Peter P. Karrer

Lord Geward


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Arm.

      Bei jedem Wanderstopp ramme ich einen in den Boden, in der Hoffnung meine zurückgelegte Strecke später peilen zu können.

      Während der stundenlangen Wanderung denke ich an Albert Einstein.

      Wie war das? Zwei Parallelen treffen sich in der Unendlichkeit, Raumkrümmung und lauter so Sachen, von denen ich noch nie besonders viel verstand und zugegebener Maßen auch nie besonders interessierten.

      Immer wieder drehe ich mich um und stelle fest, meine Wanderroute gleicht eher einem Zickzackkurs als einer geraden Linie, aber wenigstens halbwegs in eine Richtung: nach Westen. Meine Sehschärfe aber habe ich weit überschätzt. Schon nach kurzer Zeit kann ich meine ersten Markierungen nicht mehr sehen. Mein Experiment, zumindest der Teil des Peilens, ist kläglich gescheitert.

      Nach mehreren Tagen erkenne ich resigniert, auch mein Vergleichsast ist wertlos. Einzig und allein meine Erinnerung hilft mir weiter. Täglich gehe ich einen ähnlichen Weg, treffe auf den selben, den gleichen, oder einfach nur ähnlichen See, aber nie finde ich meine alten Markierungen am Lagerplatz.

      Leichte Veränderungen entdecke ich immer, oder ich bilde sie mir ein. Einmal ist der See breiter, ein anderes Mal sind die Bäume größer.

      Die einzige, wenn auch wichtige Erkenntnis des tagelangen Experimentes, sind die bisher immer reichlich mit Früchten gefüllten Sträucher.

      Mein einziger Trost: wenigstens finde ich genug zu Essen.

      Nach weiteren vier Tagen sinnloser experimenteller Wanderung ändere ich meine Richtung um zirka neunzig Grad, Richtung Norden. Oder ist es Süden? Mit den Himmelsrichtungen bin ich mir immer noch nicht sicher.

      Egal, wichtig ist die Marschrichtung um neunzig Grad zu verändern - hoffe ich.

      Auch dieser letzte, verzweifelte Versuch änderte nichts. Am Abend finde ich wieder meinen mittlerweile verhassten See mit dem verteufelten Ufer und den immer gleichen reifen, blauen Beeren.

      Wie hasse ich jetzt diese kleinen klebrigen Dinger!

      Den einzigen Trost gibt mir mein Schwert, das sich nicht verändert, das nicht wiedergeboren wird. Ich kann ganz deutlich die Abnutzungen erkennen, die entstanden, als ich vor werweiß wie vielen Tagen den Felsen mit meinen Initialen kennzeichnete.

      Der heutige Tag ist der Schlimmste, seit ich diese Welt betrat oder besser in diese Welt geschleudert wurde.

      Seit dem Morgen jagen mich unkontrollierbare Tagträume, gefolgt von tiefer Niedergeschlagenheit. Abends in meinem verhassten, immergleichen Lager sinke ich in einen Strudel von Depressionen und wirren Träumen.

      In endlosen Albträumen jagt mich ein schwarzer Ritter mit dem Gesicht Abraham Lincolns, ich werde vor ein Gericht gestellt und meine Kaffeemaschine klagt mich wegen mangelnder Fürsorge an und für das Eindringen in Abraham Lincolns Kindheit werde ich zu ewiger Wanderschaft verurteilt...

      Gott, was für Visionen muss ich erleiden!

      Meine liebgewordene Gewohnheit, im See zu baden, fällt heute aus.

      Ich weine, schluchze und schreie mit aller Luft meiner Lungen, will diesen Horror nicht einmal mehr verlassen, will nur noch sterben, nie mehr aufwachen, nie mehr wandern, nie mehr an einen See ankommen, einfach nur sterben.

      Aber was, wenn ich bereits tot bin? Wenn dies hier, das ewige Leben ist. Mein Gott, was soll ich nur tun?

      Hilf mir Gott, bitte hilf mir!

      Wut und Verzweiflung übermannen mich. Bis zur völligen Erschöpfung schlage ich wie ein Verrückter mit meinen Fäusten auf den blanken Boden ein. Außer Atem, von Tränen geschüttelt sinke ich erschöpft und niedergeschlagen in den immer gleichen warmen gelben Sand.

      Auch in der nächsten Nacht plagen mich Horrorfantasien und Panikattacken. In endloser Trauer im Meer des Selbstmitleides ertrinkend, den Morgen herbeisehnend, wälze ich mich durch die nicht enden wollende Nacht.

