Christian Milkus

Der Schatten in mir


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niemals konnte ich mich so den anderen zeigen. Ich suchte meine Taschen ab, fand aber nichts, um die Wunden zu umwickeln. Zu Hause würde ich etwas finden, aber solange meine Mutter noch wach war, wollte ich nicht ins Haus gehen. Vermutlich würde sie dem Fest den ganzen Abend lang fernbleiben, schließlich hasste sie solche Anlässe. Also stand ich trotz der Flecken auf und ging zum Lagerfeuer. Die Kinder saßen in zwei Gruppen direkt vor den Flammen, die Erwachsenen bildeten einen Ring um sie herum.

      Ich setzte mich neben Jorden und verschränkte die Arme dicht am Körper – so würden die Blutflecken hoffentlich niemandem auffallen. Jorden begrüßte mich und schenkte mir ein Lächeln. Sein Gesicht sah so niedlich aus, wenn er lächelte. Ich rückte etwas näher an ihn heran, und zusammen schauten wir den Kindern bei Infernale zu.

      Zwei Mannschaften spielten mit der Kunst des Feuers. Quina zeigte viel Talent, obwohl sie erst neun Jahre zählte. In kurzer Zeit schaffte sie es, den Mond in seiner ganzen Pracht darzustellen. Sie wählte beim ersten Versuch die richtigen Steine, um die Flammen dunkelgelb einzufärben. Dann nahm sie den Feuerstab zur Hand und dirigierte sie. Sie bewegte sich elegant, und die Flammen gehorchten ihr, als wären sie ein Teil von ihr. Erst bewegten sie sich in die eine Richtung, dann in die andere, hoch, runter, vor und zurück – ganz so, wie Quina es wollte. Im richtigen Moment wirbelte sie mit dem Stab, und das Feuer fing an, sich wie eine Kugel zu drehen. Sie tauchte ihre Hand in Glitzerwasser, hielt die Handfläche nach oben und pustete das Wasser in die Lohe. Der obere Teil der Flammen wurde vom unteren abgetrennt, und übrig blieb eine gelbe Feuerkugel, die sich in der Dunkelheit der Nacht drehte.

      »Mond!«, riefen die Kinder in ihrer Mannschaft fast gleichzeitig.

      Es war nicht schwer zu erraten. Die Erwachsenen applaudierten Quina, auch ich klatschte in die Hände. Sie war bereits mit neun Jahren viel besser, als ich es je sein würde.

      Wenigstens die Kinder hatten ihren Spaß. Die Erwachsenen schauten müde aus und schwiegen die meiste Zeit über. Kolen blickte nachdenklich ins Feuer, Carl drehte seinen Kopf ständig zum Wald, und Aminta starrte einfach nur auf den Boden.

      Marilla spielte auf ihrer Laute und begleitete die Kinder während des Spiels. Heute saßen leider keine bunten Vögel auf ihrer Schulter. Normalerweise flogen sofort die schönsten Geschöpfe aus den Baumkronen herbei, wenn Marilla anfing zu spielen. Vielleicht lag es am Klang ihrer Musik, denn heute spielte sie nur langsame Lieder mit tiefen Tönen und traurig klingenden Akkorden.

      Auf der anderen Seite des Feuers saß Yarie und unterhielt sich mit Halem. Die Flammen strahlten sie mit ihren ständig wechselnden Farben an, und wie immer sah sie wunderschön aus. Einige ihrer blonden Haare hingen ihr im Gesicht. Sie gingen ihr fast bis zum Bauchnabel, während meine nur bis zu den Schultern gingen, und ihre Augen leuchteten in viel intensiverem Blau als meine. Wie gerne würde ich mich wieder mit ihr unterhalten, ihren Witzen lauschen und mit ihr durch den Wald spazieren gehen. Aber sie war eine dumme Kuh, die immer alles besser wusste.

      Während der Pause gab es Essen. Serviert wurden gegrilltes Kaninchen und Wildschwein, Erbsensuppe und Apfelkuchen. Dazu gab es roten Wein, mit Kräutern gewürzt und mit Honig gesüßt. Die meisten Bewohner schwiegen auch beim Essen. Nur manche beschwerten sich, für ihre leeren Bäuche und trockenen Kehlen sei zu wenig aufgetischt worden.

      »Selbst als Soldat mitten im Feld hatte ich üppigere Mahlzeiten«, sagte Tarlow. »Saftige Wildschweine, süße Beeren und starken Wein – wir haben gespeist wie die Götter.«

      »Du hast wenigstens nicht so einen großen Bauch wie ich, har!«, sagte Jack. »In meinen Wanst passt eigentlich ein halbes Wildschwein!« Fettreste klebten in seinem Bart, und ich konnte bei diesem Anblick nicht anders, als meine Nase zu rümpfen.

