Peter P. Karrer

Lord Geward


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im Stehen - mit meinen fremden Füssen - einige weitere Schritte wagend, erkenne ich immer mehr: Ein stiller See, eingerahmt von mächtigen Birken, die sich rhythmisch im Wind wiegen und von hohem Schilf am Ufer begleitet werden. Eine steht direkt im Wasser und ihre tiefhängenden Äste streicheln die glatte, tiefblaue Wasseroberfläche.

      Mit jedem Schritt erkenne ich mehr und jeder Meter weiter führt mich langsam aus meinen Tagträumen zurück ins Leben.

      Langsam verblassen die Visionen und geben den ersten Erinnerungen Raum. Mit dem Erwachen der klaren Gedanken kehrt auch die Angst zurück, wieder in die Traumwelt abzugleiten. Ich gehe schneller, immer schneller, beinahe laufe ich, um der Traumwelt zu entfliehen, um die Bilder abzuschütteln, die mich nicht loslassen wollen. Wie Spinnenbeine greift die Welt der Träume nach mir, wie Peitschenschläge fühle ich die Verfolgung, aber ich gebe nicht auf, nicht hier und nicht heute.

      Mit jedem Schritt nach vorne eilen mir die Erinnerungen entgegen und die Visionen verblassen. Immer schneller, ich renne, stolpere, überschlage mich, richte mich wieder auf und renne weiter, immer Richtung See, auf der Flucht vor den Träumen. Der See wird zum einzigen Gedanken, zum einzigen Ziel. Der See bedeutet Freiheit. Ja, „Freiheit und Abenteuer“.

      Nein, jetzt ist es kein Traum. Ich weiß es wieder, kann mich genau erinnern, „Freiheit und Abenteuer“, der Werbeslogan meiner Lieblingszigaretten. Ich träume nicht, ich kann mich an alles erinnern, der Bann des Wahnsinns ist gebrochen.

      Ich renne und renne, jetzt sind die Füße, die mich tragen, wieder die meinen. Ich erinnere mich an meine Kaffeemaschine, an meinen Daimler, an den Fahrstuhl. Ich rieche den See und laufe, laufe ins flache Wasser, kämpfe gegen meine eigene Welle, spüre das kühle Nass im Gesicht und als der Widerstand zu groß wird, lasse ich mich flach auf das aufgewühlte Wasser fallen.

      Erlebe wie mein Umhang sich füllt, rieche das Wasser, den feinen torfartigen Geruch nach Moor und Leben.

      Frei von Träumen, endlich frei.

      Langsam wate ich zurück ans Ufer, spüre den weichen Boden, sehe den aufgewirbelten Grund.

      Am sandigen Ufer streife ich meinen mittlerweile bleischweren, vollgesogenen Umhang ab, ziehe meine Stiefel aus und laufe sofort zurück ins befreiende Wasser, das Symbol der Freiheit und Erlösung.

      Schwimme, spüre das vorbeigleitende Wasser - Wasser, das mich am ganzen Körper umspült und streichelt.

      Wasser, das mich befreite!

      Mein Retter, mein Erlöser!

      Wie lange ich schwimme, weiß ich nicht. Als meine Kräfte nachlassen, kraule ich zurück, lege mich unter die Birke, welche mir den Weg in die Freiheit wies und schlafe in Minuten ein.

       3. Go to the West

      Das Erwachen nach einem traumlosen, tiefen Schlaf ist erleichternd und befreiend. Nackt und doch ohne Unterkühlung spüre ich den kühlen Morgen und das feuchte Gras und sehe die noch nieder stehende Sonne. Ich schätze, oder besser vermute, nach dem Sonnenstand, ungefähr zwanzig Stunden geschlafen zu haben.

      Mein Umhang und besonders meine Stiefel sind natürlich immer noch tropfnass. Anstatt sie achtlos hinzuwerfen, hätte ich sie gestern aufhängen sollen. Aber wie hätte ich auch noch daran denken sollen?

      Der erste Versuch meine tropfende Kleidung, möglichst in Richtung der noch schwachen Sonne, aufzuhängen, scheitert kläglich an der Auswahl eines zu schwachen Astes. Es ist unglaublich, wie schwer dieser nasse Umhang ist. Ich versuche erneut den Umhang über drei starke, parallel in Hüfthöhe gewachsene Äste zu spannen und zwei weitere Versuche später hängt er leidlich gegen die warme Sonne. Die hohen, von Nässe dunkel gefärbten Stiefel drapiere ich, beinahe kunstvoll, über einen kleinen Felsen.

      Langsam wird mir bewusst: mein gestriges Hungergefühl war keine Träumerei, sondern die harte Wirklichkeit. Ernährung ist das wichtigste meiner unzähligen Probleme, um das ich mich kümmern muss.

