Peter P. Karrer

Lord Geward


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salzigen Tränen läuft über mein sandverkrustetes Gesicht. Die letzten Kraftreserven sind aufgebraucht, ich bin am Ende.

      Ich knie erschöpft, halb auf meinem Umhang, ihn immer noch mit der linken Hand umklammernd, im Sand. Mein rechter Arm hängt kraftlos nach unten und meine abgekämpfte, von Dornen zerfledderte Faust hält immer noch kraftlos das schwere, im Sand liegende Schwert fest.

      Es ist vorbei, der Horror hat ein Ende, jetzt werde ich sterben, aber ich wollte doch leben, nur leben!

      Ich will zurück, zurück zu meinem See, zurück zu den sanften Früchten. Ich war im Paradies und ich wollte daraus entfliehen. Mein Gott, wie dumm kann ein Mensch sein? Ich möchte umdrehen, einfach zurückgehen, wandern, wandern ins Paradies, gesund, satt und ohne Schmerzen.

      Traumatisiert gehe ich weiter. Meinen Umhang und mein Schwert schleife ich kraftlos im Sand hinter mir her. An die Sonne, die meine Haut verbrennt, denke ich nicht, die roten Auswüchse der aufplatzenden Haut sehe ich nicht, die Trockenheit in meinen Rachen spüre ich nicht.

      Nur zurück, zurück ins Paradies.

      Die Orientierung schwindet mit jedem Schritt. Ginge ich im Kreis, ich bemerkte es nicht.

      Jeder Schritt erfordert hundertprozentige Konzentration und astronomische Anstrengung.

      Die Füße über den Sand zu bewegen wird immer schwieriger. Meist schleife ich nur noch über den Sand, stolpere, schlage längs auf dem heißen Sand auf, sauge den aufgewirbelten Sand tief durch beide Nasenlöcher, schnappe einen Mund voll Sand und speie ihn ohne große Wirkung wieder aus.

      Meine Augen spüren den feinen Quarzstaub längst nicht mehr und die Gedanken an die scharfen Nadelstiche der Sonne, die mein Fleisch zerstören, verweigere ich.

      Auf allen Vieren krieche ich zurück, zurück ins Paradies, nur zurück!

      Vor einem einsamen Dornenbusch, rund um ihn nur Sand und Weite, halte ich inne, unfähig zu entscheiden, rechts oder linksherum, den Busch zu umgehen. Mein Verstand ist wie gelähmt.

      Da ist die Grenze, die Gitter meines Käfigs, die Grenze, die ich suchte und die zu bekämpfen, ich jetzt zu schwach bin.

      Der Busch, der verdammte Dornenbusch ist die Grenze.

      Unfähig mein Schwert aus dem Sand zu heben, ziehe ich es näher an meinen sterbenden Körper.

      Der Dornenbusch wandert über den Sand. Seine Dornen bewegen sich dabei wie die Stacheln eines Seeigels. Immer größer baut sich der Busch mit seinen höllischen Fratzen vor mir auf, um mich zu umklammern, um mich zu vernichten.

      Alle Dornen zeigen auf mich und verhöhnen meine Schwäche.

      Jetzt erkenne ich sie, es sind Beeren, saftige, blaue, riesige Beeren.

      Ich muss nur aufstehen. Nur noch ein Mal. Sie pflücken, überleben.

      Meinen Arm ausstrecken.

      Der Busch bewegt sich wieder. Er weicht vor mir zurück, will mir die Früchte nicht gönnen.

      Oder sind es nur Dornen?

      Oder Stacheln?

      Früchte? Blaue Beeren?

      Nein, doch nur harte, trockene Dornen.

      Ich habe keine Kraft mehr.

      »Bitte lieber Busch bleib bei mir, komm zurück, ich will Dir kein Leid antun, nur Deine Früchte will ich essen.«

      Immer weiter dämmern meine Gedanken, in ein Meer des Vergessens und des Wahnsinns. Kein Gedanke macht mehr Sinn, nichts mehr ergibt einen Zusammenhang, nur noch... Zwecklosigkeit... Sinnlosigkeit... Leere...

      Das absolute Nichts hat mich eingeholt.

       8. Leben

      Kalter Regen schreckt mich auf.

      Instinktiv greife ich nach meinem Umhang, der nass und muffig neben mir in einer kleinen Pfütze liegt. Verwirrt ziehe ich ihn über und lege auch mein Schwert, in zwischenzeitlich gewohnter Routine, an.

