Petra Gugel

Sirrah


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dass es ihn und seinen Vater in diese abgelegene Gegend verschlagen hatte, erschien ihr seltsam. Wer zog schon freiwillig in diese Einöde?

      2. Alte Bekannte

      Es war fast Mittag, als Adhara nach Hause kam. Sie trug einen ihrer dunklen Hosenanzüge für offizielle Anlässe und zog einen rumpelnden Rollkoffer hinter sich her. Er hinterließ eine deutlich sichtbare Schmutzspur auf den frisch geputzten Bodenfliesen. Menkar lächelte seine Frau nachsichtig an, bevor er mit einem leisen Seufzer einen Putzlappen holte.

      Adhara küsste ihn zur Begrüßung auf die Wange. Dann nickte sie den Mädchen zu, die soeben ihr verspätetes Frühstück beendet hatten. „Na, wie geht’s euch?“

      „Bestens!“ Sirrah grinste. „Wir haben uns gestern mit Musik und Süßkram einen schönen Abend gemacht!“

      „Da hattet ihr eindeutig mehr Spaß als ich!“ Adhara, der man ihre fünfzig Jahre sonst nicht ansah, wirkte heute müde und gestresst. Auch die grauen Strähnen in ihrem braunen Haar schienen ein wenig zahlreicher geworden zu sein.

      „Was gibt es Neues?“, fragte Menkar.

      „Nicht viel, außer dass man im Norden den Anbau einer neuen Getreidesorte ausprobiert hat. Hauptsächlich wurde über diese Unruhen gesprochen, die es neulich in der Hauptstadt gegeben hat.“

      „Hast du inzwischen noch einmal darüber nachgedacht?“, fragte Sirrah. „Die halten mir den Platz auf der Akademie nicht ewig frei!“

      „Ich bin doch gerade erst angekommen“, stöhnte Adhara. „Lass uns später darüber reden. Aber du könntest etwas für mich erledigen.“ Sie drückte Sirrah einen prall gefüllten Stoffbeutel in die Hand. „Ich werde die neue Getreidesorte testen. Möchtest du nicht mit Isa einen Spaziergang machen und das Saatgut Mizar geben? Er soll es auf dem kleinen Feld aussäen.“

      Sirrah schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Warum hatte ihre Mutter nicht wenigstens ein bisschen Verständnis für sie? Das dämliche Grünzeug war anscheinend alles, was ihr wichtig war.

      Lustlos stopfte Sirrah die Getreidekörner in ihre Umhängetasche und machte sich mit Isa auf den Weg. Sie nahmen die Abkürzung durch den Garten, am Gewächshaus vorbei und über das angrenzende Rübenfeld. Dahinter standen in ordentlichen Reihen die Obstbäume, inmitten derer Mizar sein kleines Haus bewohnte.

      „Kannst du dich eigentlich noch an Tihal erinnern?“, fragte Sirrah ihre Freundin, während sie über das Rübenfeld stapften.

      „Klar. Das ist doch dieser schmächtige Junge, mit dem wir früher manchmal Pi-Tzi-Ball gespielt haben!“

      Schmächtiger Junge? Sirrah lächelte in sich hinein. Isa würde sich wundern!

      Fünf Minuten später erreichten die Mädchen Mizars Häuschen, dessen weiß getünchte Wände zwischen den Apfelbäumen hervorleuchteten. Es bestand aus drei Zimmern: Einer großen Wohnküche im Erdgeschoss und zwei kleineren Räumen im Obergeschoss, zwischen die noch ein winziges Badezimmer hineingequetscht war. Um etwas zusätzlichen Platz zu schaffen, hatte Mizar vor einigen Jahren eine überdachte Veranda angebaut, die mittlerweile von einer blühenden Kletterpflanze überwuchert war.

      Die Tür stand offen, und die Mädchen traten ein. Nach dem blendenden Sonnenschein draußen konnten sie in dem dämmrigen Raum kaum etwas sehen. Doch Mizars Wohnküche hätte Sirrah sogar in völliger Dunkelheit erkannt. Der intensive Duft nach Kräutern und Gewürzen war unverwechselbar, die milde Süße getrockneter Apfelblüten vermischte sich mit dem würzigen Aroma wilden Pfeffers.

      Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel, und die Einrichtungsgegenstände nahmen Gestalt an: Eine altmodische Küchenzeile, ein schlichter Holztisch mit vier unterschiedlichen Stühlen und eine große Regalwand. Die Dosen und Schachteln, die sich auf den Brettern stapelten, waren mit getrockneten Kräutern, Wurzeln und Rinden verschiedenster Arten gefüllt. Mizar kurierte damit alle möglichen Krankheiten. Sirrah konnte sich nicht erinnern, dass er oder sein Sohn jemals eine Arztpraxis aufgesucht hätte. Sie fand es ein wenig seltsam, dass sich die beiden so konsequent von sämtlichen öffentlichen Einrichtungen fernhielten.