      Keine fünfzig Meter rechts neben mir entdecke ich einen dicht mit dunkelblauen, fast schwarzen Beeren bewachsenen Strauch. Der über zwei Meter hohe Busch ist dicht mit den beinahe kirschgroßen, exakt runden Früchten besetzt.

      Ich gehe auf den Strauch zu; erst jetzt überfällt mich die Angst, die Beeren könnten giftig sein. Im Kampf gegen die aufkeimende Panik, ich könnte verhungern, versuche ich mich an eine alte Fernsehsendung von Malcolm Douglas, den Abenteurer und Überlebenskünstler, zu erinnern.

      Wie war das noch?

      Dann sehe ich Malcolm Douglas vor meinem inneren Auge und mache es ihm gleich.

      Ich pflücke eine der saftigen Beeren und zerquetsche und zerreibe sie auf der unempfindlichen Außenseite meines Unterarmes. Nachdem sich nach mehreren Minuten, die mir wie Stunden erscheinen, keine Rötung zeigt, wiederhole ich den Versuch an der beträchtlich empfindlicheren Innenseite meines Unterarmes, nachdem ich auch hier nach einigen weiteren Minuten keine Hautreizung entdecke, verschärfe ich, wie im Fernsehen gezeigt, mein Experiment, indem ich eine neue Beere zerquetsche und diese unter meiner noch wesentlich empfindlicheren, linken Achsel verteile.

      Auch die neue Wartezeit will nicht vergehen. Immer und immer wieder bin ich versucht, hilfesuchend auf meine längst zerstörte, ach so geliebte Rolex Imitation zu starren.

      Da auch dieser Test hoffnungsvoll verläuft, entscheide ich mich jetzt zum Äußersten.

      Ich lege mir, wie ein Zirkusartist, eine aufgeplatzte Beere auf meine weit ausgestreckte Zunge und balanciere sie einige Sekunden. Starr vor Anspannung, warte ich auf ein verräterisches Brennen, aber nichts geschieht bis ich schließlich, die Ewigkeit nicht mehr ertragend und voller Heißhunger, die Frucht ohne zu kauen, gierig hinunterschlucke. Gelähmt durch ängstliche Panik, sie könnte doch giftig sein, spüre ich erst nach einer Pause den vollsüßen saftigen Geschmack.

      Welch ein Erfolg!

      Guter, alter Malcolm Douglas, Du hast mir das Leben gerettet.

      Die Beeren schmecken beinahe wie Brombeeren im Kleid einer Blaubeere. Die Struktur und das Fruchtfleisch erinnern mich an eine übergroße Johannisbeere, jedoch ohne Kerne, aber ihren Namen kenne ich nicht.

      Gierig schlinge ich sicher Hunderte der kleinen Lebensretter in mich hinein. Später wasche ich mich, Saft- und Fruchtfleisch verschmiert, im nahen See. Satt und frei fühle ich mich, wie Adam im Paradies.

      Langsam, mit dem gestillten Hungergefühl, konzentrieren sich meine Gedanken wieder auf andere Dinge.

      Wo bin ich? Was ist geschehen? Was soll ich tun?

      Mit immer höher steigender Sonne erwärmt sich auch die Umgebung merklich und meine Lebensgeister melden sich langsam zurück.

      Nach einem abkühlenden Bad im See überprüfe ich meine zwischenzeitlich leidlich getrocknete Kleidung und schon stellen sich die nächsten Fragen:

      Woher kommt diese Kleidung, die zweifelsfrei meiner Körpergröße entspricht, aber doch nicht die meine sein kann?

      Was soll das riesige Schwert, das mich brutal aus seiner Scheide anstarrt und mir das Gewicht meines Umhanges nach dem Erwachen erklärt?

      Trotz größter Mühen kann ich mich nicht mehr daran erinnern, ob das Schwert auch mein Begleiter im See war. Ich tröste mich damit, es könnte wohl so gewesen sein... Oder auch nicht.

      Dunkle Gedanken lassen mich noch zögern meinen Umhang mit der schweren Waffe, einem römischen Gladiatoren gleich, zu tragen. Das ganze Bild erscheint mir als zu barbarisch.

      Nach weiteren Minuten des Zweifelns entscheide ich mich schweren Herzens dann doch, mich vom nackten Adam zum furchteinflössenden Römischen Krieger zu verwandeln.

      Wie zum Trotz ziehe ich die Waffe - kampfbereit - aus der dunklen erdfarbenen, zierlosen Scheide. Eine Scheide, die sich so unterscheidet von den goldbestickten, mit Edelsteinen besetzten Hollywood-Requisiten, die ich als Kind im Kino so fasziniert bestaunte.

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