      Ganz allmählich finden meine Gedanken einen leichten Faden der Erinnerung an die tödliche Trockenheit, die Hitze und die höllischen Qualen der Sonne. Ich untersuche meine Arme, entblöße meine Schultern und Beine: nicht die kleinste Verbrennung. Die tiefen Narben, welche die Sonnenstrahlen unbarmherzig in mein Fleisch fraßen... nichts mehr davon zu sehen. Sicher, die Haut ist aufgequollen, aber nur vom vielen Regen. Gott weiß, wie lang ich hier schon liege.

      War alles nur ein weiteres Kapitel, in einem teuflischen Albtraum?

      Wer schreibt das Drehbuch zu diesem Horror?

      Mit beiden Händen schöpfe ich vorsichtig, ohne Sand und Steinchen mitzuschwemmen, aus einer größeren Wasserlache frisches Regenwasser. Nach den ersten Schlucken bin ich sicher. Diese Kehle war noch vor kurzen staubtrocken und dieser Körper nahe am verdursten und vor der totalen Austrocknung.

      Die Gedanken klären sich und ich bin sicher, ich bin wieder in einer neuen Welt. Offensichtlich springe ich zwischen Welten wie Blätter im Sturm; hin und hergetragen von teuflischen Winden, die ich nicht begreife. Ein Reisender ohne Ziel.

      Mein Großvater führte Touristen von Zimmer zu Zimmer. Bin ich ein Reisender, der von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit geworfen wird? Ein Pauschaltourist, der alles sehen, alles ertragen muss ohne seine Reise abbrechen oder stornieren zu können? Ohne die Möglichkeit aus dem rasenden Horrorbus auszusteigen, um einfach nach Hause gehen zu können.

      Auch wenn ich aussteigen könnte? Wo oder was ist mein Zuhause, in das ich heimkehren könnte? In die wilde Landschaft Usbekistans, ins ewige Eis Grönlands? Soll ich lieber mit König Artus in die Schlacht ziehen oder lange Tage im Büro verbringen, um die horrenden Unterhaltskosten für meinen Daimler aufzubringen?

      Meine Gedanken schließen den Kreis und ich bin wieder am Anfang.

      Wer bin ich? Wo bin ich? Was bin ich?

      Die drei großen „W“ - Zeichen meiner Verzweiflung. An einem anderen Ort oder vielleicht nur in einer anderen Zeit - nicht einmal das weiß ich - stehen sie für World Wide Web. Ich aber kann nur Verzweiflung, Wut und Einsamkeit darin sehen.

      Es regnet immer noch still und ergiebig.

      Mein Umhang riecht streng nach schmutzigem, schwitzigen Mensch. Den Geruch habe ich scheinbar aus der letzten Sehenswürdigkeit, als Souvenirjäger, mitgebracht.

      An die alte Gewohnheit anknüpfend und um überhaupt irgendetwas zu tun, mache ich mich auf die Beine, die neue Welt zu erkunden.

      Die neue Welt: eine wunderschöne Berglandschaft, den Südtiroler Alpen nicht unähnlich, bietet zumindest genug Wasser und die Ernährungsfrage in dieser üppigen Vegetation dürfte keine Schwierigkeiten bereiten.

      Ich muss lernen, mein Dasein als Wanderer zu akzeptieren. Immer die gleiche Prozedur: Erwachen, orientieren, Wasser und Verpflegung organisieren. Eigentlich doch kein schlechtes Leben? Wenn ich auch zugeben muss, der Wüstenaufenthalt war nicht nach meinem Geschmack und sollte beim Reiseveranstalter reklamiert werden.

      Reiseveranstalter? Wer organisiert solche Trips?

      Mich meines üblen Geruchs erinnernd, suche ich einen der unzähligen kleinen Bäche, reinige meine spärliche Kleidung, wasche mich selbst und unterziehe auch meine Stiefel einer gründlichen Reinigung. Das Fassungsvermögen meines Schuhwerks ist riesig. Ich fülle jeden Stiefel mehrmals mit Wasser und bewundere beim Ausgießen die beträchtliche Menge Sand, die mit ausgeschwemmt wird. Nach einigen Wiederholungen der Prozedur und gleichzeitigem wenden meines Umhanges, beschließe ich der Reinlichkeit Genüge getan zu haben.

      Um nicht noch länger nackt und frierend am Bach zu stehen, in der vergeblichen Hoffnung der Regen könnte aufhören, ziehe ich meine tropfenden Sachen wieder an. Der Umhang, schwer wie eine Rüstung, ist nach meiner Waschaktion endgültig durch und durch nass.

      Eine nasse Spur hinter mir her