Peter P. Karrer

Lord Geward


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legend, untersuche ich Zentimeter für Zentimeter den kalten Stahl. Ich ertappe mich bei dem lächerlichen Gedanken, ein Firmenemblem und den dazugehörigen Strichcode zu suchen, suche das Made in... und wundere mich über den dumpfen Glanz des tödlichen Stahls.

      Das einzige, was es zu entdecken gibt, sind unzählige Riefen und Einschlagspuren. Diese barbarische Waffe hat sicher schon oft getötet oder einen Feind verstümmelt, um ihn dem langwierigen Tod durch Verbluten, oder Wundbrand preiszugeben.

      Vor meinem inneren Auge laufen grausame Gemetzel, Ströme von Blut, schreiende Opfer, riesige Schlachtplätze, in bester Hollywood-Manier in Szene gesetzt, ab.

      Da ist es wieder. Das Gefühl der Angst, wieder in endlose Tagträume, aus denen es kaum ein Entrinnen gibt, abzugleiten. Auch hier bin ich nicht sicher vor den Träumen, ich muss weiter!

      Weiterziehen, ja - aber wohin?

      Mit Schrecken erinnere ich mich an meinen mangelnden Orientierungssinn und meine Unfähigkeit, mich außerhalb einer ständig beschilderten Großstadt zurechtzufinden.

      Bitter gestehe ich mir ein, gerade noch die vier Himmelsrichtungen zu kennen und bereits die Richtungsbestimmung stellt eine aufwendige Denksportaufgabe dar. Wie war das, die Sonne geht im Westen - nein im Osten auf, dann ist hier Süden. Erleichtert drehe ich mich im Kreis und zeige auf die Himmelsrichtungen, oder wo ich sie vermute.

      Stolz wie ein Schüler nach einer gelungenen Schulaufgabe griene ich einsam vor mich hin und warte auf die Belobigung eines Lehrers, den es hier nicht gibt und wahrscheinlich auch nie gab.

      Meine Marschrichtung ist damit immer noch ein Geheimnis. Ich überlege, welcher Richtung ich einfach folgen könnte und entscheide mich für Westen. Zugegeben, entscheidend waren die Amerikanischen Einwanderer, die ihre neue Heimat auch im Westen suchten.

      Aber Westen ist gut.

      Zur Proviantierung fülle ich meine Taschen randvoll mit saftigen Beeren, die mich, wie ich hoffe, auch genügend mit Flüssigkeit versorgen werden.

       4. Der Fremde

      Mein Entschluss der Sonne zu folgen, erweist sich als weitaus schwieriger, als ich dachte.

      Morgens hatte ich die Sonne im Rücken. Aber die Idee, am Vormittag meinem eigenen Schatten zu folgen, war nicht praktikabel und ab der Mittagszeit ist entgültig keine Orientierung mehr möglich.

      Nach und nach lerne ich nicht nach der Sonne zu gehen, sondern mir einen Punkt am Horizont, einen Hügel, Baum oder Felsen, in westlicher Richtung zu suchen und diesem unerbittlich zu folgen.

      Eine Sorge erweist sich als grundlos: Wasser und süße Beeren gibt es zu jeder Zeit reichlich. Nur meine Verdauung sorgt in peinlicher Regelmäßigkeit für Probleme: wegen den Bergen von Früchten, die ich in mich hineinstopfe und nur mit Wasser verdünne.

      In den nächsten Tagen beschleicht mich immer öfter die Angst, was in ein paar Tagen oder Wochen sein wird, wenn die Beeren ausgereift sind und vertrocknet vom Strauch fallen.

      Das Abschätzen der eigenen Leistungsfähigkeit und die dadurch optimierten Pausen und Marschzeiten werden immer effizienter. Zu meiner eigenen Überraschung gewöhne ich mich schnell an die monotone Regelmäßigkeit der Rast und Marschzeiten und Tag für Tag wächst die zurückgelegte Wegstrecke.

      Auch meine roh und grob aussehenden Stiefel erweisen sich als ausgezeichnete Wanderwerkzeuge. Sie sind weich, aber auch außerordentlich griffig, und der hohe Schaft schützt mich vorzüglich vor niederen Dornen und scharfen Grashalmen.

      Das schwere, unhandliche Schwert, das mich anfangs beim Gehen sehr behinderte, das ich bisweilen verzweifelt mit beiden Armen über dem Kopf, fluchend im Nacken trug, stellt kein Problem mehr dar. Der entscheidende Trick ist, den Takt beim Gehen, einem Betrunkenen gleich, dem Pendeln des Schwertes anzupassen.

