Christian Milkus

Der Schatten in mir


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kam mir schon wieder hinterher. »Warte!«, rief er und packte mich an der Schulter.

      »Fass mich nicht an!«, brüllte ich und zog meine Schulter weg. »Geh mir aus den Augen! Verschwinde aus meinem Leben!«

      Ich rannte los. Diesmal wagte er nicht, mir zu folgen.

      Der Himmel leuchtete grell; nur mit vorgehaltener Hand konnte ich etwas sehen. Was war das? Eine zweite Sonne? Ich kniff die Augen zusammen. Es war keine zweite Sonne, es war ein Kreis. Ein goldener Kreis, der hoch über dem Dorf schwebte und gleißendes Licht ausstrahlte. Zunächst drehte er sich, dann fing er an, sich langsam vom Dorf wegzubewegen. Er flog in Richtung des Waldes, und ich lief ihm hinterher. Wieso flog er davon? Wo wollte er hin? Er wurde schneller und schneller, ich konnte ihm nicht mehr folgen. Wie ein Vogel flog er davon, über die Bäume hinweg und raus aus dem Dorf. Ich konnte ihm nur noch hinterhersehen, wie er immer kleiner wurde, bis er schließlich verschwand.

      Und plötzlich war es dunkel. Was war passiert? Vor mir erkannte ich jemanden.

       Vater, bist du es? Nein, Ihr seid nicht mein Vater. Wer seid Ihr?

      Die Person ging in den Wald hinein, und ich folgte ihr. Ich konnte nur ihre Umrisse erkennen, der Rest war dunkel. Sie sah aus wie ein Schatten, der zum Leben erweckt worden war. Plötzlich lief ein Tier neben ihr. War es ein Schwein, eine Katze, ein Hund? Weitere Tiere tauchten zwischen den Bäumen auf und tapsten neben dem Unbekannten her.

       Seid Ihr ein Hirte? Sind das Eure Schafe?

      Die Schattenfigur lief weiter, anscheinend ohne mich zu bemerken.

       Wohin lauft Ihr?

      Plötzlich sprang eines der Tiere ihm ans Bein und biss zu.

       Passt auf, das Tier greift Euch an!

      Die Person hörte mich nicht. Ich wollte sie warnen, wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Ich wollte zu ihr rennen, wollte das Tier von ihr wegzerren, kam aber keinen Schritt mehr vorwärts.

      Die anderen Tiere sprangen sie jetzt auch an und rissen sie zu Boden. Hilflos musste ich dabei zusehen, wie sie sich über ihre Beute hermachten. Die Gestalt konnte sich nicht wehren, und plötzlich lag sie reglos auf dem Boden. Ihr Körper war übersät mit roten Blutstropfen, die wie rote Rubine auf schwarzem Hintergrund glänzten.

      Kapitel 5 (Kolen)

      Früh am Morgen verließ ich unser Wohnhaus, das ich mit meiner Frau Myla und meinem Sohn Kolosan teilte. Das Wirtshaus stand direkt gegenüber, ich musste nur den Hauptweg des Dorfes überqueren, um vor seiner Tür zu stehen.

      Ich ging die Treppe hoch zu den Gästezimmern und fand sie leer vor – der Fremde war bereits abgereist. Ich war nicht unglücklich darüber, denn so konnte ich mit meiner Familie frühstücken.

      Myla hatte Kräutertee aufgekocht und ich Eier mit Speck, Zwiebeln und Tomaten gebraten. Kolosan schob hastig eine Gabel nach der anderen in den Mund.

      »Iss nicht so schnell!«, ermahnte Myla ihn.

      Kolosan gehorchte, aber nur für eine kurze Weile. Als Myla nicht mehr hinsah, aß er wieder schneller. Er machte erst eine Pause, als ihm etwas Wichtiges einfiel: »Heute Abend ist endlich wieder Lagerfeuer!«

      Ich lachte. »Freust du dich auf Infernale? Das habt ihr diesen Herbst noch gar nicht gespielt.«

      »Oh ja«, sagte er und lächelte. »Ich bin schon viel besser geworden. Beim letzten Mal habe ich aus den Flammen einen Baum geformt, da haben die anderen echt gestaunt!«

      »Das ist toll«, sagte ich, »aber kein Grund, so zu schlingen.«

      »Aber ich muss zur Übungsstunde mit Sir Caster.«

      »Sir Caster würde nicht wollen, dass du mit leerem Magen auftauchst.«

      »Er will aber erst recht nicht, dass wir zu spät kommen. Er ist streng.«

      Myla und ich tauschten Blicke aus.

