Christian Milkus

Der Schatten in mir


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leuchtenden Augen. Sie kreisten uns langsam ein. Jack tat so, als würde er etwas auf sie werfen. Das vordere Tier schreckte zurück, dafür kamen die anderen heran. Langsam gingen wir Schritt für Schritt rückwärts, aber bis zum Dorf war es noch ein weiter Weg, und die Biester folgten uns. Der vordere Wolf kam immer näher. Er öffnete sein Maul, knurrte und zeigte seine scharfen Zähne. Er legte er sein Gewicht auf die hinteren Pfoten und senkte sein Hinterteil etwas ab. Wir hoben abwehrend unsere Arme und erwarteten seinen Sprung, als wir hinter uns plötzlich ein metallisch schabendes Geräusch hörten. Auch der Wolf hörte es und zuckte zurück – jemand hatte ein Schwert gezogen. Ich nutzte den Moment, um einen Blick hinter mich zu werfen, und sah Sir Caster mit dem blanken Stahl in der Hand.

      »Wir gehen jetzt alle vier los«, sagte er leise. »Wir gehen rückwärts, wir gehen langsam, und wir drehen uns nicht um.«

      Er schaute jedem von uns ins Gesicht und wartete, bis wir alle nickten. Dann liefen wir los. Die Wölfe folgten uns, hielten jetzt aber einen größeren Abstand. Ab und zu schnellte ein einzelner Wolf nach vorne, um unsere Verteidigung zu testen. Sir Caster hielt sein Schwert bereit. Immer aufs Neue steckte er es in die Scheide und holte es wieder heraus. Das schabende Geräusch schreckte sie ab, doch sie blieben dicht vor uns und lauerten auf einen Fehler. Der Rückweg ins Dorf war langsam und mühselig. Noch nie in meinem Leben war die Zeit so zäh vorangeschritten. Meine Knie waren weich, und ich zitterte. Jeder Schritt fühlte sich merkwürdig an, als würde ich in einem Flussbett laufen. Ich musste mich aufs Laufen konzentrieren. Einen Schritt hinter den anderen und bloß nicht stolpern!

      Es kam mir vor wie eine ganze Tageswanderung, als wir endlich den Waldrand erreichten, und die Wölfe abzogen. Jetzt erst merkte ich, wie heiß mir war und wie sehr ich trotz der Kälte am ganzen Körper schwitzte.

      »Verdammte Wölfe!«, schimpfte Tarlow, ebenfalls schwer atmend. »Kreaturen aus dem Reich der Finsternis sind das!«

      »Bei einem Angriff hätte ich die Lampe geworfen«, sagte Jack. »Ich schwöre es!«

      »Keinen Respekt mehr vor den Menschen!«

      »Ihr seid in Sicherheit«, sagte Sir Caster, »beruhigt Euch!«

      Ich starrte den Ritter an und schnaufte. »Äh …«, stammelte ich. »Danke!«

      Er lächelte. »Kein Dank nötig.«

      »Sind die anderen auch angegriffen worden?«

      Er nickte knapp. »Unsere Gruppe auch, aber wozu hat ein Ritter sein Schwert?«

      »Ich besitze mein altes Schwert auch noch«, sagte Tarlow, »allerdings liegt es im Haus, tief verstaut in einer Truhe. Ich fürchte, ich muss es wieder herausholen und tragen.«

      »Ohne meine Waffe würde ich mich nackt fühlen«, sagte Sir Caster und tätschelte liebevoll den Knauf.

      »Sind noch welche von uns draußen im Wald?«, fragte ich.

      »Ihr wart die letzte Gruppe, die noch unterwegs war. Daher bin ich Euch holen gegangen.«

      »Habt Ihr Tomas gefunden?«

      Er schüttelte den Kopf. »Nicht mal eine Spur.«

      »Dann suchen wir morgen weiter. Gleich bei Sonnenaufgang.«

      Kapitel 6 (Salya)

      Ich drehte mich zur Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Es war noch früh am Morgen, eigentlich viel zu zeitig zum Aufstehen. Aus Furcht vor einem weiteren Albtraum wie in der Nacht zuvor war ich lange aufgeblieben, trotzdem blieb der Schlaf mir verwehrt. Eine Zeit lang plagte mich der Gedanke an die Auseinandersetzung mit meiner Mutter, der ich mich irgendwann unweigerlich würde stellen müssen.

      Dann wurde es für diese frühe Stunde ungewöhnlich unruhig im Dorf, und schnell entwickelte es sich zu einem Tumult. Dorfbewohner rannten hin und her, ihre lautstarken Unterhaltungen steigerten sich bisweilen sogar zu Gebrüll. Als eine Frau kreischte, sprang ich aus dem Bett und in meine Kleider und rannte aus dem Haus.

