Peter P. Karrer

Lord Geward


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mit zarten, weißen Kumulus Wolken, wirkt friedlich und sauber. Ich atme tief durch. Hungrig saugen meine Lungen den lebensspendenden Sauerstoff ein. Gierig nimmt mein Blut den Sauerstoff auf und verteilt ihn geschickt im ganzen Körper. Jeder Muskel entspannt sich.

      Meine Muskeln entspannen sich, die Atmung wird flacher und ruhiger. Nie in meinem Leben war ich so gelöst, so glücklich. Eine riesige Wolke der Zufriedenheit nimmt mich gefangen.

      Ich rieche das frische, noch vom Morgentau nasse Gras. Es ist herrlich.

      Aber wo bin ich?

      Ich fühle den groben Umhang aus schwerer Wolle und die hohen, bis über die Knie reichenden Stiefel aus dickem, aber weichem Leder, vermutlich Rindsleder, verziert mit goldenen und silbernen Stickereien und seitlich mit festem Garn verschnürt.

      Ich betaste den schweren Ledergürtel, an dem ein unendlich langes Messer, oder doch eher Schwert hängt. Der kalte Stahl muss von minderwertiger Qualität sein, die Oberfläche ist rau und narbig, aber zweifellos ist dieses Schwert im Kampf eine tödliche Waffe und wurde sicher schon oft zum Töten verwendet. Der Griff ist lederbesetzt und mit Edelsteinen und Goldeinlagen verziert.

      Aber wer bin ich?

      Die warme Morgensonne streichelt meine gequälte Seele.

      Moment mal! Wo ist mein Daimler?

      Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

      Was ist ein Daimler?

      Ich kann mich genau daran erinnern: er war etwas wunderbar Schönes. Ich war stolz darauf einen Daimler zu besitzen. Aber was ist ein Daimler?

      Wieder genieße ich das Gefühl der absoluten Zufriedenheit. Meine Gedanken treiben in das unendliche Blau des Himmels.

      Frei, unendlich frei.

      Ich träume in den Tag hinein. Träume von längst vergangenen Zeiten. Zeiten, die mir als Kind durch die Finger rannen, wie Wasser durch ein Sieb. Die endlosen Ausritte mit meinem Onkel, dem Großherzog und meinem Paten, der so stolz auf sein langes Haar war.

      Das wunderbare Gefühl, das erste eigene Pferd zu besitzen.

      Ich spüre die unsichere, nervöse Angst, sich bei der Krönungsfeier König Artus falsch zu verhalten. Nie in meinem Leben sah ich so viele, festlich gekleidete Menschen.

      Eine Krönungsfeier, die an Größe sicherlich einmalig war. Alleine die Umhänge der unzähligen Besucher hätten die ganze Welt bedeckt. Die Edelsteine, sicher mehr als Sterne am Himmel. Die Menge an ausgeschenktem Wein hätte sicher einen See gefüllt. Tagelang wurden ganze Herden an immer wieder frischem Fleisch serviert.

      Eine unbeschreibliche Demonstration der Macht und des Überflusses.

      Und doch kann ich mich an das Gesicht König Artus nicht mehr erinnern und auch Gwennifer ist nur noch eine blasse Erinnerung. Wie ist es nur möglich, solche Menschen einfach zu vergessen?

      Wie wunderbar frisch die Luft jetzt im Frühling ist. Das Gras noch jung, weich und saftig. Die Sonne um die Mittagszeit anschmiegsam und warm. In ein paar Monaten wird die Mittagssonne unbarmherzig, heiß und schattenlos sein.

      In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit wird den Kindern die Mittagssonne verboten. Ozonloch und Krebsgefahr wird man den Horror benennen.

      Hier und Heute besitzen diese Worte keinen Inhalt. Niemand würde sie aussprechen, niemand könnte sie verstehen.

      Aber warum verstehe ich sie? Warum kenne ich solche Worte? Worte, die keiner kennt und keiner spricht.

      Ich versuche mich zu erinnern.

      Auch der Blick auf meine billige Roleximitation, die ich für zwölf Dollar in Hongkong, auf einem meiner gehetzten und überflüssigen Kurzurlaube - Shoppingtouren genannt - erstanden hatte, bringt mir keine Erinnerungen, sondern nur die Trauer über den Tod der geliebten Rolex.

      Der Sekundenzeiger steht still und auch heftiges Schütteln hilft nichts. Meine Rolex wird nie mehr die endlosen Runden seines unruhigen Geistes drehen, nie mehr den Wochentag zeigen, nie mehr die endlosen Stunden zum ersehnten Feierabend verkünden, nie mehr, nie mehr.

