Stefan Raile

Späte Liebe am Meer


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sie trug einen Bademantel, lächelte etwas unsicher, fragte: „Darf ich?“

      „Freilich“, sagte ich.

      Sie setzte sich in einen Sessel und zupfte den Frotteestoff zurecht, dass er die Knie bedeckte. Ich goss Kognak ein, reichte ihr ein Glas, nahm das andre. Sie blickte mich an, sagte: „Auf die Lehrer.“

      Wir tranken aus, Claudia verzog ein bisschen das Gesicht.

      „Mir scheint“, sagte ich, „du hast wirklich ‘nen Fimmel für Schulmenschen.“

      „Hab ich“, bestätigte sie. „Bereits seit der achten Klasse.“

      Ich horchte auf. „So genau weißt du’s? Dann gab’s bestimmt einen Grund.“

      „Ja“, sagte sie, „Paganini.“

      „Paganini?“

      „So nannten wir unsren Klassenleiter. Er ähnelte dir übrigens, nicht im Aussehen, mehr in der Art, auch er war immer picobello gekleidet und trug die schicksten Manschettenknöpfe, die ich jemals sah. Am auffälligsten fand ich jedoch seine Hände, sie waren schmal und ungemein gepflegt. Katrin, die neben mir saß, sagte mal: ‚Der hat ja Paganinifinger‘. Später erfuhren wir, dass er wirklich Geiger werden wollte, aber ein Splitter verletzte in der Ukraine seinen Arm, da war’s damit vorbei. Dennoch blieb er der Musik verbunden, er spielte wundervoll Klavier, und wenn ich mich heute für Bartók, Chopin und Prokofjew interessiere, verdanke ich’s ihm. Dabei hatte er’s anfangs schwer mit uns; denn wir waren das, was man eine miese Truppe nennt. Etliche Rabauken gaben den Ton an, und die Übrigen tuteten ins gleiche Horn. Manche Lehrer brachten wir an den Rand der Verzweiflung, und unsre vorherige Klassenleiterin hatte sich entnervt an eine andre Schule versetzen lassen.

      Paganini trat also kein beneidenswertes Erbe an. In der ersten Stunde empfing ihn wilder Tumult, einige balgten sich, die restlichen schrien, kreischten oder grölten. Paganini bahnte sich einen Weg durch die Meute. Als er den Tisch erreichte, brüllte er nicht, sondern nahm ein Buch aus seiner Tasche, rückte den Stuhl ans Fenster, setzte sich mit gleichmütigem Gesicht und begann zu lesen. Das war etwas Neues, es brachte uns aus der Fassung, wir blickten erwartungsvoll nach vorn, der Lärm ebbte ab. Sobald nur noch geflüstert wurde, erhob sich Paganini, sehr ruhig und betont langsam, er sah auf seine Uhr, sagte: ‚Drei Minuten, genau drei Minuten und achtzehn Sekunden. Gut ist’s nicht, wenn in der Zeit bloß einer was lernt, doch ihr werdet eure Gründe haben.‘ Er legte eine kurze Pause ein, wir mucksten uns nicht, und so fuhr er fort: ‚Ich las übrigens gerade von Mammutbäumen, die im Yellowstone-Park stehen, es müssen gewaltige Kolosse sei, durch einen hat man sogar einen Autotunnel gesprengt. Ihr wisst, wo der Yellowstone-Park ist? Nicht? Dann müsste ich eigentlich doch ein bisschen unterrichten.‘

      Paganini hatte tausend originelle Ideen, bei ihm wurde es nie langweilig, darin bestand das Geheimnis seiner Erfolge. Zudem ging er auf jeden Schüler ein und nahm sich viel Zeit für ihre Probleme. Dennoch änderten wir uns nicht von heute auf morgen, immer wieder gab’s Rückfälle, aber wirklich schwierig war nur einer: Hamlet, ein Junge mit krankhaftem Geltungsbedürfnis, das er nicht mit guten Leistungen befriedigen konnte. Deshalb tüftelte er fortwährend neue Streiche aus, und eines Tages brachte er ‘ne selbst gebastelte Quietsche mit, die stellte er unter seine Bank, und wenn er mit dem Fuß drauftrat, erklang ein schriller Ton. Geraume Zeit unternahm Paganini nichts, allerdings beobachtete er uns, und sobald er wusste, wer der Störenfried war, sagte er: ‚Komm doch mal vor.‘ Hamlet erhob sich, schob die Hände in die Hosentaschen und schlurfte grinsend zum Lehrertisch, wo er herausfordernd stehen blieb. Wir sahen, dass Paganini fuchtig war, dachten: Jetzt vergisst er sich. Aber wir irrten uns, er sprach leise, nur seine Stimme klang ein wenig gepresst: ‚Wenn dein Spieltrieb stärker als dein Wille ist, darfst du gehen. Quieke meinethalben auf’m Lokus, hier ist’s momentan lästig, das wirst du doch verstehen.‘ Da wurde Hamlet rot im Gesicht, und als er mit hängenden Schultern zu seinem Platz tappte, begriffen alle, dass er Verlierer war.“

      Claudia langte nach ihrem Glas und trank. Mir schien, als überlegte sie. „Wolltest du deshalb Lehrerein werden?“, fragte ich.