      Die Angst vor den gefürchteten Tagträumen wird Tag für Tag schwächer. Jedoch achte ich in den Marschzeiten peinlichst genau darauf, nicht in Gedanken abzuschweifen und mein ausgesuchtes Peilobjekt fest im Auge zu behalten. Nach und nach entwickle ich mich zum wahren Meister im Nichtdenken.

      Nach wie vor habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich mich befinde oder was ich hier soll. Ein Tal reihte sich an das andere. Jedes Tal gleicht dem vorigen; bisweilen glaube ich, im Kreis zu gehen.

      »Dieses Land muss wohl endlos sein.«, spreche ich laut zu mir selbst.

      Am sechsten Tag oder ist es erst der fünfte, versuche ich meine Schrittlänge zu schätzen und zähle meine Schritte. Am Abend erreiche ich wieder einen See, der sich, wie nicht anders erwartet, nur unwesentlich von den Gewässern der Vortage unterscheidet. Ich rechne mir aus und stelle erschreckt fest, dass ich bereits über zweihundert Kilometer in diesem seltsamen Land zurückgelegt haben muss, und das ganze ohne ein Anzeichen von Menschen, Zivilisation oder anderem Leben. Nicht einmal die immer lästigen Fliegen gibt es hier, die sonst jede Gelegenheit wahrnehmen, auf Rücken und Stirn ihre Schweißmahlzeiten einzunehmen. Keine Straßen, keine Wege. Auch die vertrauten Kondensstreifen der Flugzeuge in tausenden Meter Höhe sind nicht auszumachen. Dieses Land ist friedlich und wunderschön, und doch irgendwie leer und tot.

      Eine neue Angst reißt mich mit sich: Wenn ich der einzige Mensch, das einzige Lebewesen in diesem unendlichen Land bin, der einzige Mensch auf der Welt??? Was dann?

      Bin ich der erste Mensch? Aber wo bleibt Eva? Oder bin ich der letzte Mensch?

      Ja, ein Atomschlag, das Gleichgewicht der Kräfte, gegenseitige Abschreckung durch totale gegenseitige Vernichtung hatte versagt.

      Ja, so muss es sein! Die Menschheit ist ausgerottet und alles Leben ist tot.

      Ich bin der Einzige, der Letzte, der Verdammte, verurteilt als mahnendes Beispiel zu wandern bis ans Ende aller Zeiten.

      Welches Ende? Was ist am Ende? Wie ist das Ende?

      Verdursten und Verhungern, wenn keine Beeren mehr reif sind! Steht der Wahnsinn am Ende, wartet er schon auf mich? Lauert er im nächsten Tal, am nächsten See?

      Alleine, der Einzige, der Letzte.

      Am Ende, zerfressen von tödlicher Strahlung.

      Nicht der Wanderer, nicht der Römische Krieger, nur das radioaktiv verseuchte Mahnmal des Schreckens.

      Stop, Stop, Stop!!!

      Tagträume, nur Tagträume, das Land der Tagträume hätte mich beinahe wieder eingeholt.

      Nein, ein Atomschlag ist unmöglich. Ich betrachte meine Kleidung, die mir längst nicht mehr fremd ist. Auch mein Schwert, der bleischwere Begleiter, für den ich keine Verwendung habe, gehört genauso wenig zu mir wie die handgenähten Stiefel. Nein, nein, kein Atomschlag könnte meine Kleidung so verändern!

      Es muss etwas anderes geschehen sein.

      Vorsichtig, um nicht wieder in Tagträume abzugleiten, versuche ich meine Gedanken, die in alle Winkel meines Gehirns verstreut sind, zu sortieren, versuche mich zu erinnern.

      Ich habe Kaffee gemacht und mich für ein Marmeladenbrot entschieden, der Aufzug, mein Daimler, habe stolz meine erste Robbe erlegt und meinen Großvater im Büro besucht, der mir erklärt hat, Hausverwalter sei der undankbarste Job der Welt...

      Unsinn!

      Ich wollte mit meinem Daimler zur Arbeit fahren, mir wurde übel und ich musste mich übergeben, dann wachte ich auf einer mit Morgentau benetzten Wiese in dieser archaischen Kleidung auf.

      Bin ich tot?

      Das Paradies habe ich mir anders vorgestellt. Ein Paradies ohne Menschen, sogar ohne Leben. Ein „vegetarisches“ irgendwie steriles Paradies und ich als einziges fleischliches Lebewesen?

      Auch meine stählerne, tödliche Waffe am Gürtel spricht dagegen.

      Was, wenn die Religion sich irrt, das Leben nach dem Tod eine unendliche Wanderung bis zum Ende aller Tage, bis zum Jüngsten Gericht bedeutet?

      Habe