Edda Blesgen

Nächtliche Besuche bei Stefan Sternenstaub


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sie davon, Astronautin zu werden, zu unbekannten Welten zu fliegen, mit Lichtgeschwindigkeit durch ferne Galaxien zu reisen und fremde, wenig menschenähnliche Wesen im Universum aufzuspüren.

      Einmal schrieb ich Andrea einen Brief, in dem ich sie mit Andromeda anredete. Andromeda war eine äthiopische Königstochter, nach der ein Sternbild benannt ist. In der Pause kamen einige Mädchen aus meiner Klasse kichernd angelaufen: „Hallo, Mann im Mond, schöne Grüße von Andromeda“, riefen sie mir zu. Meine Banknachbarin hatte den Brief ihren Freundinnen gezeigt und jetzt machten sie sich über mich lustig.“

      „Das war aber gemein“, fand das Gespenst.

      „Ja“, bestätigt Stefan Sternenstaub, „ich fühlte mich sehr gekränkt. - Aus Andromedas Astronautenträumen wurde nichts. Sie freundete sich bereits in der Schule mit dem Sohn des Wirtes vom Gasthof ‘Piratenschiff’ an und heiratete sehr jung. Ich ging zur Stadtverwaltung nach Großkloßmoos in die Lehre. Täglich fuhr ich mit dem Bus dorthin. Nach meiner Ausbildung arbeitete ich fünf Jahre beim Einwohnermeldeamt. Doch als die Stelle eines Nachtwächters hier frei wurde, übernahm ich diese, um Beruf und Hobby, nämlich die Sternguckerei, miteinander verbinden zu können. Mein Einkommen ist zwar geringer, aber für mich allein reicht es, und nachdem Andromeda geheiratet hatte, war mir klar, ich würde niemals eine Familie gründen.

      Dann starb der Wirtssohn, sechs Wochen bevor Andrea zwei Söhnen das Leben schenkte. Die Kinder sollten Castor und Pollux heißen, wie die beiden hellsten Sterne des nächtlichen Himmelsbildes Zwillinge. Doch der Bürgermeister weigerte sich, diese heidnischen Namen in das Geburtenregister einzutragen. Da nannte Andromeda ihre Buben Peter und Paul.

      Sie stand jetzt mit ihrem Schwiegervater hinter der Theke, mixte Getränke, denen sie phantasievolle Namen gab: Abendsternnektar, Mondstrahlcoktail, Kometenlabetrank, Sternschnuppentau. Manchmal, wenn ich an ihrem Haus vorbeikam, hörte ich Andromeda mit ihren Kindern singen: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt...“ oder aus dem offenen Fenster vernahm ich Fetzen des Märchens ‚Sterntaler’, das sie ihren Zwillingen erzählte.

      Einmal beobachtete ich die Jungens beim Spielen am Dorfteich.

      „Wenn ich erwachsen bin, werde ich Kapitän eines Seeräuberschiffes wie mein Urururururgroßvater“, sagte Paul. „Dann nenne ich mich Castor, der Pirat.“

      „Und ich möchte Schornsteinfeger werden - Pollux der Schornsteinfeger“, entgegnete Peter.

      Paul lachte ihn aus. „In dem Beruf braucht man keinen ausgefallenen Namen; bleib du nur bei deinem eigenen. Als Kaminkehrer wirst du Schwarzer Peter heißen. Aber willst du nicht lieber mein Erster Steuermann sein? Dann kannst du dich Pollux, der Seeräuber, nennen.“

      Peter beharrte jedoch darauf, Schornsteinfeger zu werden.

      Nachdem auch ihr Schwiegervater gestorben war, wechselte Andromeda eines Tages das Namensschild ‘Piratenschiff’ gegen ein neues aus. ‚Zum Mann im Mond’ stand dort in silberglänzenden Buchstaben auf nachtblauem Hintergrund. Da blühte eine verrückte Hoffnung in mir auf. Ich beschloss, meine Nachtwächtertätigkeit aufzugeben und wieder in Großkloßmoos zu arbeiten, um eine Familie, genauer gesagt, eine Frau und Zwillinge, ernähren zu können. Dann ging ich in den Wald und pflückte Sternmiere für Andromeda. Vor dem Wirtshaus angekommen, verließ mich der Mut. Traurig schlich ich nach Hause, stellte die Blumen in eine Vase und zerriss mein Bewerbungsschreiben an die Verwaltung in Großkloßmoos.

