Mathias Scheben

Ruhe. Ruhe! Ruhestand?


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      Auf Wolke 7: Von der Freiheit, die du meinst

      Das schwarze Loch, in das du als frischgebackener Rentner angeblich fallen wirst, das findest du nicht. Eher springst du am ersten freien Morgen mit lautem Hurra und Freudentaumel aus dem Bett und landest auf dem vorgelegten Flokati.

      Dem wird aber nicht so sein, im besten Fall wird dich frühmorgens Verunsicherung erfassen. Denn auf das, was ab sofort und in den kommenden Monaten folgt, bist du nicht vorbereitet.

      Wahrscheinlich wird deshalb alles ganz anders kommen. Du wirst vorsichtig sein, dich an den neuen Alltag behutsam herantasten wie an einen neuen Job. Du wirst es langsam angehen lassen, aber morgens unverändert früh. Denn dein Kopf weiß zwar über deine neue Lebenslage Bescheid, dein Biorhythmus aber noch lange nicht, und obendrein könnte das soziale Beziehungsgeflecht um dich herum vermint sein.

      Dein Vorsatz nützt wenig, ab sofort täglich auszuschlafen, länger liegen zu bleiben. Auch ohne Weckerrasseln wirst du noch wochenlang genau zu der Zeit am Morgen die Augen öffnen, zu der du fast ein halbes Jahrhundert lang wachgerüttelt wurdest. Ganz automatisch. Ohne Rücksicht auf Verdruss: Egal ob es all die Jahre per Zwillingsglocke eines traditionellen Analogweckers passierte oder ob ein vorprogrammiertes Radio dich sofort mit den Verkehrsmeldungen verärgerte oder gar mit Wasserstandsmeldungen überschüttete.

      Gleichgültig, ob die prügelnde ‚Wake-up-Machine“ ihr Werk tat, oder, etwas zärtlicher, kräftige menschliche Arme an dir zogen. Du wirst künftig ohne derlei Schlafstörungen leben, das schön finden, und trotzdem zeitig wach.

      Der Rentner-Lag der ersten Zeit ist aber kein Grund, die alten Fehler des Frühaufstehens freiwillig fortzusetzen. Denn wenn du dich jetzt, wie gestern noch, mühsam und ächzend in die Senkrechte stemmst, dann weißt du wenige Sekunden später nicht mehr, warum: Du hast ja nichts zu tun!

      Da stehst du dann mit nackten Füßen auf deiner Vorlegeware und siehst am Ende des Läufers tatsächlich so etwas wie den Rand zum besagten schwarzen Loch. Es ist nicht sehr tief und hat einen Boden aus Parkett, Keramikfliesen oder Linoleum. Dir wird schwindlig und am besten legst du dich wieder hin.

      Es mag die anderen Nutzer deiner Wohnung stören, wenn du dich - statt durchzudrehen - zur eigenen Sicherheit noch einmal im Bett herumdrehst. Du nennst es ‚"Nachschlaf nehmen“. Du willst nun so lange schlafen, dösen oder über dein neues Leben sinnieren, bis außerhalb des Schlafzimmers und weiter draußen in der Welt die Rush Hour mit Gewusel, Hektik und Staus vorbei ist.

      Bis in der Küche das Frühstück hergerichtet ist, winters der Schnee vom Bürgersteig gefegt und zur Sommerzeit die Markise herausgefahren wurde. Du hältst dich ruhig, so lange die Autos noch nicht in den Parkhäusern verstaut wurden.

      Lasse doch die Menschen draußen erst ihre Arbeitsplätze einnehmen, bevor du beginnst, deine Welt zu retten. Morgens um 7 ist die Welt eben noch nicht in Ordnung, aber so gegen 11 Uhr sollte alles für dich hergerichtet sein.

      Dann ist es gut. Deinen Lieben kannst du versichern, dass sich dein Schlafrhythmus, mit welchem Ergebnis auch immer, noch einspielen wird. Sie sollen sich keine Sorgen machen. Du bist kerngesund.

      Und geräuschempfindlich bist du, im Alter mehr denn je. So lange du ruhst, sind in der Wohnung die Türen und Fenster geschlossen zu halten. Das Reinigen der Zimmer, der Abwasch vom Vorabend und der Schleudergang der Waschmaschine mögen bis auf Weiteres warten. Die morgendlichen Dezibel 60+ daheim sind vorerst bitte auf Zeiten zu legen, zu denen du das Badezimmer erreicht hast. Und dies nicht nur mal kurz zum Wasserlassen, sondern in der erklärten Absicht, es bis zu deiner hygienischen Vollendung zu besetzen. Etwa für eine gute Stunde.

