Christian Milkus

Der Schatten in mir


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blickte sich hektisch um. All die schönen Blätter um sie herum lösten sich von den Ästen, doch sie glitten nicht langsam zu Boden, sondern fielen wie Steine. Sie leuchteten nicht länger in prachtvollen Farben, sondern verdorrten zu einem tristen Grau.

      Die Person hing mit Armen und Beinen an einem nackten Ast, ein schwarzer, dünner, langer Ast. Sie hangelte sich weiter hinauf.

      Wieso kletterst du weiter? Wohin willst du?

      Sie schaute nicht zu mir, und sie sagte nichts, sondern kletterte weiter nach oben, immer weiter, in die unendliche Dunkelheit des Himmels hinein. Der Ast wurde zu seinem Ende hin immer dünner, immer zerbrechlicher. Er zitterte, er knarrte.

      Hör auf! Der Ast bricht ab!

      Doch die Person schob sich weiter voran, im Wipfel konnte ich sie kaum noch erkennen.

      Ein lauter Knall ließ mich zusammenzucken, und als ich wieder hinsah, fiel die Gestalt vom Baum und schlug mit voller Kraft auf dem Boden auf. Ich lief zu ihr, beugte mich über sie und sah die Umrisse ihres Kopfes. Kein Gesicht war zu erkennen, ihr Körper war so dunkel wie die Nacht. Aus dem Kopf trat Blut aus, rot leuchtendes Blut, erst aus einer Wunde, dann aus zweien, dann aus mehreren. Es verteilte sich über Körper und Boden, unbeirrt und unaufhaltsam.

      Kapitel 7 (Kolen)

      Ein modriger Geruch schlug mir entgegen, als ich den Keller betrat. Ich liebte diesen Geruch. Außerdem mochte ich die kühle Luft, die diesen Raum erfüllte. Zusammen verliehen sie dem Keller etwas Einzigartiges. Es war der einzige Raum im Dorf, der unterhalb der Erde lag.

      Ich blickte in die Regale und sah die großen Lücken, wo eigentlich alles voller Vorräte sein sollte. Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch waren noch in großer Menge vorhanden. Auch Karotten, Mehl und Hafer würden noch bis tief in den Winter hineinreichen. Aber andere Dinge waren jetzt schon knapp, und der Winter stand erst noch bevor.

      »Wonach suchst du?«, fragte Myla, als sie die Stufen hinunterstieg.

      Ich seufzte. »Ich gehe unsere Vorräte durch. Schau, was uns alles fehlt!«

      Myla blickte sich um, sah in einige Töpfe und Beutel hinein und nahm von manchem Proben mit den Händen. »Unsere Gewürze sind knapp«, sagte sie.

      Ich nickte. »Pfeffer, Ingwer und Zimt gehen uns aus. Greta hat noch einiges bei sich gelagert, aber nicht mehr viel.«

      Als ich die Büchse mit dem Zimt öffnete, stieg mir sein exotischer Duft in die Nase, und ich konnte seinen Geschmack auf der Zunge spüren. Ein Genuss für den Gaumen, aber leider teuer und nur schwer zu erhalten. Wir nannten es ›das braune Gold‹ und bezogen es aus dem fernen Süden. Händler brachten es in unseren Wald und sogar weiter bis in den tiefsten Nordwesten des Königreichs.

      »Und Salz fehlt«, fügte Myla hinzu.

      »Das ist in der Tat ein viel größeres Problem. Es fehlt an Salz und Öl, und unsere Beute an Fleisch wird für den Winter nicht ausreichen.«

      »Hat Carl keine Vorräte gelagert?«

      Ich schüttelte den Kopf. »Nicht viele. Ihm läuft kaum noch ein Tier vor den Bogen, sagt er. Die Wölfe fressen den Wald leer.«

      »Aber Gatlin hat so viele Schweine und Kühe in seinem Stall, wir haben uns bislang immer selbst versorgen können.«

      »So viele sind es nicht, und wenn wir sie schlachten, was bleibt uns dann im kommenden Jahr? Wir müssen auf andere Vorräte zurückgreifen: Linsen, Trockenobst, Trockenfisch.« Ich fasste mein Gewand an und zeigte ihr eine Stelle mit zwei kleinen Löchern. »Auch Kleidung wird rar, unsere Gewänder zerfallen langsam zu Lumpen.«

