Petra Gugel

Sirrah


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Isas Wangen. „Arneb ist wirklich sehr nett, du verstehst ihn bloß nicht!“

      „Eben, wie könnte ich das auch beurteilen. Ich bin ja nur seine Schwester!“

      Isa gab auf. Für Sirrah würde Arneb stets der nervende Bruder bleiben, der nur zum Aufräumen und Putzen taugte.

      Für weitere Diskussionen über Arnebs Vorzüge blieb keine Zeit mehr. Der Zug näherte sich der Haltestelle, bremste ab und kam zum Stillstand. Die Türen öffneten sich mit einem leisen Zischen. Die beiden Freundinnen stiegen aus und sprangen den Bahndamm hinunter.

      Dort, wo der staubige Trampelpfad in einen von hohen Alleebäumen gesäumten Weg mündete, begann das Land von Sirrahs Mutter. Ein goldgelbes Ährenmeer erstreckte sich linker und rechter Hand des Weges und wogte sanft im Wind. Im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte Sirrah dem Anblick jedoch nichts Idyllisches abgewinnen. Für sie bedeutete er lediglich eine Menge Arbeit.

      Sirrah kniff die Augen zusammen. Hatte sich im Feld nicht soeben etwas bewegt? Tatsächlich, aus dem Kornfeld lugten mehrere Paare hellbrauner Öhrchen heraus. Sie gehörten einer Kolonie Pfeifhasen, die sich über das reife Korn hermachte. Der selbst gebastelte Raubvogel, der an einer Stange über dem Feld baumelte, schien die kleinen Nager nicht besonders zu beeindrucken. Erst als Sirrah laut in die Hände klatschte, stießen die Tierchen einen hohen Pfeifton aus und flitzen in ihre Erdlöcher.

      Am Ende der Allee erhob sich ein zweistöckiges Gebäude. Das Licht der tief stehenden Sonnen spiegelte sich in den hohen Fenstern und ließ die Sonnenkollektoren auf dem Dach wie Insektenflügel schillern. Dass die Fassade dringend einen neuen Anstrich benötigte, nahm Sirrah schon gar nicht mehr wahr.

      „Klopf dir den Staub ab und zieh die Schuhe aus“, ermahnte Sirrah ihre Freundin, als sie das Wohnhaus erreichten. „Sonst nörgelt mein Vater wieder, weil er ständig putzen muss!“

      Sirrah öffnete die Tür. Im Gegensatz zu Isa, die ihre Sandalen ordentlich beiseite stellte, ließ Sirrah ihre Schuhe mitten im Flur zu Boden fallen.

      Als sie das Wohnzimmer betrat, fiel ihr auf, dass der Tisch noch nicht gedeckt war. Seltsam, eigentlich müsste es doch bald Abendessen geben!

      Wo waren denn alle? Sirrah spähte durch die Glasfront auf der Westseite. Niemand war zu sehen, weder auf der Terrasse noch im Garten. Nur von der Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte, wummerte laute Musik herunter. Also war Arneb zu Hause.

      Sirrahs Blick fiel auf seine Bilder. An der Wand hinter dem Esstisch klebte eine Reihe von Zeichnungen, auf denen Arneb sämtliche Familienmitglieder verewigt hatte: Ihren Vater Menkar, der auf einem Portrait bestanden hatte, weil er nicht stundenlang den Bauch einziehen wollte. Ihre Mutter Adhara, die ihre markante Adlernase auch auf dem Papier mit Stolz und Würde trug. Sein Selbstbildnis hatte Arneb ein wenig geschönt. Sirrah wusste, dass er den von Adhara geerbten Zinken hasste.

      Sie selbst störte sich an dieser Mitgift ebenso wenig wie an der Tatsache, dass sich ihr langes Haar nie zu einer ordentlichen Frisur bändigen ließ. An die Frage, ob andere sie hübsch fanden, verschwendete Sirrah keine Gedanken. Solche Unsicherheiten plagten nur das männliche Geschlecht.

      Sirrahs Magen knurrte. „Hallo, ist jemand zu Hause?“, rief sie.

      „Hier bin ich!“ Das runde Gesicht ihres Vaters erschien in der Durchreiche zur Küche. Seine Wangen waren gerötet, und sein spärliches Blondhaar probte den Aufstand. „Ihr kommt gerade rechtzeitig, das Abendessen ist gleich fertig. Könntest du Arneb sagen, dass er endlich den Tisch decken soll? Dieser Faulpelz hat sich schon wieder verkrümelt!“

      „Ich mach das schon!“, rief Isa und sauste die Treppe hinauf.