      »Also gut«, sagte ich, »dann geh und verpass ihm einen Hieb von Kolosan dem Furchtlosen!«

      Kolosan lächelte und stand auf. Ich ging zu ihm und strich mit der Hand durch seine Haare – die hatte er von mir: dünn, weich und von goldblonder Farbe. Am liebsten hätte ich ewig in seinen Haaren gewühlt, aber er zog den Kopf weg und stürmte aus dem Haus.

      »Er verfolgt seine Ziele«, sagte Myla. Sie sagte es nicht als Feststellung, sondern als Vorwurf.

      »Ein Kind sollte wissen, was es will, und hart daran arbeiten«, erwiderte ich.

      »Er ist erst elf Jahre alt. Er weiß noch nicht, worauf er sich einlässt.«

      »Die meisten jungen Männer im Königreich träumen davon, Ritter zu werden. Du solltest ihm diesen Traum nicht nehmen.«

      Sie schüttelte langsam den Kopf. »Weil sie falsche Vorstellungen haben. Sie hören Geschichten von Ruhm und Ehre, und das macht sie blind für alles andere.«

      »Sir Caster erzählt ihm sicher keine Lügen. Wer kann ihn besser vorbereiten als ein ehemaliger Ritter der königlichen Garde?«

      »Er kann ihn vorbereiten, wenn er erwachsen ist.«

      »Man sollte so früh wie möglich als Knappe anheuern, hat Sir Caster gesagt, und als Kind lernt man am schnellsten.«

      »Aber nicht im Alter von zwölf Jahren! Er würde schon nächstes Jahr seinen Beutel packen und das Schwert in die Hand nehmen, wenn wir ihn ließen.«

      »Er hat sich dafür entschieden, Myla.«

      »Und du hast es ihm erlaubt.«

      »Ja, das habe ich. Daher kann ich es auch nicht rückgängig machen. Ein Mann muss seine Versprechen halten.«

      Ihr Blick bekam etwas Lauerndes. »Dein Wirtshaus wird er auch nicht übernehmen.«

      Mylas Worte trafen mich wie ein Pfeil in die Brust. Sie hatte recht, er würde das ›Gerupfte Huhn‹ nicht weiterführen, wenn ich einmal alt wäre, und außer ihm hatte ich keinen Erben. Schlimmer noch, er würde auch die Leitung des Dorfes nicht antreten. Düstere Aussichten für unser wunderbares Schwarzbach.

      Mein Rundgang startete heute bei der Grube, die wir zu einem Brunnen ausbauen wollten. Ronja und ich hatten ausgemacht, heute so lange weiterzugraben, bis wir endlich auf Wasser trafen. An der Grube traf ich sie jedoch nicht an, stattdessen fand ich sie an ihrem Haus, an dessen Dach sie arbeitete.

      »Wir wollten uns an der Grube treffen«, rief ich ihr zu.

      »Ich muss mein Dach reparieren«, sagte sie. »Sind einige Löcher drin.«

      »Der Brunnen muss bald fertig werden, der Winter reitet im Galopp auf uns zu.«

      »Das hat noch Zeit«, sagte sie in abfälligem Ton. »Mein Dach kommt zuerst dran.«

      Ich atmete tief durch. »Ronja, uns mag weniger Zeit bleiben, als wir denken. Der Frost kann über Nacht kommen, und wenn er den Bach in Eis verwandelt, wird das Wasser knapp. Das Problem sucht uns jeden Winter heim.«

      »Geh und erzähl das den Eichhörnchen, ich habe zu tun!«

      »Du bist unsere Handwerkerin, wir brauchen dich!«

      Ronja warf ihren Hammer mit voller Kraft zu Boden. Er schlug mit einem dumpfen Geräusch auf und bohrte sich ein beachtliches Stück ins feuchte Erdreich. Ronja kletterte die Leiter hinab, kam mit großen Schritten heran und stellte sich vor mich hin, näher, als mir lieb war. Sie war die größte Bewohnerin des Dorfes und überragte mich um eine ganze Kopflänge, außerdem war sie doppelt so breit wie andere Frauen und hatte Arme so dick wie meine Beine.