Dr. Wilhelm Bode

Goethes Lebenskunst


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solche, die nur aus Egoismus zu ihm kamen, behandelte Goethe kurz und grob; auf gedrechselte Reden, Komplimente, nichtssagende Phrasen antwortete er nicht. Sobald er aber etwas Echtes und Gutes in seinem Gegenüber spürte, sobald er fühlte: der Mann möchte dir etwas geben und hat etwas zu geben, zeigte er sogleich seine natürliche Güte. Dann nahm sein Hm hm! nun nun! ja ja! einen eigentümlich gutmütigen Klang an, dann wurde der Stumme zum lebhaften Redner, dann endete er: „Pflege um Zwei zu essen, würde mich freuen, wenn Sie unser Gast sein wollten.“ Holtei hat erzählt, wie er anfangs abblitzte: „Je geistreicher ich zu sein mir Mühe gab, desto abgeschmackter mag ich ihm wohl geschienen haben.“ Und nachher: „Je mehr ich mich gehen ließ, meinem natürlichen Wesen getreu, ohne weitere Ansprüche auf zarten Ausdruck, desto lebendiger wurde der alte Herr.“ Sobald Goethe merkte, daß der Mann ihm gegenüber einen guten Kern hatte, daß er auf irgendeinem Gebiete tüchtig beschlagen war, machte er schnell Freundschaft. So führte ihm der Jenaer Buchhändler Frommann einst einen jungen Osnabrücker Advokaten zu und wunderte sich, wie rasch die beiden in einen herzlichen Disput kamen; Goethe erkannte eben schnell die solide Tüchtigkeit des jungen Gastes, des späteren Bürgermeisters und Ministers Stüve, den diejenigen, die ihn kennen, zu den großen Männern des Jahrhunderts rechnen. Namentlich die Leute, die sich durch seine anfängliche Kälte oder Schärfe nicht verblüffen ließen, flößten ihm ein gutes Vorurteil ein, da sie wahrscheinlich mehr als fahrige Phrasenmenschen sind. So gefiel ihm der Husarenrittmeister Franz von Schwanenfeld. Als dieser Ende Juni 1813 nach Teplitz kam, konnte er kein anderes Zimmer mehr bekommen als ein halb unterirdisches im Gartenhause der Töpferschenke. Eines Morgens sieht er auf einer Bank vor seinem Fenster einen schönen alten Mann sitzen. Ein Diener bringt einen Krug mit Wasser und ein Buch; der Alte trinkt und überläßt sich seinen Gedanken. Mehrere Tage wiederholt sich das, bis es dem Husaren lästig wird, daß der Alte ihm das wenige Licht in seiner Stube noch halb wegnimmt. Der schöne Kopf mit den edlen Zügen reizt ihn auch. Er macht sein Fenster auf und ruft dem Alten einen „Guten Morgen“ zu. Ein ehrfurchtgebietender, streng verweisender, beinahe verächtlicher Blick war die Antwort auf die kühne Anrede des Schnauzbartes. Aber der ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. „Sind Sie Hypochonder?“ erscholl es abermals aus dem kleinen Fenster zu Füßen des Unbekannten, der aber wieder nicht antwortete. Der Husar schreit nochmals mit donnernder Stimme: „Sind Sie Hypochonder?“ Nun endlich entfuhr den Lippen des alten Herrn ein Wort, „Sonderbar!“ lautete es. — „Jawohl, sonderbar!“ rief der Rittmeister. „Sie sind krank und sitzen hier im kalten Morgennebel, trinken Ihren Brunnen allein, still und stumm. Da wollte ich lieber Tinte in Gesellschaft saufen und würde eher gesunden. Wissen Sie wohl, daß ich große Lust hätte, mit Ihnen Händel anzufangen?“

      Die Augen des Fremden gingen groß auf und durchbohrten fast den Redenden. „Wenn Sie mit Ihrem Heldengesicht mir nur nicht so ungeheuer gefielen!“ Aber auch Goethen gefiel nun der offenherzige Soldat. Sie kamen ins Plaudern, spazierten bald im Garten zusammen und bald Arm in Arm, da der Rittmeister ein lahmes Bein hatte; sie sprachen auch von Schiller und Goethe und Karl August und dem Kriege, und da er immer noch nicht wußte, wen er vor sich hatte, erklärte der Husar sehr unbefangen, daß er für den Tasso schwärme, aber den Werther nicht möge. Der Alte nannte ihn seinen Doktor, weil er ihn von seiner Hypochondrie befreie. Er wolle am nächsten Tage einen Freund mitbringen, der auch gern von der Hypochondrie geheilt sein möchte. Das schien ein Forstmann oder Gutspächter zu sein, und der brave Rittmeister bemühte sich nun, den beiden Alten recht viel lustige Lebensauffassung beizubringen — bis er nach einigen Tagen erfuhr, daß der eine Goethe, der andere Karl August war.

