Petra Gugel

Sirrah


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fand Mizar in der Krone eines Apfelbaumes, der unter dem zusätzlichen Gewicht bedenklich ächzte.

      „Guten Morgen, Sirrah!“ Mizar kletterte behände die Leiter hinunter. „Die sind beinahe reif. Wir sollten unbedingt mit dem Pflücken anfangen!“

      Eile war geboten, damit das Obst nicht an den Bäumen verdarb. Folglich zeigte sich Mizar sichtlich erleichtert über die zu erwartende Hilfe. „Das ist überhaupt kein Problem. Die Erntehelfer können bei mir in der Küche schlafen. Um die Baumrüttler soll sich Tihal kümmern. Sagst du ihm das bitte? Ich nehme an, er ist noch im Haus.“

      „Klar, mach ich!“

      Als Sirrah zu Mizars Haus kam, hörte sie Tihal durch das offene Fenster eine fröhliche Melodie pfeifen. Sie trat ein, und Tihal strahlte sie überrascht an. „So früh habe ich dich gar nicht erwartet!“

      Er nahm ihre Hand und blickte ihr tief in die Augen. „Weißt du noch, was du mir gestern versprochen hast?“

      Sirrah spielte die Ahnungslose. „Was denn?“

      „Du schuldest mir noch einen Kuss!“

      „Den können wir nachholen!“ Sirrah zog Tihals Gesicht zu sich heran. Tief in ihrem Inneren versetzte ihr etwas einen Stich. Der Sturm ihrer Begeisterung verkam zu einem lauen Lüftchen. Wie sollte sie ihm nur erklären, dass sie bald von hier wegging?

      „Jetzt hast du mich total durcheinander gebracht“, sagte Sirrah. „Eigentlich sollte ich dir ausrichten, dass du nach den Baumrüttlern sehen sollst, weil morgen die Erntehelfer anrücken!“

      „Das ist wohl mein Glückstag heute! Wenn wir nicht wieder alles alleine machen müssen, haben wir zwei viel mehr Zeit für uns!“ Tihal schnappte sich seine Provianttasche. „Ich fange gleich an. Hilfst du mir dabei?“

      „Warum nicht?“ Sirrah hatte schon oft mit diesen Maschinen gearbeitet und wusste, was zu tun war: Batterien aufladen, Antriebsketten nachziehen und Auffangnetze ausbessern.

      Tihals gute Laune war ansteckend. Schon auf dem Weg zur Maschinenhalle alberte Sirrah übermütig herum. Die Frage, wie sie Tihal die Sache mit der Akademie beibringen sollte, verbannte sie in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins.

      „Weißt du, wo die Auffangnetze geblieben sind?“, fragte Sirrah.

      „Warte, ich hole sie!“ Tihal verschwand hinter einem Regal und tauchte mit einem bunten Durcheinander auf dem Arm wieder auf. Lachend wickelte er Sirrah in eines der Netze. Wie durch Zufall berührten sich ihre Lippen.

      „So werden wir nie fertig!“, stellte sie fest. Und tatsächlich dauerte es den ganzen Nachmittag, bis sämtliche Arbeiten erledigt waren.

      „Was machst du heute Abend?“, fragte Tihal. „Kommst du auf einen Sprung zu mir rüber?“

      „Wir könnten uns auch am Teich treffen“, schlug Sirrah vor.

      „Gute Idee!“ Tihal grinste über das ganze Gesicht.

      Sirrah konnte ihm ansehen, wie sehr er sich auf einen romantischen Abend freute. Ich muss es ihm sagen, dachte sie.

      Zu Hause bereiteten Menkar und Arneb die Verpflegung für die Erntehelfer vor. Arneb saß hinter einem Berg von Hülsenfrüchten und löste mit verbissenem Gesichtsausdruck die Bohnen aus den Schoten.

      Sirrah rümpfte die Nase. „Ich hoffe, die gibt’s nicht zum Abendessen!“

      Arneb warf eine Schote nach ihr. „Kannst ja selber kochen, wenn’s dir nicht passt!“

      „Die gibt es morgen, wenn die Erntehelfer kommen“, erklärte Menkar. „Heute gibt es gefüllte Teigtaschen. Die isst du doch gern!“

      Beim Abendessen verputzte Sirrah den Inhalt ihres Tellers mit rasantem Tempo.