      Der Batterietod hat sie jäh eingeholt.

      Vielleicht habe aber auch ich selber meinem chinesischen Begleiter das Lebenslicht ausgeblasen, während ich hinter meinen Daimler, vor den Augen meines Nachbarn, flüchtete?

      Mein Daimler, was war mein Daimler?

      Ich kann mich nicht erinnern. Aber der Gedanke daran erfüllt mich mit Wärme und Zufriedenheit. Daimler, es muss etwas Wunderbares sein.

      Die Erinnerung daran ist wie ausgelöscht.

      Meine Eltern erklärten mir einmal, »Großvater hat Alzheimer, er vergisst alles.«

      Habe auch ich Alzheimer, die Geißel des Vergessens und der Einsamkeit?

      Mein Großvater, ein hünenhafter Mann, fast ein Riese. Als Kind glaubte ich immer, er sei ein König, da er in einem riesigen Schloss wohnte.

      Später verstand ich, dass er nur als Verwalter täglich mit offenen Rechnungen und schlampigen Handwerkern zu kämpfen hatte, oder bei Bedarf, gleich Klempner, Gärtner und Fremdenführer für Touristen ersetzte.

      Touristen, Touris nannte er sie, die alle nur das „wunderbare“ Schloss bestaunten und er dagegen nur über die schier unlösbare Aufgabe nachdachte, weitere staatliche Zuschüsse für das „wunderbare“ Schloss zu bekommen, um wenigstens die Kreditzinsen für die letzte Fassadenrenovierung begleichen zu können.

      Touristen, die jeden Stuhl mit Hochachtung umkreisten und er, der nur die nächste Inventur mit über zehntausend einzelnen Positionen sah.

      Touristen, die jedes Bild mit einem »Oh!« und einem »Ah!« belegten und Großvater nur daran erinnerten, dass die Rechnung des Restaurators auch seit über zwei Monaten fällig ist. Touristen, die jede Tischplatte mit ihrem Zeigefinger auf Ebenheit und Rauhigkeit überprüften, mit der gleichzeitigen und lautstarken Ermahnung an ihre Kinder: »Nichts berühren, nur mit den Augen schauen.«

      Einen Verwaltungsbeirat, dem er jährlich Rechenschaft schuldig war und der ihn in jährlicher Tradition, zu mehr Sparsamkeit ermahnte.

      Mein Großvater, der König eines Reiches aus Kontoauszügen, Mahnungen und Kostenvoranschlägen, die sowieso nie eingehalten wurden.

      Ein König mit einem Volk, das nur daran dachte, Unmengen an Kaugummipapieren und Schokoladenresten hinter Schränken und Leuchtern verschwinden zu lassen, aber penibel darauf bedacht war, ihre Kinder ordentlich zu kleiden und sie, um Rechtschaffenheit zu präsentieren, im Minutentakt ermahnten: »Mach Deine Hose nicht dreckig! Pass doch auf Dein Kleid auf! Finger aus der Nase! Mach den Mund zu, wenn Du kaust! Hample nicht so rum! Du benimmst Dich wie ein Baby!«

      Ein König, der mich immer daran erinnerte, niemals Betriebswirtschaft zu studieren: »Lerne was vernünftiges!«

      Ein König in der Gefangenschaft der tödlichen Krankheit.

      Aber ich habe kein Alzheimer.

      Ich kann mich erinnern! Erinnern an meine Kindheit. Erinnern an die tagelangen Fahrten mit meinem Vater durch das ewige Eis Grönlands. Die Robbenjagd war nicht Vaters Leidenschaft, aber überlebenswichtig! Auch wenn Vater es nicht zugab, er war der beste Robbenjäger in der ganzen Umgebung, wahrscheinlich im ganzen Land.

      Die Gedanken an die tagelange Jagd im unendlichen Eis lassen mich noch heute erstarren. Die Angst und die Flucht vor dem riesigen Gebiss des Eisbären werde ich nie vergessen. Flucht, die einzige Möglichkeit zu Überleben. Feuerwaffen oder gar Hubschrauber gab es nicht, nicht in dieser Zeit, nicht in dieser Welt.

      Erst dreihundert Jahre später werden eine Elite von Entwicklern und Tüftlern - finanziert durch mächtige Unternehmen - den ersten serientauglichen, zivilgenutzten Hubschrauber der Öffentlichkeit präsentieren.

      Auch der Schutz durch gemauerte Häuser oder feste Stahlcontainer war unvorstellbar.

      Die