Christian Milkus

Der Schatten in mir


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riskieren. Als wir beide noch Kinder waren, hatten einige von uns Ronja den Spitznamen ›Großer Bärenarsch‹ gegeben. Irgendwann hatte sie davon erfahren und einem von uns den Arm gebrochen. Seitdem nannten wir sie nur noch ›Großer Bär‹ – zumindest in ihrer Anwesenheit. Die Erinnerung an diesen Vorfall sollte mir jedenfalls als Mahnung reichen, sie nicht weiter zu reizen.

      »Nein, es tut mir leid«, antwortete ich.

      Der aggressive Gesichtsausdruck wich aus ihrem Gesicht. »Mein Haus fällt auseinander, ich muss es reparieren.«

      »Das verstehe ich.«

      Sie ging ein paar Schritte zum Gebäude und wieder zurück. »In letzter Zeit fällt alles auseinander«, sagte sie und kratzte sich am Hinterkopf. »Es kommt mir vor, als würden wir immer tiefer in die Finsternis gesogen.«

      »Was meinst du?«

      »Schau dich um, öffne die Augen und spitz die Ohren! John beklagt eine schlechte Ernte, Gatlins Tiere sind krank, und kein Wildtier läuft mehr vor Carls Bogen. Außerdem kann ich mich nicht daran erinnern, wann die Sonne das letzte Mal geschienen hat.«

      »Aus einer Quelle sprudelt nicht immer Wasser, Ronja.«

      »Und aus einem Wald kommen nicht immer Diener Zantuls und verfluchen einen.«

      Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. »Das Mädchen war krank. Sie war weder ein Geschöpf der Finsternis, noch beschwor sie Schwarze Magie.«

      »Was auch immer es war – es war kein Geschöpf menschlicher Natur.«

      Es fühlte sich an, als spräche ich mit einem kleinen Kind, das einen Albtraum durchlebt hatte. Stand wirklich Ronja vor mir? Die furchtlose Ronja, die allein mit ausgewachsenen Wildschweinen kämpfte?

      »Es hat aber auch niemandem etwas getan, oder?«

      Sie kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Noch nicht, aber wenn die ersten Flammen in einem von uns aufwallen und ihn von innen verbrennen, wird es zu spät sein.«

      Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Glaubst du jeder Kindergeschichte?«

      Sie ging wieder einen Schritt auf mich zu. »Hältst du mich für eine Närrin?«

      Hastig schüttelte ich den Kopf. »Nein! Wir sollten uns bloß keine Angst einjagen lassen. Der ärgste Feind des Dorfes ist der Winter – schon immer gewesen. Ihm sollten wir unsere Anstrengungen widmen.«

      Ronja fing wieder an zu laufen, in die eine Richtung, in die andere Richtung, vor und wieder zurück. Als sie vor mir zum Stehen kam, kratzte sie sich am Hals. »Die Zeiten sind finster, Kolen. Wir werden uns wappnen müssen.«

      »Die Zeiten sind …«

      »Ich bin keine, die feige wegrennt«, unterbrach sie mich. Sie ballte ihre Rechte und reckte sie gen Himmel. »Aber gegen Schwarze Magie helfen auch die stärksten Fäuste nicht!«

      Sie drehte sich um, zog ihren Hammer aus der Erde und stieg wieder aufs Dach. Die Leiter stand wackelig und drohte, unter ihrem Gewicht wegzurutschen. Aber sie hielt stand.

      Ich kam an der Statue meines Vorfahren vorbei und hielt an. Er hatte ebenfalls Kolen geheißen, und er hatte das Dorf vor über dreihundert Jahren gegründet. Er stand mit herausgestreckter Brust auf dem Podest, die Hände auf die Hüften gelegt, und hielt seinen Kopf stolz in die Höhe.

      Das ist mein Dorf, schien er zu sagen.

      Was dachte er über meine Arbeit? War ich ein würdiger Nachfolger? Das Dorf sah schweren Zeiten entgegen, auch das Gespräch mit Ronja hatte dies gezeigt. Aber ich war mir meiner Aufgaben bewusst, und ich versprach meinem Vorfahren, das Dorf auch durch diese Zeiten zu führen.

      Schwarzbach ist unser Zuhause. Schwarzbach muss leben. Er hatte diese Worte damals an seinen Sohn gerichtet, und ich hatte sie von meinem Vater gelernt. Ich musste sie in Ehren halten – noch nie hatten sie eine so große Bedeutung für mich wie in diesen Tagen.