      Ich zähle die Tage nicht mehr, fürchte mich nur noch vor den Nächten, wache bis zum Morgen und verstecke mich vor der nächsten Nacht.

      Nach Tagen der Lethargie trifft mich der Blitz der Realität. Die Beeren, sie sind weg, wachsen nicht mehr nach! Jetzt muss ich verhungern.

      Das Ende der Wanderschaft ist gekommen.

      Diese Erkenntnis löscht, wie eine eiskalte Dusche nach einem heißen Saunagang, jede Depression. Ich bin hell wach.

      Ich will überleben, nicht sterben, nicht in dieser endlosen Kulisse, muss zurück zum letzten Lagerplatz, muss ihn finden, muss neue Früchte finden, muss muss muss...

      Ich bade ausgiebig und sortiere meine spärliche Ausrüstung. Am Abend von meiner Wanderung zurück schlafe ich, zu meiner eigenen Verwunderung, ruhig und ohne Depressionen ein. Meine letzten Gedanken vor dem Einschlafen sind: Ich lebe, werde überleben, werde in mein Leben zurückkehren, werde diese Welt verlassen.

       7. Neue Welt

      Ich erwache früh und schlagartig.

      Träume ich wieder, oder was ist geschehen?

      Es ist noch früh am Morgen, aber die Luft ist bereits drückend heiß. Ich setze mich auf, mein Kreislauf hat Probleme mit dem plötzlichen Erwachen. Ich muss mich aufstützen und das Bild vor meinen Augen beginnt in einem Strudel von Farben zu verschwimmen. Ein seltsames Knistern und leichtes Schwindelgefühl signalisieren mir deutlich, nicht zu träumen, sondern nur zu schnell aufgestanden zu sein.

      Langsam bewältigt mein armes Herz die neue Belastung und auch Kreislauf und Atmung stabilisieren sich im rhythmischen Einklang.

      Ich sehe mich um, begreife nicht, versuche meinen Augen zu misstrauen, blicke nochmals umher, aber immer das gleiche Bild.

      Das Ufer ist verschwunden, die Bäume sind in dornige Monster verwandelt und der See gleicht einer staubtrockenen Sandwüste.

      Schon jetzt empfinde ich den Schmerz, die alte Welt, die endlos, aber doch friedlich, sanftmütig und voller Früchte und mir vertraut war, verloren zu haben. Ich vermisse das morgendliche Bad im vertrauten See und auch das üppige Beerenfrühstück dürfte bis auf weiteres ausfallen.

      Die Sträucher, meine Verbündeten gegen Hunger und Tod, haben sich in karstiges Unterholz verwandelt. Keine Beere, die mein Gesicht süß und klebrig besudelt, kein Wanderproviant, der im Laufe des Tages meine Taschen durchtränkt, nie mehr das wunderbare Gefühl, der saftigen, zwischen Zunge und Gaumen zerplatzender Früchte.

      Nie mehr, nie mehr!

      Mit aller Kraft bekämpfe ich den Tagtraum. Langsam, ganz langsam befreie ich mich von Panik und Verzweiflung und versuche die neue Realität zu begreifen, versuche nicht den Horror, sondern das Glücksgefühl über den Sieg, die alte Welt verlassen zu haben, in mir zu wecken. Zwinge mich, die neue Welt als Chance zu sehen.

      Trotzdem, die neue Zukunft macht mir Angst.

      Ich will zurück zu meinem See, Früchte essen, schwimmen, träumen. Einfach nur leben.

      Die Gedanken ziehen sich, wie eine Spirale, zu einem einzigen Punkt zusammen: Was kann ich essen? Wie kann ich hier überleben? Oder bin ich jetzt endgültig tot und ein Verdammter in der Hölle? Kein Fegefeuer, kein Teufel, aber unendliche Trockenheit.

      Tagträume, Hirngespinste!

      Die verdammten Tagträume greifen immer wieder nach mir.

      Ich mache mich auf den Weg und hoffe darauf, die Träume hinter mir zu lassen. Vielleicht finde ich auch etwas Essbares.

      Instinktiv prüfe ich den sicheren Sitz meines Schwertes. In der friedlichen Welt des Sees, meinem verlorenen kleinen Paradies, schleppte ich die todbringende Waffe nur mangels anderer Besitztümer, unnütz mit mir, aber hier ist es sicher anders. Ich fürchte, hier wird mein Leben von ihm abhängen.

      In Gedanken stelle ich mir immer wieder die selben Fragen: Wie bin ich in diese