      „Auch“, erwiderte sie, „aber nicht ausschließlich.“

      „Sondern?“

      „Ich hätte eben Lust dazu“, sagte sie. „Mehr als zu andrem. Und ich bin sicher, dass ich’s schaffen würde. Mit den Kindern käme ich zurecht. Es gibt ein natürliches Geschick, glaube ich. Das kann nicht durch Bücherweisheit ersetzt werden. Katrin ist jedenfalls gescheitert. Dabei war sie die Beste aus unsrer Klasse, mit Abstand, und sie wurde mit reichlichem Vorschusslorbeer zum Studium delegiert, wo sie ihre Noten bestätigte. Doch als das erste Praktikum folgte, versagte sie jämmerlich, weil sie trotz ihrer Schläue nicht ankam bei den Schülern. Als sie’s begriff, ließ sie sich exmatrikulieren und wurde Laborantin.“

      „Eine vernünftige Lösung“, sagte ich und dachte: Ich könnte auch keine ständigen Misserfolge verkraften. Deshalb erscheint mir Bogner wie ein Phänomen. Was lässt sich der Mann von den Kindern fertig machen! Würde es mir so ergehen, hätte ich längst das Handtuch geworfen. Schließlich gibt’s noch genug andre Berufe. Berits Bemühen um eine Veränderung habe ich freilich nicht verstehen wollen. Dabei muss es ihr manchmal wie Bogner ergangen sein. War es da verwunderlich, dass es sie danach verlangte, dort zu arbeiten, wo sie sich ähnlich bestätigt fühlte wie bei Resi und Martin? Ich aber sah nur, dass sie über mir stünde, und ich fürchtete, dass jemand sagen könnte: „Ich hörte, Ihre Frau ist Inspektorin. Gratuliere!“ Deshalb fand ich immer neue Argumente, um sie von ihrem Weg abzuhalten. Sie brachte damals erstaunlich viel Geduld auf, und später stellte sie nie heraus, dass sie mir übergeordnet war. Vielleicht hoffte sie sogar, dass ich gleichfalls aufrücken würde, weil sie nicht glauben wollte, dass mich die Arbeit mit den Schülern ausfüllte.

      Claudia sagte: „Du erinnerst mich sehr an Paganini. Bestimmt unterrichtest du wie er. Ich bin beinah sicher.“

      Ich goss Schnaps nach. Als ich ihr das Glas reichte, musste ich mich ziemlich vorbeugen. „Du sitzt so weit weg“, meinte ich.

      „Das lässt sich ändern.“ Sie rutschte den Sessel näher.

      „Besser?“

      „Ja. Aber noch nicht gut.“

      „Jetzt bist du dran“, sagte sie. „Jeder ein Stück.“

      Wir rückten aufeinander zu, Zentimeter um Zentimeter. Claudia fand Gefallen an dem Spiel. Solche Situationen mochte sie. Das bemerkte ich auch Tage danach an jenem abgelegenen See. Wir wateten durch eine schmale Schilfschneise, Claudia ging hinter mir, sagte: „Dreh dich nicht um, noch nicht.“ Doch ich blickte über die Schulter und sah, wie ihr Körper schimmerte. Wellen kabbelten gegen die bloße Haut. Sie kreischte ein bisschen und stürzte sich ins Wasser. Mit zwei, drei Schritten war ich bei ihr, wir balgten und spritzten uns. Dann nahm ich sie auf die Arme und trug sie ans Ufer. Das Gras war weich und barg noch einen Rest Tageswärme.

      Später meinte Claudia: „Es ist schön so: sich rekeln, atmen, die Sterne sehen. Hier könnte ich ‘ne Weile liegen und warten. Auf nichts Bestimmtes. Bloß so. Vielleicht würde sich was ereignen. Irgendwas.“

      Dergleichen hätte Berit nie gesagt, dachte ich. Bei ihr musste alles Zweck und Ziel haben. Zuweilen behauptete sie: „Hoffen und Harren hält manchen zum Narren!“

      Sie fand eine Bestätigung dafür. Eines Abends begegneten wir im Theaterklub einem Statisten. Er saß an unsrem Tisch, ein Mann um die Dreißig, und starrte trübsinnig in sein Bierglas. Er litt an einem Tick, fühlte sich zu Höherem berufen, seit eine Alte ihm aus dem Kaffeegrund wahrgesagt hatte. Er glaubte, ein großartiger Schauspieler zu werden, mindestens so gut wie Gründgens oder Heinrich George. Deshalb störte es ihn, dass er von den Kollegen zu wenig ästimiert wurde. Seine liebste Redewendung lautete: „So was gibt’s, dass einer plötzlich aufsteigt, wie Phönix aus der Asche.“

      Er ist nicht aufgestiegen, sondern lauert noch immer auf die wundersame Gelegenheit.

      „Mir ist nicht nach Warten“, sagte ich. „Wollen wir gehen?“

      „Ja“,