      Myla schaute mir in den Augen. »Wir müssen wieder zum Marktplatz fahren.«

      »Das müssen wir schon seit Wochen. Aber ohne Oleks Pferde erreichen wir Trummhügel nicht an einem Tag. Sein Weggang war ein mehr als schmerzhafter Verlust für das Dorf.«

      »Wir können auch ohne Pferde aufbrechen«, sagte Myla, »Wir ziehen die Karren selbst. Es wäre ein anstrengender Marsch von zwei oder drei Tagen, aber wir können es schaffen. Es müssen nur genügend Bewohner mitkommen.«

      »Die Idee hatte ich auch schon. Wir würden im Wald übernachten, ein Lagerfeuer machen, Wein trinken und uns Geschichten erzählen. Es könnte sogar aufregend werden, aber …«

      »Aber bei Nacht herrschen die Wölfe«, sprach Myla meinen Satz zu Ende.

      Ich nickte. »Wir müssten Trummhügel innerhalb eines Tages erreichen, aber ohne Pferde ist das nicht möglich.«

      »Sir Caster hat ein Pferd; er sollte es zur Verfügung stellen.«

      »Das macht er nicht, ich habe ihn schon gefragt.«

      »Haben wir eine Wahl?«

      Ich zuckte mit den Schultern. Danach schwiegen wir eine Weile lang. Ich sah in ihr Gesicht, sie schaute zurück und lächelte. Sie war immer noch wunderschön. Ihr schwarzes, glattes Haar hing fast bis zu den Schenkeln herunter. Niemand im Dorf hatte so lange Haare wie sie, und vermutlich hatte keine Frau in diesem Königreich solch leuchtend blaue Augen.

      »Ich werde mit ihm reden müssen«, sagte ich und holte tief Luft. »Schon wieder.«

      Myla spürte meine Zweifel. »Du wirst ihn überzeugen können, da bin ich mir sicher. Wenn einer es kann, dann du.«

      »Ich bin mir dessen nicht so gewiss. Sir Caster ist sturer als jede Katze.«

      Myla trat einen Schritt an mich heran und fuhr mit der Hand über meinen Bart. »Du schaffst das!«

      Ich lächelte verlegen. »Ich sollte mich rasieren.«

      Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich liebe deinen Bart, das weißt du doch. Er ist weich wie Seide.«

      Später blickte ich aus dem Fenster unseres Hauses auf die Statue meines Vorfahren. Es war nicht nur der Fleiß, der dem ersten Kolen geholfen hatte, das Dorf zu führen, es war auch sein Geschick, mit Menschen umzugehen. Das hatte er seinen Nachkommen vererbt. Jeder in meinem Stammbaum war sich dieses mächtigen Werkzeugs bewusst. Mein Vater hatte mir alle Regeln im Umgang mit Menschen beigebracht, und mein Großvater hatte sie mir noch gepredigt, als er bereits todkrank im Bett lag.

      Wollte ich Sir Caster überzeugen, musste ich diese Regeln befolgen. Niemals würde er handeln, bloß weil ich es von ihm verlangte – er musste es selbst wollen. Drum hofier ihn mit List, auf dass er deinen Willen als seinen eigenen glaube.

      Zwar fühlte ich mich nicht bereit, aber ich trat den Weg zu Sir Casters Haus an. Die Zukunft des Dorfes könnte von diesem Gespräch abhängen, ich konnte mich davor nicht verstecken. Schwarzbach ist unser Zuhause. Schwarzbach muss leben.

      Ich klopfte an der Tür.

      »Ich bin hier hinten«, rief Sir Caster. Er stand hinter dem Haus und striegelte sein Pferd. Als ich näherkam, machte das mächtige Tier einen Schritt in meine Richtung, und ich schreckte zurück.

      Sir Caster lachte. »Ängstigt er Euch immer noch?«

      »Es ist nicht Angst«, sagte ich und zwang mich, ebenfalls zu lachen. »Er ist nur sehr groß – das größte Pferd, das ich je gesehen habe. Er ist sogar größer als Ronja. Man muss aufpassen, wo er hintritt.«

      »Königsblut ist eben ein Hengst der besonderen Art. Er verdankt seine stolze Ahnenreihe den besten Zuchtmeistern des Königreichs.«

      »Er ist wahrhaftig ein prächtiges Tier! Ihr seid sicher stolz auf ihn.«

      »Das bin ich«, bestätigte er und lächelte.

      Er war bester Stimmung, doch ein gutes Zeichen war das noch lange nicht, schließlich war er fast immer gut gelaunt.

      »Sir Caster, wir sind Euch für eure Dienste bisher überaus dankbar«,