Peter P. Karrer

Lord Geward


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ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Bewegung.

      Langsam weicht meine Angst einer panischen Unsicherheit. Splitternackt, bäuchlings, in nur fünfzig Zentimeter tiefen Wasser vor einem Präsidenten zu liegen...

      Vor Abraham Lincoln.

      Meine Scham lähmt mich beinahe bis zur Bewusstlosigkeit. Ich winde mich wie ein Fisch in einem auslaufenden Aquarium.

      Ich kann nicht aufstehen, nicht vor und nicht zurück und mich auch nicht einfach im aufgewirbelten Wasser auflösen. Ich bin gefangen. Ein Gefangener des Präsidenten der Vereinigten Staaten.

      Gefangen wie hinter meinem Daimler, ausgesetzt der Schmach und der Peinlichkeit, harre ich der Dinge, die diese Welt für mich bereithält.

      Die vielen Tage des alleine seins, nahmen mir jede Scham. Jetzt überrollt sie mich wie eine Lawine.

      Nackt vor einem Präsidenten, vor diesem Präsidenten!

      Ich sitze fest in meinem Schlammloch, nackt, nur vom grauen Moorwasser umspült, vor Abraham Lincoln. Mein Gott, lasse es einen Tagtraum sein, lass mich aufstehen und wieder alleine sein. Mein Gott, hilf mir!

      Die Schritte Abraham Lincolns zurück zu meinem Lagerplatz, holen mich in die Wirklichkeit zurück. Nein, das kann nicht sein, ich muss mich irren.

      Ein Mann, der wie kein anderer, gute Geschichte schrieb, die Welt für immer veränderte, ein Mann der... zu meinem Lager geht, meinen Umhang über seinen rechten Unterarm legt, zum Wasser zurückkehrt und ihn in bester Butlermanier vor mir ausbreitet.

      In Sekundenbruchteilen springe ich aus meinem Gefängnis und werfe mir, leicht zur Seite gedreht, den Umhang über.

      Zu mehr als wiederholtes Stammeln, »Sir, Sir«, ist meine, vom Schock gelähmte Zunge und mein ausgetrockneter Gaumen nicht fähig.

       5. Land des Vergessens

      Am Lagerplatz angekommen, versuche ich meine unpassende Kleidung vergeblich durch meine Lederstiefel etwas zu verbessern. Ich unternehme sogar den sinnlosen, wie auch lächerlichen Versuch, die Schnürung besonders gleichmäßig zu binden.

      Wortlos nimmt Abraham Lincoln neben mir auf einem kleinen Felsen Platz, besonders darauf bedacht, die Entfernung zu meinem Schwert so groß wie möglich zu halten.

      Hätte mein Besucher nicht das Wort ergriffen, ich bin sicher, ich hätte bis ans Ende aller Zeiten geschwiegen.

      Formvollendet stellte er sich mit einer leicht erhebenden Bewegung, ohne Titel und Ämter, einfach nur als Rechtsanwalt Abraham Lincoln vor.

      Ich versuche meinen unbedeutenden Namen möglichst unscheinbar, leise zu nuscheln und deute eine leichte Verbeugung an, immer mit der Angst im Kopf unter meinem Umhang noch nackt zu sein.

      Nackt vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten! Ich hoffe oder bete immer noch, nur aus einem peinlichen Traum zu erwachen. Wie schön wäre es jetzt, in meinem Bett aufzuwachen und den Traum mit einem kalten Glas Cola hinunterzuspülen und abends in der Stammkneipe die tolle Geschichte nach einigen Gläsern Bier zum Besten zu geben.

      Welch ein wunderbarer Gedanke, aber ich bin hier, auch wenn ich nicht weiß warum und zittere vor Scham und Unsicherheit.

      Langsam wird mir bewusst, ich trage seit einer Woche keine Unterwäsche mehr und auch den Umhang nur tagsüber zum Schutz vor der Sonne.

      Abraham Lincoln gibt mir ein Zeichen mich zu setzen.

      »Sir, es ist nicht notwendig Euren Namen zu verbergen, der Eure ist sicher nicht weniger ehrenwert, als der meine.«

      Die Blutröte schießt mir ins Gesicht, dieser Mann durchschaut meine Unsicherheit, liest in meinen Ängsten, wie in einem offenen Buch.

      Nein, der Mann ist kein Hellseher, meine Ängste sind nur so offen, es bedarf nichts Übersinnliches, um mich zu durchschauen.

      »Sir ich, ich wollte nicht...«, stottere ich.

      Auch diesen kläglichen Versuch mich zu rechtfertigen, bricht er mit einer beinahe zärtlichen Handbewegung ab. Ein Lächeln blitzt um seinen bartumrundeten Mund und seine Augen verengen sich zu einem freundlichen Großvatergesicht.