      „Was gibt’s eigentlich zum Essen?“ Sirrah guckte in die Küche. Die Kochexperimente ihres Vaters waren immer für eine Überraschung gut. Sie erinnerte sich an das geschmorte Gemüse, das er an Adharas Geburtstag serviert hatte. Die brennend scharfe Soße hatte ihr und der gesamten Verwandtschaft die Tränen in die Augen getrieben.

      Menkar wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und begrüßte Sirrah mit einem Lächeln. „Ich hoffe, du hast Appetit auf Gemüseauflauf!“

      Sirrah atmete auf. Auflauf gehörte zu den Gerichten, die ihr Vater hervorragend hinbekam. Als er die Ofentür öffnete, stieg Sirrah ein verführerischer Duft in die Nase. Sie spülte sich im Küchenwaschbecken den Staub von den Fingern und schnappte sich einen Löffel. Während sie ein Stück Frühlingsrübe aus dem Auflauf fischte, betraten Isa und Arneb die Küche. Isas Wangen glühten, und Arnebs Gesicht zierte ein glückliches Lächeln.

      „Was treibst du nur so lange da oben?“, schimpfte Menkar. „Vor einer halben Ewigkeit habe ich dich gebeten, den Tisch zu decken!“

      „Wieso kann Sirrah das nicht mal machen?“

      „Weil dasch Jungscharbeit ischt“, nuschelte Sirrah mit vollem Mund.

      Arneb holte Geschirr und Getränke aus der Küche und trug sie ins Wohnzimmer. Menkar stellte den dampfenden Auflauf auf den Tisch und häufte jedem eine große Portion auf den Teller. „Lasst es euch schmecken!“

      Sirrah ließ sich auf einen Stuhl fallen und schob sich einen Löffel Auflauf in den Mund. "Mmh, lecker!“

      Arneb zog die Augenbraue hoch. „Man hört’s!“

      „Klappe“, murmelte Sirrah und spülte den Bissen mit einem Schluck Obstsaft hinunter.

      „Könnt ihr nicht einmal aufhören mit dem Gezänk?“ Menkar schüttelte den Kopf. „Sirrah, wie war eigentlich dein letzter Schultag?“

      „Langweilig.“ Die Schule war das Letzte, worüber sie sich unterhalten wollte. „Wo ist Mutter eigentlich?“

      „Wenn du mir hin und wieder zuhören würdest, wüsstest du es. Ich habe dir schon mindestens dreimal erzählt, dass sie auf diesem Landwirtschaftstreffen ist.“ Menkar nahm sich noch eine Portion Auflauf. „Hättest du etwas von ihr gebraucht?“

      „Ich wollte sie noch einmal wegen der Akademie fragen!“

      Arneb verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder!“

      Sirrah schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln. Sie ahnte, was ihn wirklich wurmte: Dass seine eigene Zukunft nie zur Debatte stand.

      „Isa, was machst du eigentlich nach der Prüfung?“, fragte Arneb.

      „Ich gehe auf die Kunsthochschule“, antwortete Isa. „Gestern habe ich die Zusage bekommen.“

      Arnebs Gesicht bekam einen wehmütigen Ausdruck. „Ich habe letzte Woche etwas Neues gezeichnet. Möchtest du es dir ansehen?“

      „Gerne!“ Wieder hatte Isa diese leichte Röte im Gesicht. Sirrah kicherte, als die beiden nach oben verschwanden.

      Menkar sah seine Tochter fragend an. „Weißt du etwas, das ich nicht weiß?“

      „Ich glaube nicht, dass du schon ein Rezept für die Hochzeitstorte brauchst“, antwortete Sirrah. „Übrigens, wann kommt Mutter eigentlich wieder?“

      „Wenn der Zug pünktlich ist, morgen Mittag.“

      Sirrah zog einen Flunsch. „Nie ist sie da, wenn man sie mal braucht!“

      „Du weißt, dass sie viel Arbeit hat!“ Eine steile Falte bildete sich auf Menkars Stirn. „Dieser Tatsache verdanken wir unser sorgenfreies Leben. Nicht alle haben so viel Glück. Denk nur einmal an Mizar!“

      Sirrah kannte das. Bei solchen Diskussionen musste immer Mizar als mahnendes Beispiel herhalten. Schon oft hatte ihr Vater erzählt, wie verzweifelt Mizar ausgesehen hatte, als er vor fünfzehn Jahren hier aufgetaucht war. Ein Witwer ohne Ausbildung, der ein kleines Kind zu versorgen hatte. Adhara gab ihm trotzdem Arbeit, und seitdem bewohnte er zusammen mit seinem Sohn Tihal ein kleines Haus in der Obstplantage.

      Inzwischen war Tihal genauso alt wie Arneb, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Tihal war anders als alle Jungs, die Sirrah kannte. Weder kümmerte er sich um Benimmregeln, noch interessierte