Wieland Barthelmess

HAT-SCHEPSUT: Das Geheimnis der Frau auf Ägyptens Thron


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die Türe und setzte sich auf ihr Bett. Ihre geliebte Sitti war also tatsächlich tot. Unwiderruflich tot. Jetzt, wo es ihr bestätigt worden war, hatte diese Nachricht auf einmal eine sehr viel größere Macht als erwartet. Wie eine erbarmungslose Bestie sprang die Trauer sie an, packte sie, schüttelte sie und würgte sie. Schwere Tränen liefen über ihre Wangen, die Hat-schepsut schnell fortwischte. Von ihrem Fenster aus sah sie, wie die Stadt erwachte und die Paviane, wie an jedem anderen Morgen auch, zu ihren frechen Diebeszügen über die Dächer der Hauptstadt aufbrachen. In den Wohnungen der Stadt wurden Nasen geschnäuzt, Kehlen vom Schleim der Nacht befreit, schreiende Kinder beruhigt und Gebete gesprochen, während man in den Straßen die ersten Waren ausrief und Dinge eiligst von hier nach dort transportierte. Vor den Schreinen beteten Gläubige zu den Göttern und in den Tempeln wurden die Sistren geschüttelt, damit die Luft für die ersten Zeremonien des Tages gereinigt wurde. Alles war so wie an jedem anderen Morgen auch. Und doch wusste Hat-schepsut, dass nichts mehr so war wie noch Tags zuvor.

      Es wurde an ihrer Tür gepocht. Vorsichtig zunächst, dann laut und eindringlich. „Seine Majestät, der Herrscher der beiden Länder, der Herr über den Süden wie über den Norden, Pharao Thot-mose Aa-cheper-ka-Re, dem ein Leben geschenkt sei von einer Million mal einer Millionen Jahre, geruht, die Frucht seines Leibes, die Königstochter Hat-schepsut aufzusuchen, die Erste unter den Damen.“

      Hat-schepsut erkannte die Stimme des Haushofmeisters ihres Vaters. Schnell wischte sie sich noch einmal über die Wangen und schon wurde die Türe aufgestoßen. Ihr Vater trat ein, unrasiert und ungebadet. Er war offenbar gerade eben erst von seinem Majordomus aus dem Bett geholt worden. Neben dem Haushofmeister begleiteten ihn zwei seiner Leibgardisten. Sie wollte aufstehen, um sich vor ihm niederzuwerfen, doch Pharao winkte nur ab. Selten einmal hatte Hat-schepsut ihren Vater so aufgewühlt gesehen. Schweigend sahen sich beide an.

      „Die große Ah-hotep, deine Urgroßmutter, die ihre schützende Hand immer über uns hielt“, sagte Pharao mit belegter Stimme und setzte sich zu Hat-schepsut aufs Bett, „sie ist zu Osiris gegangen.“ Pharao griff nach der Hand seiner Tochter. „Sie war das Herz von Kemet und sie war seine Seele. Kemet wird ein anderes Land sein ohne sie. Und wir beide, du und ich, wir müssen nun zusehen, wie wir ohne sie zurechtkommen.“ Schweigend nahm Pharao seine Tochter in den Arm und drückte sie ganz fest an sich. Noch nie hatte Hat-schepsut ihren Vater weinen sehen. Wie überhaupt noch nie jemand einen Pharao hatte weinen sehen, außer vielleicht eine jener sagenhaften Großen königlichen Gemahlinnen, denen die Gottkönige tatsächlich ihr Herz geschenkt hatten. Vorsichtig wischte sie die Träne fort, die gerade über die Wange ihres Vaters kullerte.

      „Du schwitzt, Babu“, sagte sie zärtlich und Pharao lächelte überrascht. Dann nickte er dankbar und küsste seine Tochter wortlos auf die Stirn. Hat-schepsut wusste nur zu gut, was die alte Ah-hotep ihrem Vater bedeutet hatte. War sie es doch gewesen, die den illegitimen Sohn des jung verstorbenen Prinzen und Thronfolgers Ah-mose Sa-pair und der Gärtnerstochter Seni-seneb seinerzeit aufgezogen sowie in allem unterstützt hatte, obwohl damals noch überhaupt nicht abzusehen war, dass er für die Thronfolge jemals in Frage käme. Es war Ah-hotep, die ihn mit den größten Geistern des Reiches zusammenbracht hatte und ihm somit die bestmögliche Erziehung angedeihen ließ. Sie hatte fest an ihn geglaubt, obwohl damals kaum jemand damit rechnete, dass er als Thronfolger in Frage kommen könnte. Dennoch hatte Ah-hotep aus Thot-mose den größten Pharao gemacht, der Kemet je regiert hatte. Denn Pharao Thot-mose war der Gerechteste unter den Königen und er wusste, die Ma’at zu bewahren. Zudem liebte Pharao sein Volk aufrichtig. Die Menschen in Kemet lebten für ihren Pharao und er lebte für sie. Alles, was Thot-mose war ‑ und zumindest in Hat-schepsuts Augen war er nichts weniger als der vollkommene Herrscher schlechthin ‑, war er durch Ah-hotep geworden.