      »Bist wenigstens du satt geworden?«, fragte ich Jorden. Er überragte mich um eine Kopflänge und hatte stets großen Hunger, was man ihm allerdings nicht ansah.

      Er nickte. »Was ist mit dir? Du hast gar nichts gegessen.«

      Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe keinen Hunger.«

      Infernale ging in die zweite Runde, und die Kinder mussten jetzt eine Handlung statt eines Begriffs darstellen – eine weitaus schwierigere Aufgabe.

      »Wo warst du gestern Abend?«, fragte ich Jorden.

      »Im Wirtshaus bei Kolen.«

      »Schon wieder? Dort bist du in letzter Zeit ständig.«

      Er wich meinem Blick aus.

      »Was gefällt dir daran?«, fragte ich. »Hörst du Kolen gerne zu, wie er andere belehrt? Oder Tarlow, wie er mal wieder prahlt, er habe angeblich schon hundert Menschen sein Schwert in den Bauch gerammt?«

      Er zuckte mit den Achseln. »Ich mag Tarlow auch nicht sonderlich. Aber Kolen und Jack sind lustig.«

      »Lustig? Jack ist alles andere als lustig, und wenn ich ihn beobachte, kommt mir die Galle hoch.«

      Jorden sagte nichts dazu.

      »Du bist groß, kräftig und intelligent. Du könntest Arbeit in einer größeren Stadt finden und dir dein eigenes Haus bauen.«

      Wieder wich er meinem Blick aus.

      »Ganz sicher«, sagte ich.

      Keine Antwort.

      »Stattdessen schüttest du dir Bier in den Rachen, zusammen mit den alten, verbitterten Männern. Schau dir Tarlow an: Stoppelbart, fettige Haare, riesige Ringe unter den Augen – er sieht aus, als wäre er hundert Jahre alt.«

      Wieder keine Antwort.

      »Rede mit mir, Jorden!«

      Endlich schaute er mich an. »Wieso stört dich das?«

      »Ich will das eben nicht!«

      Schon sprang sein Blick zurück in Richtung Feuer. Selbst für mich war Jorden immer noch ein Rätsel auf zwei Beinen. Woran dachte er jetzt? Dachte er überhaupt noch über unser Gespräch nach?

      Als Infernale zu Ende ging, wurden die jüngeren Kinder ins Bett geschickt, und auch ein großer Teil der Erwachsenen ging nach Hause. Ich schaute zu unserem Haus. Kein Licht brannte mehr, ich konnte endlich heimgehen. Ich stand auf und wollte mich gerade von Jorden verabschieden, als ich sah, wie er meine Ärmel betrachtete.

      »Du hast dich wieder geschnitten«, sagte er.

      »Nicht schlimm, es tut kaum weh.«

      »Zeig mal her!«

      »Ich sagte doch, es ist nicht schlimm. Die Wunde ist klein und nicht tief.«

      Er sah mir in die Augen.

      »Gute Nacht«, sagte ich und küsste ihn auf die Wange.

      Ich ging in Richtung unseres Hauses, und Jorden folgte mir. »Wieso?«, fragte er. Ein einzelnes Wort. Kein Vorwurf, kein Mitleid – nur Interesse.

      »Nicht wichtig.«

      Wieder ging ich los, wieder kam er hinterher.

      »Wegen deiner Mutter«, sagte er. Keine Frage, sondern eine Feststellung.

      Ich blieb stehen und nickte. »Wir haben uns nicht gestritten. Aber sie hätte mir die hässlichsten Wörter an den Kopf geschmissen, wäre ich vorhin schon nach Hause gegangen.«

      »Es ist immer wegen deiner Mutter.«

      Ich kniff die Augen zusammen. »Nein, das stimmt nicht!«

      »Vielleicht nicht immer, aber sie ist arglistig und gemein. Sie behandelt dich wie einen wilden Hund.«

      »Sprich nicht so über meine Mutter!«

      »Mit jedem ihrer Sätze reißt sie dir einen Teil deiner Seele heraus.«

      »Ich warne dich, Jorden!«, schrie ich. »Lass meine Mutter in Ruhe!«

      Er drehte sich um und schaute zu den Menschen am Lagerfeuer. Sollten sie doch gucken. Sollten sie mich doch schreien hören.

      »Sie