      Einen ähnlichen Eindruck wie dieser Rittmeister machte in jungen Jahren der spätere russische General Klinger auf ihn, als er, der Landsmann Goethes und auch einer der „Stürmer und Dränger“, ihn in Weimar aufsuchte. Klinger holte alsbald ein dickes Manuskript heraus und fing an es vorzulesen. Eine Weile hielt Goethe still, dann rief er aus: „Was für verfluchtes Zeug ist’s, was du da wieder einmal geschrieben hast! Das halte der Teufel aus!“ Klinger ließ sich nicht im Geringsten aus der Fassung bringen, steckte ruhig sein Manuskript in die Tasche und meinte: „Kurios! Das ist nun schon der Zweite, mit dem mir das heute begegnet ist!“ Da hatte Goethe Respekt vor ihm und prophezeite ihm eine große Zukunft.29

      Im Allgemeinen teilte Goethe die Fremden in solche ein, die etwas von ihm begehrten, und solche, die vielmehr ihm eine Freude machen wollten. Das war teils Notwehr, teils der gesunde Egoismus, den er auch theoretisch vertrat. Zum Kanzler v. Müller sprach er 1830 diese Maxime aus, als es sich um das Beantworten von Briefen handelte: „Wenn ich sehe, daß die Leute bloß ihretwegen an mich schreiben, etwas für ihr Individuum damit bezwecken, so geht mich das nicht an; schreiben sie aber meinetwegen, senden sie etwas mich Förderndes, Angehendes, dann muß ich antworten ... Ihr jungen Leute wißt freilich nicht, wie kostbar die Zeit ist.“

      Ehe man diesen Standpunkt allzu selbstsüchtig finde, bedenke man die Frage, die der eben genannte Friedrich v. Müller in seiner Gedächtnisrede 1832 aufwarf: „Wie hatte er aber auch, ohne sich selbst zu vernichten, all den unsäglichen, oft unsinnigen Anforderungen und Zumutungen genügen können, die so oft gleich einem Wogenschwall auf ihn eindrangen? Daß fast jeder deutsche Jüngling, der einige glückliche Verse oder vollends ein Trauerspiel geschaffen zu haben vermeinte, Rat oder Urteil von ihm begehrte, möchte noch für ganz natürlich gelten; daß aber auch seinem geistigen Kontakt wildfremde Personen sich oft in den wunderlichsten Fällen, z. B. um eine Heirat, die Wahl eines Lebensberufs, eine Kollekte, einen Hausbau zustande zu bringen, zuversichtlich an ihn wendeten, könnte in der Tat höchst komisch erscheinen, wenn es nicht zugleich bewiese, wie unbeschränktes Vertrauen man weit umher ihm zollte, ja für einen Universalhelfer in geistigen und leiblichen Nöten ihn zu halten geneigt war.“

      Besonders mußte sich Goethe gegen Bittsteller verhärten, die für sich oder Andere etwas erbaten. Schon 1787 schrieb er an Kirms, der in der Leitung des Theaters seine rechte Hand war: „In meinem Leben habe ich so oft bemerkt, daß Menschen, die sonst zuverlässig sind, gegen jemand, der eine Stelle zu vergeben hat, gar kein Gewissen haben. Man will die Leute anbringen, und wir mögen nachher sehn, wie wir sie los werden.“ Und aus seinen letzten Lebensjahren erzählt sein Arzt Vogel: Die Schwäche, welche nichts abzuschlagen vermag, kannte er nicht. „Ich halte es doch länger aus,“ meinte er, „die Leute anzuhören, als sie, mich zu drängen. Merken sie nur erst, daß sie einem auf solche Weise etwas abzwingen können, so ist man ewig belagert.“ Wem aber Goethe trotz alledem zu hart und kalt erscheint, der möge lesen, was er 1809 zu Riemer äußerte: „Nur der am empfindlichsten gewesen ist, kann der kälteste und härteste werden; denn er muß sich mit einem harten Panzer umgeben, um sich vor den unsanften Berührungen zu sichern; und oft wird ihm selbst dieser Panzer zur Last.“ Goethe glich hierin seinem Vater, „der, weil er innerlich ein sehr zartes Gemüt hegte, äußerlich mit unglaublicher Konsequenz eine eherne Strenge vorbildete“,30 und der Sohn stand auch in gleicher Gefahr wie der Vater, den er „nach so viel Studien, Bemühungen, Reisen und mannigfaltiger Bildung endlich zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben führen“ sah. An Zelter aber schrieb unser Dichter, daß er doch der fremden Welt nicht ganz entraten könne, „denn wenn ich gleich meine Zugbrücken aufziehe und meine Fortifikationen immer weiter hinausschiebe, so muß man doch zuweilen auch wieder Kundschaft einziehen“. Die Summe seiner Erfahrungen über den Umgang mit Menschen hat Goethe in zwei Ratschlägen gezogen, die er an Christiane und an junge Freunde richtete. Zu einem der letzteren sprach er 180931: „Verschmäht nie, in euer Streben die Einwirkung von gleichgesinnten Freunden aufzunehmen, sowie ich auch auf der andern Seite angelegentlich rate, ebenfalls nach meinem Beispiele, keine Stunde mit Menschen zu verlieren, zu denen ihr nicht gehört, oder die nicht zu euch gehören; denn solches fördert wenig, kann uns aber im Leben gar manches Ärgernis zufügen, und am Ende ist denn doch alles vergeblich gewesen.“ An Christiane aber schreibt er einmal32: „Was die Menschen betrifft, so tu ihnen nur so viel Gefälligkeiten als du kannst, ohne Dank von ihnen zu erwarten. Im Einzelnen hat man alsdann manchen Verdruß, im Ganzen bleibt immer ein gutes Verhältnis ... Behalte mich lieb, wie mein Herz immer an dir und dem Kinde hängt. Wenn man mit sich selbst einig ist und mit seinem Nächsten, das ist auf der Welt das Beste.“