      Lässt sich deine Frau nicht darauf ein, dann sind zielführende Gespräche hilfreich: Sondierungen, Abklopfen des Mach- und Erreichbaren, Vereinbarungen. Es entsteht eine auf die Wohnung reduzierte Hausordnung mit Uhrzeiten und Tabelle: Wer macht wann welche angeblich unvermeidbaren Geräusche? Welche kann man mindern, welche auf deine Wachzeit verschieben?

      Die Erfahrung zeigt, dass sich im Zusammenleben der Menschen der Schlaf- und Wachrhythmus, die häuslichen Ruhe- und Aktivitätsphasen im Laufe der Zeit von selbst einander immer verträglicher gestalten.

      Nach ein paar Monaten kannst du den Zettel mit den Regelungen von der Kühlschranktür nehmen. Es hat sich jeder in Haus oder Wohnung immer weniger daran gehalten, und keiner hat es bemerkt. Schwer ist halt meistens nur der Anfang.

      Ruheständler entdecken rasch, dass es für sie im Privatbereich viel zu tun gibt. Vielerlei ist über die Jahre der Unlust und Überstunden liegengeblieben, allerlei muss endlich einmal entmistet und aufgeräumt werden. So viele wichtige Arbeiten sind zu erledigen. Die Crux ist freilich: Nichts davon ist dringend, nichts und niemand drängt - nicht einmal die Zeit.

      So bleiben die Altakten über weitere Monate hinweg in ihrem verstaubten Schrank. Die messimäßig missbrauchte Garage muss weiter aufs Ausmisten warten. Zum Autowaschen ist das Wetter zu schlecht, oder zu gut. Die immer wieder aufgeschobenen Kleinreparaturen in Wohnung und Haus werden weiterhin aufgeschoben.

      Vielleicht kommt der damit beauftragte Fachhandwerker ja doch noch irgendwann. Die ungelesenen Bücher werden auf- und wieder zugeklappt, heftig. So sehen sie wenigstens wieder frisch aus an ihrem alten Platz.

      Auch wenn deine Kinder dich dazu ermuntern: Es ist keine gute Idee, die Gattin nun beim täglichen Einkauf begleiten zu wollen; störe ihre Kreise nicht. Niemand hat auf dich gewartet, jeder um dich herum kann schon alles selber – vom Schuhezubinden bis zum Milch in den Kühlschrank stellen. (In 15 oder 20 Jahren darfst du deine Dienste dann sicher mit Erfolg anbieten.)

      Erkläre deinem Gegenüber nicht, wie sie den Einkauf der Lebensmittel effizienter zu gestalten hat, wie die Abstellkammer optimal zu nutzen ist. Führe nicht vor, wie man den Staubsauger wirkungsvoller durchs Zimmer führt. Lasse die Bilder an den Wänden hängen dort, wo sie schon immer hingen. Sie hängen übrigens nicht plötzlich schief.

      Versuche also nicht, dich anderen bei der Bewältigung des Häuslichen nützlich zu machen. Man wird es für vorwitzige Einmischung halten, für eine störende Dummheit oder gar eine Frechheit, die an den Grundfesten der Beziehung rüttelt. Das könnte böse enden.

      Du lernst als frischer Ruheständler, gerade deine alte Arbeit loslassen zu müssen. Die Erfahrung, dass du auch anderweitig nicht gebraucht wirst, mag dir weh tun. Du entscheidest, ob der Entzug dich schmerzt oder die Menschen trifft, die dir nahestehen.

      Wirst du freilich ausdrücklich für Besorgungen vor die Tür gebeten, mit Einkaufszettel und festem Auftrag, dann zögere nicht. Wer dich da von montags bis freitags immer mal wieder aus der Wohnung komplimentiert, dir also den Eindruck von Nützlichkeit vermittelt, der meint es gut mit dir. Und gut mit sich.

      „Wenn man plötzlich alles darf,

      hat man den Spaß der Selektion.

      Doch ist an Vielem kein Bedarf.

      Denn das meiste hast du schon.“

      Und mit dem Rest der Welt. Denn deine Frau entlastet den Samstag, an dem sich in den Einkaufsstätten notgedrungen die Berufstätigen drängen. Die Mitarbeiter und Kunden dort sind jedem Rentner dankbar, der sich nicht vordrängelt und erst gar nicht in die City geht, wenn „alle“ dort einkaufen.

      Du hast Verständnis für diejenigen, die von Montag bis Freitag nicht frei haben, weil sie berufstätig sind und sich darüber mokieren, wenn es auch samstags in der City rentelt. Schließlich hast du dich bis vor kurzem noch selbst über die schlurfenden Alten geärgert, die hilflos vor den Regalen stehen und an der Kasse unbedingt mit ganz viel Kleingeld bezahlen wollen.

      Du solltest Verständnis aufbringen für die Freude deiner Lieben darüber, dass sie für gewisse Zeiten alleine in den eigenen vier Wänden sind.