Petra Gugel

Sirrah


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diesen Kerl in seine Schranken weisen. Im nächsten Moment bereute es Sirrah, dass sie sich zu dieser Dummheit hatte hinreißen lassen. Sie nahm sich vor, mit Arneb zu trainieren. Gegen Tihal ein Pi-Tzi-Spiel zu verlieren wäre eine zu große Blamage.

      „Darf ich zusehen?“, fragte Isa.

      Das fehlte gerade noch. „Wir müssen leider los!“ Sirrah stand auf und zog ihre Freundin vom Stuhl.

      „Warte, ich gebe dir noch einige von den neuen Äpfeln für deine Mutter mit“, sagte Mizar. „Aber esst sie unterwegs nicht alle auf!“

      „Ich bin doch nicht Tihal und denke den ganzen Tag nur ans Essen!“

      „Stell dir vor, ich denke hin und wieder auch an etwas anderes!“

      „Kümmere du dich um deine Obstbäume und überlasse das Denken den Frauen!“

      „Jetzt hört schon auf, ihr beiden!“ Mizar gab Sirrah einige Äpfel, die sie in ihrer Tasche verschwinden ließ. „Sag deiner Mutter einen schönen Gruß von mir!“

      Sirrah nickte und machte sich mit Isa auf den Weg. Da sie es nicht wirklich eilig hatten, unternahmen sie noch einen Spaziergang durch das Wäldchen hinter der Obstplantage. Es war ein Überbleibsel der endlosen Wälder, die sich einst über die gesamte Tiefebene erstreckt hatten. Die Stämme der Urwaldriesen wirkten wie die Säulen einer Kathedrale, deren Gewölbe aus armdicken Ästen und einem undurchdringlichen Blättergewirr bestand. Die Flechten, die wie wirres Haar von den Ästen hingen, verliehen dem Wald ein verwunschenes Aussehen.

      Früher hatte Sirrah ihn deshalb ein wenig unheimlich gefunden. Doch gerade die Hoffnung, dass sich womöglich etwas Gruseliges darin verbergen mochte, hatte sie immer wieder hinein gelockt. Hier draußen war es für sie der einzige Ort, der ein wenig Spannung verhieß.

      Sirrah kannte einen schmalen Pfad, der sich zwischen den Farnbüscheln hindurchwand. Unter dem schützenden Blätterdach war es kühler als auf den schattenlosen Feldern, und es roch angenehm nach Moos und Pilzen.

      Der Weg führte an einem Teich vorbei, dessen glitzernde Oberfläche zu einem Bad einlud. Die beiden Mädchen beschlossen, eine Rast zu machen und den Geschmack der Äpfel zu testen. Sie setzten sich auf den hölzernen Steg und tauchten die Zehen ins kalte Wasser.

      Genüsslich biss Isa in das saftige Fruchtfleisch. „Also, Tihal hat mit dem dünnen Kerlchen, das er früher einmal war, ja nicht mehr viel gemeinsam“, stellte sie kauend fest.

      „Das habe ich gemerkt, dir sind ja beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen!“

      „Na und? Bist du etwa doch eifersüchtig?“

      „Du spinnst ja. Diese Nervensäge hat mir gerade noch gefehlt!“

      „Warum reagierst du dann so komisch?“

      „Ich bin gar nicht komisch! Ich will nur nicht über ihn reden, er geht mir sowieso schon ständig auf den Keks. Er ist so, ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie anders als Jungs sein sollten.“ Sirrah wusste nicht, wie sie es Isa erklären sollte. „Liegt vielleicht daran, dass er nicht ganz so ist wie wir.“

      „Wie, nicht wie wir?“

      „Na ja, es gibt da so ein Gerücht.“

      Isa wurde hellhörig. „Was für ein Gerücht?“

      „Mein Vater hat es von einem Nachbarn gehört, und der weiß es wiederum von seinem Schwager.“

      „Lass dir doch nicht alles aus der Nas ziehen!“

      „Das ist wirklich eine schräge Geschichte. Angeblich ist vor einem halben Jahrhundert ein Raumschiff aus Nardo hier in der Nähe abgestürzt. Nur ein Besatzungsmitglied hat überlebt, und in den Mann soll sich Tihals Großmutter verliebt haben. Wenn das stimmt, dann haben wir die Erklärung für die schwarzen Haare und die dunklen Augen.“

      „Du solltest unbedingt herausfinden, ob an der Geschichte was dran ist!“

      Sirrah seufzte. Hätte sie bloß nichts gesagt.

      „Jetzt müssen wir aber wirklich los!“ Isa warf ihren Apfelbutzen ins Gebüsch und zog ihre Schuhe an.

