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Stefan Raile
Späte Liebe am Meer
Liebes-Geschichten
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Inhaltsverzeichnis
ABSCHUSS DER TAUBE
Da stehe ich also, blicke zum erleuchteten Fenster hoch und pfeife durch die Finger wie ein Schuljunge. Gleich wird Claudia die Gardine beiseiteschieben, einen Flügel öffnen und den Schlüssel herunterwerfen wie neulich. Doch nichts regt sich, nur das Licht erlischt. Dabei muss sie mein Pfeifen gehört haben. Bleibt nur: absichtlich ausgeschaltet! Ich will’s nicht glauben, denke: Es ist bestimmt ein Zufall. Deshalb gehe ich auch nicht weg, noch nicht.
Die niedrige Ziegelmauer vor der Hecke ist wie eine Bank, ich setze mich.
Claudia kenne ich erst seit kurzem. Wir begegneten uns, weil Robert zeitweise unzuverlässig war. Seinetwegen steckte an jenem Abend eine zweite Kinokarte in meiner Brieftasche, er konnte aber nicht mitkommen, weil er wieder mal zu tief ins Glas geguckt hatte. Seit seiner Scheidung trank er oft, zu oft, ich verstand nicht, warum es ihn immer aufs Neue in die verräucherte Kneipe zog, Bier, Schnaps, Bier, das war nichts für mich, damit hatte ich’s selbst anfangs nicht versucht.
Ich schlenderte durch mehrere Straßen, die richtige Lust für den Film fehlte, aber nach Hause wollte ich auch nicht; denn dort kam es noch häufig vor, dass mich jener Eindruck aus den ersten Abenden befiel: Die Zimmerwände rückten scheinbar enger zusammen, die Decke senkte sich und drückte mich tiefer in den Sessel, immer tiefer.
Also bummelte ich schließlich doch zum Kino, dort warteten ungefähr zwei Dutzend Leute an der Kasse, obwohl die Vorstellung bereits ausverkauft war. Etwas abseits entdeckte ich Claudia, sie sah zu mir herüber, und als ich die Karten hervorzog, trat sie einen Schritt näher und fragte: „Sie haben eine übrig?“
Der Film war gut, Claudia wandte keinen Blick von der Leinwand, und einmal bemerkte ich, wie sich ihre Hände auf dem Schoß verkrampften. Ich wollte danach greifen, es war ein Reflex von früher, als Berit so neben mir gesessen hatte, meist in der letzten Reihe, damit niemand sich mokieren musste, wenn wir uns küssten.
Claudia merkte, dass ich sie beobachtete, sie schaute mich an, und mir war es, als lächelte sie. Das ermutigte mich, im Schlussgedränge in ihrer Nähe zu bleiben. Auf der Straße wurden wir etwas beiseitegeschoben, Momente standen wir dicht nebeneinander, ich fürchtete, dass sie sich umdrehen und gehen könnte, doch ich wollte, dass sie blieb, deshalb fragte ich: „Haben Sie noch Zeit?“
„Wenig.“
„Schade. Ich hätte sie gern eingeladen.“
„So?“ Sie blickte zu mir hoch; denn sie war ein gutes Stück kleiner als ich, und ihre Stimme klang neugierig, zumindest schien es mir so.
„Zu einer Flasche Wein“, sagte ich, und weil es ein bisschen um ihre Mundwinkel zuckte, fügte ich hinzu: „In irgendein Restaurant.“
Sie zögerte Augenblicke, meinte dann: „Aber nicht lange.“
Wir fanden Platz auf der Terrasse eines nahen Lokals. Nachdem ich bestellt hatte, fragte Claudia: „Gefiel Ihnen die Frau?“
„Welche?“
„Die aus dem Film.“
„Nicht in allem.“
„Mir sehr. Sie wusste immer, was sie wollte.“
„Gerade das störte mich“, sagte ich. „Irgendwann zweifelt jeder mal.“
„Sicher“, stimmte sie zu. „Ich sogar jetzt.“
„Und woran?“
„Ob’s richtig war mitzugehen.“
„Also bedauern Sie’s bereits?“
„So ist’s nicht“, widersprach sie. „Nur missfällt mir, dass Sie alles bezahlen wollen. Zuerst die Kinokarte und nun auch noch den Wein.“
„Es wird mich nicht ruinieren“, sagte ich. „Oder erweckt’s den Anschein?“
„Durchaus nicht“, erwiderte sie. „Schließlich sieht man, dass Sie kein Armer sind. Anzug, weißes Hemd, Binder – das fällt auf mitten in der Woche.“
„Unangenehm?“
„Im Gegenteil“, antwortete sie. „Ich mag’s, wenn Männer auf ihre Kleidung achten.“
Berit dachte anders, wenigstens zuletzt, aber da störte sie ohnehin fast alles an mir. Als ich zu einer Veranstaltung unsres Kollegiums den neusten Anzug auswählte, pflanzte sie sich im Korridor vor mir auf, stemmte die Fäuste in ihre Hüften und sagte: „Putzt dich ja wieder mal raus wie ein Gigolo! Willst wohl euren Weibern imponieren?“
Claudia meinte: „Arbeiter sind Sie gewiss keiner. Ihre Hände sehen nicht danach aus.“
„Finden Sie?“
„Ja“, beharrte sie. „Ich tippe auf was andres.“
„Und worauf?“
„Lehrer.“
„Gratuliere“, sagte ich. „Sie können wohl hellsehen?“
„Das nicht gerade“, erwiderte sie. „Aber bei Ihnen war’s leicht. Sie haben den Blick eines Schulmenschen. Ich besitze ein Gespür dafür.“
„Woher denn?“
„Das hängt mit dem Interesse zusammen“, sagte sie. „Ich wollte mal Pädagogik studieren, wurde aber abgelehnt. Es gab Bessere. Oder sie hatten bessere Beziehungen. Doch nun ist’s nicht mehr wichtig.“
Sie nahm ihr Glas und trank langsam einige Schlucke.
Die einen möchten was Bestimmtes werden und dürfen nicht, dachte ich, die andern schaffen’s auf Anhieb und begreifen danach, dass es nicht das Geeignete für sie ist. So war’s bei Berit. Sie verließ mit sehr guten Noten und großen Erwartungen das Institut, doch mit den Schülern kam sie nicht so zurecht, wie sie es sich vorgestellt hatte. Darunter litt sie, und wenn ich von Erfolgen in meiner Klasse erzählte, blieb sie einsilbig. Als sie dann das erste Mal ihre Sorgen erwähnte, nahm ich es nicht ernst. Erst