      Eine Menschenmenge hatte sich vor dem Haus von Tomas und Sara versammelt. Sie fuchtelten mit den Armen und Händen herum, brüllten, fluchten, weinten. Wem galt ihre Wut? Dem Himmel, dem sie ihre Fäuste entgegenreckten, oder dem Wald, auf den sie anklagend wiesen? Was in Yanusʼ Namen war jetzt wieder passiert? Ich schob mich durch die Menge hindurch und sah jemanden auf dem Boden liegen. Sara kniete daneben.

      Kolen trat vor mich und hielt eine Hand vor meine Augen. »Du solltest das besser nicht sehen.«

      Ich schritt zur Seite und beugte meinen Kopf, um an Kolen vorbeizuschauen. Wieder trat er vor mich, diesmal fasste er meine Schultern an. »Bitte nicht!«

      »Ich will aber!«, sagte ich und ging an ihm vorbei.

      Es war Tomas, der auf dem Boden lag. Er war tot. Seine Kehle war aufgerissen und mit verkrustetem Blut bedeckt. Aus einer Wunde am Bauch hingen Teile seiner Innereien – ein widerlicher Brei. Arme und Beine waren mit Bissspuren übersät.

      Ich hielt eine Hand auf meinen Bauch. Mir wurde flau, und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. Ich drehte mich um und rannte auf den Waldrand zu, schaffte es aber nicht bis dorthin. Auf halbem Wege blieb ich stehen und kotzte mir vor die Füße – einmal, zweimal, bis nur noch Galle aus mir herauskam. Neben mir erkannte ich Otilia, die sich ebenfalls über den Boden krümmte.

      Als mein Magen sich wieder beruhigt hatte, ging ich zurück. Die Dorfbewohner hatten sich inzwischen vor dem Gebetshaus versammelt. Tarlow und Jack hoben ein Grab aus. Einige Frauen und Männer sahen schweigend dabei zu, vielmehr schienen sie ins Leere zu starren. Etwas abseits hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die halblaut diskutierten.

      Vom Kotzen war ein ekliger Geschmack zurückgeblieben. Ich schöpfte etwas Wasser aus dem großen irdenen Krug hinter unserem Haus und spülte den Mund aus. Der Geschmack blieb trotzdem. Als ich den Kopf hob, sah ich meine Mutter in der Nähe stehen und mich beobachten. Ausnahmsweise wirkte sie nicht wie ein feuerspeiender Drache. Vielleicht hatte Tomas‘ Tod sie den gestrigen Abend und ihre Wut auf mich vergessen lassen – zumindest vorübergehend. Also wagte ich, sie anzusprechen: »Was ist passiert?«

      »Sie sagen, Tomas wurde im Wald von den Wölfen angegriffen. Kolen hat ihn heute Morgen gefunden.«

      Ich riss Augen und Mund auf. »Von den Wölfen?«

      »Spreche ich undeutlich?« Schon war ihr Ton wieder gereizt.

      Ich drehte mich von ihr weg. Die Bilder meines Albtraums wiederholten sich in meinem Kopf – die Gestalt, die Tiere, der Angriff. War es Tomas, dem ich in meinem Traum gefolgt war? Waren es die Wölfe, die ihn zu Boden gerissen hatten?

      Sofort schoss mir die Geschichte von Zylesza, der blauen Hexe, in Erinnerung. Jedes Kind im Königreich kannte und fürchtete sie. Wenn Zylesza auf ihrem Besen ritt, wehte ihr blauer Umhang hinter ihr her, und wohin es sie auch zog, stets hinterließ sie Tod und Verderben. Eines Tages begehrten die Menschen gegen sie auf: Sie nahmen sie gefangen, fesselten sie an den Heiligen Baum und verbrannten sie. Das Feuer leuchtete blau, so blau wie ihr Umhang, und war so heiß wie das Feuer eines Drachen. Der Schrecken war damit jedoch nicht gebannt. Auch nach ihrem Tod lauerte sie den Menschen auf, und zwar in ihrem Träumen, und wessen Gestalt sie verfolgte, der verstarb bald darauf auch im echten Leben. Selbst heute noch trugen viele Menschen Amulette, um sich gegen Zylesza und andere Traumhexen zu schützen.

      Ich schaute mich um, niemand sah zu mir. Sie erkannten die Angst in meinen Augen nicht; sie hatten selbst alle Angst. Tief atmete ich durch und senkte den Kopf, der voll war mit den Bildern, die mich heimgesucht hatten. Ich brauchte jemanden zum Reden. Neben mir stand meine Mutter, doch lieber höbe ich mein eigenes Grab aus, als mich von ihr als Hexe beschimpfen zu lassen. Jorden stand auf der anderen Seite der Grube, die Tomasʼ Leichnam aufnehmen sollte. Er starrte auf den Boden, wie immer versunken in seiner eigenen Gedankenwelt. Gestern hatte er meine Mutter beleidigt, und das nicht zum ersten Mal. Sie war meine Mutter; er hatte kein Recht, das zu tun. Diesmal würde ich ihm das nicht verzeihen. Ich schaute herüber zu Yarie. Sie war immer