      Es klopfte abermals. Sit-Re, Hat-schepsuts Amme war inzwischen aufgewacht und schlurfte noch halb verschlafen durch den Flur zur Tür. Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie den nicht zurechtgemachten Pharao neben ihrer Herrin auf dem Bett sitzen sah. Der gestrenge Haushofmeister stand mit feucht-glänzenden Spuren auf den Wangen daneben, die verrieten, dass er geweint hatte. Es klopfte lauter. Fahrig öffnete Sit-Re die Tür. Der Hohepriester des Amun, Hapu-seneb, wartete ungeduldig in vollem Ornat und mit großem Gefolge davor. Eilig trat er ein und hinter ihm quollen die Priester in seiner Begleitung nach. Sie warfen sich vor Pharao und seiner Tochter zu Boden. Nur Hapu-seneb kniete.

      „Ah-hotep, die Gottesgemahlin des Amun ist tot“, sagte der Hohepriester feierlich. „Als Ah-mose Merit-Amun die Große königliche Gemahlin Pharao Amun-hoteps jung verstarb, hatte sie nicht bestimmt, wer nach ihr Gottesgemahlin des Amun werden solle. Also fiel der Titel zurück an ihre Vorgängerin Ah-mose Nefertari. Da auch sie vor sechs Jahren starb, ohne eine Nachfolgerin benannt zu haben, fiel der Titel abermals an ihre Vorgängerin zurück: Die große Ah-hotep.“

      Die Priester in Begleitung Hapu-senebs ließen den Namen der großen Frau im Chor nachklingen: Ahh-hoh-tepp.

      „Die Große königliche Gemahlin und Gottesgemahlin des Amun“, fuhr der Oberpriester fort, „die gerechtfertigte Ah-hotep, hat in ihrer Weisheit und im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen jedoch geruht, zu Lebzeiten eine Nachfolgerin zu bestimmen.“

      „Gepriesen sei ihre Weisheit“, sangen die Priester.

      Voller Erwartung sah Hapu-seneb der Prinzessin ins Gesicht. Doch Hat-schepsut zeigte kein übermäßiges Interesse an seiner Rede. Ihre Gedanken waren bei ihrer Urgroßmutter. Wie hatte sie es ihr nur antun können, sie jetzt schon zu verlassen?

      „Es ist die Königstochter Hat-schepsut, welche die große Ah-hotep zur Gottesgemahlin des Amun bestimmt hat“, vervollständigte Hapu-seneb seine Nachricht und die Priester, die sich mittlerweile aufgerichtet hatten, warfen sich abermals zu Boden. „Hatt-schep-sutt!“

      Nun sah auch der Vater, der natürlich um Ah-hoteps Vermächtnis wusste, seine Tochter gespannt an. „Na, schau nur, wie deine Sitti für dich sorgt.“ Er nahm Hat-schepsut in den Arm. „Ein eigener Palast mit komplettem Hauspersonal, sogar Musiker und Tänzerinnen gehören dazu und zwar die Besten des ganzen Reiches. Du wirst die Herrin über fruchtbare Ländereien und du hast von nun an sogar deine eigenen Weingärten im Fayum … Du bist jetzt das mächtigste Mädchen der Welt.“ Und ganz leise, so dass nur Hat-schepsut ihn hören konnte, flüsterte er ihr ins Ohr: „Und du hast jederzeit Einblick in sämtliche Aufzeichnungen der Amun-Priester.“

      Erschrocken sah ihn Hat-schepsut an. „Und was muss ich tun, um Gottesgemahlin zu sein?“ Hat-schepsut wusste längst, dass man für manch ein Geschenk teuer zu bezahlen hatte.

      „Oh“, entgegnete der Hohepriester überrascht. „Deine Aufgaben werden sich auf einige wenige Repräsentationspflichten beschränken. Die Priesterschaft erledigt das Meiste, das Alltägliche.“

      „Ich möchte dennoch alles ganz genau über die Aufgaben, die Pflichten und Rechte einer Gottesgemahlin wissen“, entgegnete Hat-schepsut spitz. „Gerade im Alltäglichen ist oftmals Wichtiges verborgen. Meine Sitti hat mir viel davon erzählt. Und sicherlich hat sie auch gewollt, dass ich diese Aufgabe ernst nehme. Also werde ich sie auch ernst nehmen.“

      „Selbstverständlich“, verbeugte sich Hapu-seneb nicht recht wissend, was dies letztendlich bedeuten mochte.

      Im selben Augenblick wurde abermals geklopft. Zunächst ganz leise nur, als wolle man kein Aufsehen erregen, schließlich aber immer heftiger werdend, als hätte jemand Angst, dass man sein Klopfen möglicherweise nicht hören könnte. Alle starrten zur Türe hin, als die Amme sie öffnete.

      „Thot-mose, mein Bruder“, rief Hat-schepsut erstaunt. „Wie lieb, dass Du kommst. Dein Vater ist auch schon hier.“

      Thot-mose hatte tatsächlich geglaubt, er sei der Erste und Einzige, der seiner Halbschwester in dieser schweren Stunde beistehen wollte. Er erschrak, als er seinen Vater so unerwartet neben Hat-schepsut auf dem Bett sitzen sah, umringt von Amun-Priestern im vollen Ornat. Er griff nach dem Affen auf seiner Schulter, als ob er ihn beschützen müsste, und wollte sich schon wieder zum Gehen wenden.

      „Komm, Thot-mose“, rief ihm Hat-schepsut zu. „Setz dich zu uns. Unser Babu ist genauso traurig wie du und ich.“

      Es