      Sirrah zog es vor, barfuß zu gehen. Sie hatte fast vergessen, wie gut sich das anfühlte. Der Waldboden war angenehm kühl unter den Füßen und federte bei jedem Schritt ein wenig nach.

      Nachdem sich Isa kichernd und flüsternd von Arneb verabschiedet hatte, begleitete Sirrah ihre Freundin noch bis zur Haltestelle.

      „Melde dich bald wieder bei mir. Ohne dich ist es hier todlangweilig!“

      „Also, mir wäre an deiner Stelle ganz sicher nicht langweilig!“ Isa stieg in ihr Abteil und sah grinsend aus dem Fenster.

      Sirrah winkte ihr nach, bis der Zug verschwunden war. Nachdenklich stand sie am Bahnsteig. Wie kam Isa nur darauf, dass sie eifersüchtig sei? So ein Blödsinn! Und überhaupt, wenn ihre Mutter ihr erlaubte, auf die Akademie zu gehen, dann wären solche Dinge ohnehin nicht mehr wichtig.

      3. Ferien

      Am frühen Morgen klapperte Arneb lautstark mit dem Frühstücksgeschirr. Sirrah vergrub den Kopf unter dem Kissen. Aus ihrem wichtigsten Vorhaben für die Ferien, morgens lange zu schlafen, schien nichts zu werden. Mürrisch tappte sie ins Badezimmer und gönnte sich eine ausgiebige Dusche. Als sie in ihren Wohlfühlklamotten die Wendeltreppe hinunterschlurfte, waren Menkar und Arneb mit dem Frühstück längst fertig.

      Menkar goss seiner Tochter eine Tasse Tee ein und legte ihr ein Stück Obstkuchen auf den Teller. „Guten Morgen, du Langschläfer!“, begrüßte er sie fröhlich.

      Wie man am frühen Morgen schon so gut gelaunt sein konnte, war Sirrah rätselhaft. „Von wegen Langschläfer. Ihr habt einen solchen Radau veranstaltet, der würde sogar einen Toten aufwecken!“

      Arneb schnitt eine Grimasse. „Entschuldigung, dass du dich durch unsere Arbeit belästigt fühlst!“

      Sirrah biss lustlos in ihren Kuchen. Sie hasste Gebäck vom Vortag. Die Früchte waren matschig und der Teigboden durchgeweicht.

      „Übrigens, eure Mutter hat eine wichtige Aufgabe für dich und Arneb“, erklärte Menkar. „Die Gemüsepflanzen im Gewächshaus sind von Fliegenraupen befallen. Dagegen muss dringend etwas unternommen werden. Also beeil dich mit dem Frühstück, die Raubkäfer warten schon!“

      Sirrah verzog das Gesicht. Sicher, die einfachste Methode der Schädlingsbekämpfung war, die Schmarotzer von ihren natürlichen Feinden beseitigen zu lassen. Trotzdem fand sie es grausam. Die Raubkäfer legten ihre Eier in die Fliegenraupen, und wenn die Käferlarve schlüpfte, fraß sie ihren Wirt bei lebendigem Leib auf. So elend sollte niemand zu Grunde gehen, nicht einmal ein Pflanzenschädling.

      Sirrah war der Appetit vergangen. Sie ließ den Kuchen liegen und schob den Teller beiseite.

      „Schon fertig? Dann könnt ihr ja gleich loslegen!“, stellte Menkar ungerührt fest. Er gab Sirrah und Arneb je einen Korb voller durchsichtiger Behälter, in denen es von schwarzen Käfern nur so wimmelte.

      Seufzend machte sich Sirrah auf den Weg. Sie öffnete die Tür des Gewächshauses und stöhnte, als sie die schier endlosen Pflanzenreihen erblickte. Wahrscheinlich würde es den halben Tag dauern, die Raubkäfer zu verteilen.

      Draußen rumpelte der Roder über das Rübenfeld. Sirrah sah hinüber. Tihal saß auf dem Fahrersitz und lenkte das lärmende Ungetüm mit einer Hand über die Ackerfurchen. Er trug ein abgetragenes Hemd und dazu eine ausgefranste Hose. Arneb hätte in diesem Aufzug vermutlich nicht einmal den Müll hinausgetragen.

      Als ob er ihren Blick gespürt hätte, drehte sich Tihal herum und lächelte sie an. Die gigantische Staubwolke, die ihn einhüllte, schien er nicht wahrzunehmen.

      Tihal brachte die Erntemaschine vor den Geschwistern zum Stehen. Er ignorierte die Leitersprossen, die zum Hinabsteigen angebracht waren, und sprang mit einem gewandten