      Adhara zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Hast du Angst, dass dir jemand etwas wegisst?“

      „Ich will nachher noch mal raus!“

      „Triffst du dich mit Tihal?“

      Sirrah stopfte die letzte Teigtasche in ihren Mund. „Mhm!“

      „Vielleicht findest doch einen Grund, hier zu bleiben“, sagte Adhara lächelnd. „Lass es nicht so spät werden. Du musst morgen früh raus!“

      „Ja, ich weiß schon.“ Sirrah stellte den Teller auf die Anrichte und machte sich auf den Weg.

      Tihal erwartete sie bereits. Sie ertappte ihn dabei, wie er kleine Steinchen ins Wasser warf und die Wellenringe betrachtete, die sich auf der Oberfläche ausbreiteten. Sie reflektierten die letzten Sonnenstrahlen und ließen den Teich funkeln wie einen Diamanten.

      Als Tihal Sirrahs Schritte hörte, drehte er sich zu ihr herum. Ein glückseliges Grinsen erhellte sein Gesicht.

      Erneut beschloss Sirrah, ihr Geständnis noch ein wenig hinauszuschieben. Dies war eindeutig nicht der richtige Moment für schlechte Nachrichten.

      Sirrah setzte sich zu Tihal auf den Steg. Sie fühlte seine Wärme, spürte den Hauch seiner Atemzüge und roch den frischen Duft von Mizars selbstgemachter Kräuterseife.

      Plötzlich überkam sie ein ungeahntes Verlangen. Konnte Küssen womöglich süchtig machen? Zärtlich, aber bestimmt, zog sie ihn an sich. Als sie seine Lippen auf ihren spürte, wünschte Sirrah, den Fluss der Zeit für eine Weile anhalten zu können. Warum erfand eigentlich niemand eine Zeitmaschine, mit der man Unliebsames einfach überspringen und gleichzeitig zu den schönsten Erlebnissen in der Vergangenheit zurückkehren konnte?

      Während die beiden Sonnen hinter den Bäumen verschwanden, kuschelte sich Sirrah in Tihals Arme. Beide sahen dem Farbenspiel des Abendhimmels zu, auf dem sich hinter einer einsamen Wolke das flammende Orange langsam in ein fahles Violett und schließlich in ein dunkles Nachtblau verwandelte. Die ersten Sterne zeigten sich. Zuerst glommen nur einige verstreute Pünktchen, doch nach einiger Zeit überzog eine strahlende Galerie den gesamten Nachthimmel.

      Sirrah erinnerte sich an die Geschichten, die Mizar über die Sternbilder erzählt hatte, als sie und Tihal noch Kinder waren. „Wer wohl auf den Planeten wohnt, die zu diesen Sternen gehören?“, fragte sie.

      „Mit Sicherheit niemand, der so sehr verliebt ist wie ich“, flüsterte Tihal. „Du hast mir mein Herz gestohlen! Damit du das nicht vergisst, möchte ich dir etwas geben, das dich immer daran erinnert!“

      Er drückte Sirrah einen kleinen, in ein buntes Stückchen Stoff gewickelten Gegenstand in die Hand. Als sie den Stoff auseinanderfaltete, kam ein glänzender, beinahe vollkommen wie ein Herz geformter Stein zum Vorschein.

      „Danke!“ Sirrah war überrascht. Mit einem Geschenk hatte sie nicht gerechnet.

      Sanft strich sie über die glatte Oberfläche des Steines. Er war so dunkel wie Tihals Augen, die sich unübersehbar von denen aller anderen Bewohner dieses Planeten unterschieden. War an den Gerüchten doch etwas Wahres? „Weißt du, was mich schon immer interessiert hat? Ich meine, du siehst deinem Vater unheimlich ähnlich. Nur deine Augenfarbe ist vollkommen anders. Hast du sie von deiner Mutter geerbt?“

      Tihal zögerte ein wenig mit seiner Antwort. „Leider kann ich mich nicht an sie erinnern. Ich war noch sehr klein, als sie starb. Mein Vater hat aber eine Aufzeichnung von ihr. Auf den Bildern hat sie genauso dunkle Augen wie ich.“ Er lächelte Sirrah unergründlich an. „Deine grünen finde ich allerdings viel schöner!“

      Er lieferte keine weitere Erklärung. Und wenn schon, dachte Sirrah. Irgendwann würde sie es schon herausfinden. Inzwischen war es spät geworden. Sie musste sich verabschieden.

      „Ich hasse es, wenn du nach Hause gehst“, seufzte Tihal. „Jetzt liege ich wieder die halbe Nacht wach und komme um vor Sehnsucht!“

      Sirrah schnitt eine Grimasse. „Mit deiner Dramatik könntest du glatt zum Theater gehen!“

      „Keine schlechte Idee!“ sagte Tihal grinsend. „Die Damen würden mir zu Füßen