weiß noch, wie ich mich gewundert habe, dass du nicht da warst, als ich heimgekommen bin. Hm. Blöd gelaufen, tut mir leid, Schatz. Das wird nicht mehr vorkomm…“

      „Das war das achte Mal. In einem halben Jahr. Nimm deinen Kaffee und scher dich zur Arbeit.“

      Sie besann sich kurz. „Vergiss deine Semmel nicht.“

      Ralph griff Kaffeeflasche und eingetütete Wurstsemmel aus den ausgestreckten Händen seiner Frau, drückte ihr im Vorübergehen einen Kuss auf die Wange und murmelte „tut mir schrecklich Leid, Schatz, nächstes Mal denk ich daran, danke für den Kaffee, mhm, ich liebe Wurst, lecker, schönen Tag noch, hab dich lieb“. Dann machte er, dass er aus der Wohnung kam, bevor sie ihm noch etwas hinterherwerfen konnte.

      Jeanne hatte den Teller bereits in der Hand, ließ ihn aber sinken, als die Tür sich schloss. Für diesen Trottel war ihr das Geschirr zu schade. Ihre rechte Hand legte das Wurfobjekt zurück, während sich die Verkrampfung ihrer Linken langsam löste. Sie lehnte sich gegen die Küchenzeile und schloss die Augen. Was war in letzter Zeit nur mit ihrem Mann los? Schusselig war er ja schon immer gewesen, aber es schien, als würde sich…

       Vor Jeannes Gesicht begann etwas zu klingeln.