      Dieser Mann strahlt ein Gefühl von Stärke und Geborgenheit aus, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe.

      Unwiderruflich spüre ich, dieser Mann ist kein Fremder und auch kein Feind, dieser Mann ist ein Freund, nicht nur der einzige in dieser Welt, sondern auch der beste Freund, den ich je hatte.

      Auf meine Kleidung blickend, fragt er: »Eine interessante Kleidung die Ihr tragt, Sir. Wie lange seid Ihr schon hier? Ich habe Euch erst vor zwei Tagen entdeckt.«

      Ich überlege kurz, dann antworte ich: »Ja Sir, Sir, ähm Sir, ich glaube, ich bin sechs oder sieben Tage oder Wochen hier, Sir oder so, Sir.«

      Mit einem noch breiteren Lächeln erklärt er mir, ich bräuchte nicht nervös zu sein und auch meine Angst vor ihm wäre unbegründet, er wäre auch nur ein Wanderer durch die Welten.

      Ein Wanderer... auch nur... auch nur ein Wanderer durch die Welten, schießt es mir durch den Kopf. Auch er verwendet das Wort, das Wort das mir seit Tagen durch meine armen Gehirnzellen jagt.

      Vielleicht bin ich doch nicht verrückt!

      Außer »Ja, Sir,« und »Selbstverständlich, Sir,«, bringe ich keine weiteren Worte über meine Lippen.

      Mit nachdenklicher Miene, den Kopf leicht nach unten gebeugt, erklärt er mir in beispielhafter Ruhe: »Ihre seltsame Kleidung könnte ich noch verstehen, aber der kurze Aufenthalt, wie Ihr behauptet, passt nicht zu Eurer Kleidung. Ihr müsstet mindestens dreihundert oder besser vierhundert Jahre hier sein und nicht wie Ihr sagt, wenige Tage oder Wochen! - Ich selbst bin über zweihundert Jahre hier.«

      Den Schrecken, der mein Gesicht verzerrt, bemerkt er sofort.

      »Wusstet Ihr das nicht?« fragt er.

      Ich schüttle nur den Kopf. Auf mein unhöfliches, aber verzweifeltes Kopfschütteln reagiert er nur mit einem ebenfalls langsamen Kopfschütteln Richtung Ufer.

      Lange sitzt er nur schweigend, den Blick auf den ruhigen See gerichtet, auf seinem Stein. Von Zeit zu Zeit knetet er gedankenverloren seine Hände, um Augenblicke später wieder zu erstarren und den See weiter schweigend zu fixieren.

      In mir wächst der Verdacht, auch er droht, in die schrecklichen Tagträume zu versinken, doch nach einem endlos tiefen Atemzug, schaut er mich lang an und sagt: »Sir, ich glaube etwas ist schiefgegangen. Ihr gehört nicht hierher. Ich bin schon lange hier oder auch wieder nicht; für mich hat man im Augenblick nur diese Verwendung, aber Ihr seid hier falsch.«

      »Ja Sir, Ihr habt Recht, ich gehöre nicht hierher. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin, wer ich bin, oder wann ich bin. Immer wieder träume ich von einer Kindheit, die ich so niemals hatte oder von Verwandten, die nicht einmal in meinem Jahrhundert lebten. Alles ist wie in einem Albtraum«, sprudelt es wie ein Wasserfall aus mir heraus und ich bin froh, meine quälenden Fragen endlich einem Menschen stellen zu können, auch wenn ich mir keine Antworten erwarte. Oder vielleicht doch?

      Lincoln beugt sich zu mir und erklärt mir energisch: «Sir, Ihr hattet keine Albträume! Im Land des Vergessens gibt es keine Albträume. Eure Träume sind nur Eure Erinnerungen.«

      »Das kann nicht sein! Ich träumte von einer Kindheit - vor hunderten von Jahren - im ewigen Eis und als Erwachsener lebe ich dann im einundzwanzigsten Jahrhundert... das kann nicht sein, das gibt es nicht!« falle ich ihm unhöflich und barsch ins Wort.

      »Du hast Recht, es kann nicht sein und doch ist es so. In einer anderen Zeit oder in einer anderen Welt ist es möglich. Du bist im Land des Vergessens, nur... nur... Du dürftest nichts von Deinen anderen Ich’s wissen, Du dürftest Dich nicht erinnern. Warum Du Dich erinnerst, kann ich nicht sagen!« seufzt er, mit echter Anteilnahme.

      »Ich verstehe das nicht, Sir, wollen Sie mir erzählen,