      Sirrah mochte dieses Haus. So hatte sie sich als Kind die Häuser der Zauberer und Feen aus ihren Märchen vorgestellt. Mizar hatte jedoch nichts mit einem unheimlichen Magier gemeinsam. Er war ein kräftiger Mann und von der ständigen Arbeit im Freien so braun gebrannt, dass seine Haut beinahe dieselbe dunkle Farbe wie das Holz der Obstbäume hatte. Die hellen Haare auf seinem Kopf wurden zu seinem Leidwesen jedes Jahr weniger, seine blauen Augen blitzten jedoch noch immer so jugendlich wie früher.

      Als Mizar die Mädchen rufen hörte, kam er von der Veranda herein und lächelte sie freundlich an. „Kann ich euch etwas anbieten?“

      „Eigentlich haben wir gerade erst gefrühstückt.“ Sirrah gab ihm den Beutel mit den Getreidekörnern. „Meine Mutter schickt mich. Du sollst das Saatgut auf dem kleinen Feld aussäen.“

      „Mach ich“, versicherte Mizar. „Ihr könnt aber doch nicht schon wieder gehen. Trinkt wenigstens eine Tasse Tee mit mir. Ein alter Knabe wie ich bekommt ja leider nicht so oft Besuch von jungen Damen!“

      Er holte eine grüne Kanne und dazu Tassen in verschiedenen anderen Farben. Sirrah unterdrückte ein Grinsen. Ihr Vater hätte niemals ein solches Durcheinander auf dem Tisch geduldet.

      Mizar schienen solche Details nicht zu stören. Er goss den dampfenden Kräutertee ein und stellte eine Schale mit Gebäck auf den Tisch. Die Mädchen setzten sich auf die Holzstühle, die genauso wenig zueinander passten wie die Tassen, und tranken den aromatischen Kräutertee. Dazu knabberten sie die knusprigen Kekse, die nach einem Hauch Minze schmeckten.

      Die Mittagshitze trieb auch Tihal nach Hause. Er hatte kein Hemd an und stapfte, nur mit einer ausgefransten Hose und einem Paar abgetragener Schuhe bekleidet, in die Küche. Schwungvoll wuchtete er einen riesigen Korb voller Äpfel auf die Anrichte.

      Isa starrte ihn überrascht an. Aus dem schlaksigen Jungen, der Unmengen von Essen verputzen konnte und doch nie zuzunehmen schien, war ein gut aussehender junger Mann geworden. Er hatte von der Feldarbeit kräftige Muskeln bekommen und war ebenso groß und sonnengebräunt wie sein Vater. Nur die strahlend blaue Augenfarbe hatte er nicht von ihm geerbt. Tihals mandelförmige Augen waren genauso dunkel wie sein tintenschwarzes Haar. Es schien, als würden seine Augen das einfallende Licht geradezu verschlucken.

      „Sieh an, wir haben Besuch! Einen schönen guten Tag, die Damen“, begrüßte Tihal die Freundinnen.

      „Hallo, Tihal“, sagte Isa lahm. Sie verschluckte sich an ihrem Kräutertee, und ein feines Rinnsal lief über ihr Kinn.

      „Isa, mach den Mund wieder zu! Du wirst Arneb doch nicht untreu werden“, stichelte Sirrah. Irgendetwas an Isas Gesichtsausdruck störte sie.

      „Eifersüchtig?“ Tihal grinste Sirrah herausfordernd an. „Bevor ich die Damen noch restlos verwirre, hole ich mir lieber etwas zum Anziehen!“

      „Bilde dir bloß nichts ein!“, rief Sirrah ihm hinterher.

      Zweifellos fehlte es ihm nicht nur an Erziehung, sondern auch an Bescheidenheit.

      „Was sich neckt, das liebt sich, heißt es immer“, sagte Mizar zu Isa. „Wenn das stimmt, dann hat es Sirrah schlimm erwischt. Einmal hat sie sogar Juckkäfer in Tihals Bett versteckt.“

      Isa gluckste vor Vergnügen.

      „Da war ich erst zehn!“ Sirrah verzog das Gesicht. Musste Mizar unbedingt diese uralte Geschichte aufwärmen? „Außerdem hat er beim Pi-Tzi-Spielen geschummelt, da ist Rache erlaubt!“

      „Ist doch gar nicht wahr!“ Tihal kam in einem frischen Hemd die Treppe herunter. „Die Einzige, die dabei immer mogelt, bist du!“

      „Du kannst es nur nicht ertragen, dass ich besser spiele als du!“

      „Ich stehe jederzeit zur Verfügung! Dann kannst du beweisen, dass du auch ohne Schummeln gewinnst!“