      Eines Tages hing das Schild ‚Piratenschiff’ wieder auf. Jetzt nenne ich die Wirtin sogar in Gedanken nicht mehr Andromeda, sondern Andrea. Sie schenkt den Leuten Bier und Schnäpse aus, denn ihre Mixgetränke Abendsternnektar, Mondstrahlcocktail und Sternschnuppentau wurden von den Kleinmeindorfern verschmäht. Und nie wieder hörte ich sie ihren Söhnen Peter und Paul, die eigentlich Castor und Pollux heißen sollten, das Lied ‚Weißt du, wieviel Sternlein stehen’ vorsingen oder das Märchen ‚Sterntaler’ erzählen. - Inzwischen sind die Buben auch zu groß dafür. Jetzt lauschen sie lieber Piratengeschichten.“

      „Kennst du eigentlich die Geschichte von ihrem Urururururahn?“ fragt das Gespenst.

      „Etwa die vom Zwergpiraten?“

      „Du hast schon von ihm gehört?“, fragt das Geistchen enttäuscht.

      „Aber ja, wie alle Kleinmeindorfer. Andreas Schwiegervater erzählte die Geschichte jedem und immer wieder. Trotzdem würde ich sie gerne von dir vernehmen. Ich bin überzeugt, du bringst sie viel besser als der Wirt; sie wird mir bestimmt gefallen, obwohl ich sie längst kenne.“

      „O ja“, bettelt Mützenkater, der auf Samtpfoten hereinschleicht. „Ich habe noch nie von dem Urururururahn gehört. Ich dachte, die Kneipe hieße nur ganz zufällig ‚Piratenschiff’, so wie in Großkloßmoos eine Wirtschaft den Namen ‚Morgenröte’ trägt und eine andere ‚Zum goldenen Einhorn’ benannt ist. Aber erst muss ich euch noch berichten, wie es mir mit der Katzendame, Tiffany heißt sie, ergangen ist...“

      Das Gespenst unterbricht ihn zappelig. „Lass mich doch endlich von dem Seeräuber erzählen, der zu meinen Lebzeiten, vor etwa drei- oder vierhundert Jahren, auf allen Weltmeeren Angst und Schrecken verbreitete. Danach wirst du auch wissen, warum der Wirt als Spezialität Spiegeleier und Spinat servierte. Andrea hat diesen Brauch übernommen. Die Geschichte heißt:

       Der kleine Pirat und der Spinat

       Auf den Weltmeeren kreuzte einmal ein Piratenschiff mit der Totenkopffahne umher. Alle Seeleute fürchteten den Kapitän, obwohl er nicht größer als ein siebenjähriges Kind war.

       Ich bin der gefährlichste Pirat aller Zeiten“, prahlte er. „Ay, ay Sire“, erwiderten seine Matrosen respektvoll.

       Die ehrlichen Seefahrer gaben ihm den Namen ‘Zwergpirat’. Als er das erfuhr, ärgerte er sich schrecklich und tat noch wilder, als er ohnehin schon war.

       Irgendwann einmal hatte der Zwergpirat in einer Hafenstadt eine Frau geheiratet. Dann zog er wieder fort und vergaß sie über dem rauen Seeräuberhandwerk. Als er nach Jahren den Hafen ihrer Heimatstadt abermals anlief, erinnerte er sich an sie und wollte sie besuchen. Doch in dem Haus wohnten fremde Leute. Von ihnen erfuhr der Zwergpirat, seine Frau sei inzwischen gestorben. Sie hinterließ ihm einen kleinen Sohn von sieben Jahren, Hans hieß er, der bei Verwandten aufgezogen wurde. Der kleine Seeräuberkapitän nahm sein Kind mit aufs Schiff.

      „Bisher war ich ein tüchtiger Pirat, der beste, den es überhaupt auf den Weltmeeren gibt und je gegeben hat“, rühmte er sich, „jetzt werde ich ein ebenso tüchtiger Vater, denn was ich tue, mache ich gründlich.“

       Er befahl seinem Steuermann, Kurs auf den nördlichen Atlantik zu nehmen. „Kleine Kinder brauchen Lebertran zum Gedeihen“, belehrte er seine Mannschaft. „Dieser wird aus der Leber von Dorschen gewonnen. Also fahren wir auf Dorschfang, damit mein Sohn seinen Lebertran bekommt.“

       So wurde es gemacht. Doch die ganze Mühe war vergebens. Als der Piratensohn den ersten Löffel Lebertran schlucken sollte, spie er ihn in hohem Bogen wieder aus.

      „Komm, mach’ noch einmal den Mund auf“, redete sein Vater ihm gut zu. „Von Lebertran wirst du groß und stark und ein tüchtiger Pirat.“

       Der Junge schnitt eine Grimasse. „Sicher hast du dieses scheußliche Zeug auch nicht eingenommen, sonst wärst du nicht so klein“, erwiderte er. „Trotzdem ist ein gefürchteter Seeräuber aus dir geworden.“

      „Aber ich habe immer darunter gelitten, Zwergpirat genannt zu werden. Du sollst es einmal besser haben. Groß und stark wie der Riese Goliath, wirst du alle Seeräuber allein durch dein Aussehen in die Flucht schlagen. - Goliath, so werde ich dich jetzt schon nennen, Goliath, der Pirat, das hört sich