      Ich entfernte mich von der Statue, doch ihren Blick spürte ich weiterhin auf mir lasten. Drehte ich mich um, würde sie mich anschauen – war es doch fast überall im Dorf so, als beobachtete sie einen. Nur hinter ihrem Rücken konnte man sich vor ihren Blicken verstecken.

      Anschließend suchte ich Jack auf. Er konnte einen immer aufmuntern, auch nach einer Konfrontation mit Ronja.

      Jack lag neben seinem Haus und schlief. Er schnarchte so laut, wie er redete, wenn er getrunken hatte. Sein dicker, behaarter Bauch lag frei und bewegte sich gleichmäßig auf und ab.

      »Hey Jack!«, rief ich.

      Ich musste laut sprechen, um sein Schnarchen zu übertönen, doch aufwecken konnte ich ihn damit nicht. Ich brauchte vier Versuche und musste ihm sanft gegen das Bein treten, bis er eine Reaktion zeigte. Er öffnete langsam die Augen und schaute mich verdutzt an. Dann schüttelte er kurz und heftig seinen Kopf und wieherte dabei wie ein Pferd.

      »Was machst du da?«, fragte ich ihn.

      »Wonach sieht es aus? Ich liege faul herum und reibe mir den Bauch, har!«

      Ich lachte. »Bei diesen Temperaturen? Es ist fast Winter!«

      »Solange es nicht schneit, ist für mich Sommer, har!«

      Trotzdem stand er auf, bedeckte seinen Bauch und zog sich seinen Mantel über. »Nur Spaß, es ist verdammt kalt geworden. Wenn wenigstens die Sonne scheinen würde.«

      »Dann hättest du einen Sonnenbrand auf dem Bauch bekommen.«

      »Har, wozu habe ich einen Pelz?« Er rieb sich kräftig die Augen und schaute sich um. »Ich scheine lange geschlafen zu haben.«

      »Hast du noch etwas vor?«

      »Kühe melken, Holz sammeln und vielleicht mit Tarlow und Carl in den Wald gehen zum Jagen.«

      »Heute ist wieder Lagerfeuer«, sagte ich.

      »Das heißt, du öffnest heute Abend nicht dein Wirtshaus?«

      Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet. Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Das Fest hat heute Vorrang. Morgen wieder.«

      »Das will ich doch hoffen! Ist aber verwunderlich, dass das Lagerfeuer heute stattfindet. Die Dorfbewohner sehen nicht so aus, als wäre ihnen zum Feiern zumute.«

      »Das stimmt, aber wir müssen den Kindern zeigen, dass das Leben im Dorf normal weitergeht. Kinder spüren es, wenn Erwachsene Angst zeigen.«

      Jack nickte. »Außerdem dürfen wir ihnen den Spaß nicht nehmen. Sie lieben Infernale, und das Spiel wird sie ablenken.«

      Später während des Rundgangs kam ich an Sir Casters Haus vorbei. Kolosan übte gerade mit Luan, einem zehnjährigen Jungen. Kolosan schwitzte und schnaubte. Er hatte Spaß am Schwertkampf und bewies Ehrgeiz. Sein Kontrahent war ihm jedoch ebenbürtig. Ihre Holzschwerter prasselten unentwegt aufeinander, und keiner von beiden ließ den entscheidenden Hieb zu. Kolosan war so vertieft in seinem Kampf, er bemerkte nicht, wie ich ihn beobachtete. Sir Caster aber sah mich und lächelte mir zu. Danach brüllte er wieder Anweisungen an die übenden Kinder.

      Greta arbeitete in ihrem Garten. Es war ein großer Garten voll mit Blumen, Pflanzen, Gemüse und Gewürzen. Schon aus einigen Schritten Entfernung stieg einem der Duft in die Nase. Es war ein frisches, belebendes Aroma, das mich jedes Mal zum Träumen anregte.

      Greta nannte ihn ›den Duftgarten‹, und niemand durfte etwas anderes dazu sagen. Der Garten erstreckte sich wie ein grünes Meer, gekrönt von Blüten in allen möglichen Farbrichtungen. Die Mitte zierte ein Bereich strahlend roter Blumen, groß und dicht gewachsen. In einer Ecke wuchsen Pflanzen mit Blüten in kraftvollem Gelb, daneben abwechselnd Reihen in Blau und in Grün.

      Neben Greta arbeitete Salya im Duftgarten. Sie war mit den Kartoffeln beschäftigt. Keiner von beiden schaute zu mir hoch, als ich ankam.

      »Hallo ihr beiden!«, rief ich und trat näher.

      Greta