Stefan Raile

Späte Liebe am Meer


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der Großvater ihn, den Enkel, gern auf seinen Spaziergängen mit. Einmal standen sie an einem Viadukt. Die Granitquader überm Fluss waren heller als oberhalb der Uferböschungen. Man sah deutlich die Nahtstellen. Mühelos ließ sich auch jetzt noch die Sprengwirkung erkennen. „Bei Bauwerken kriegt man’s wieder hin“, sagte der Großvater, „bei Menschen ist’s anders, die werden oft dauerhaft ruiniert. Merk dir, Junge: alles, bloß zweierlei nicht: keinen Krieg und kein falsches Weib. Beides höhlt die stärksten Männer aus, macht sie zu Wracks.“

      Er konnte seine Sätze belegen; denn er wusste Dutzende Beispiele, auch von Kameraden, die von ihren Frauen betrogen worden waren, und wenn sie dahinterkamen, flennten sie wie Kinder.

      Betrogen, dachte der Soldat. War es bei Regina so? Eigentlich hatte sie ihm die Wahrheit geschrieben, nicht die ganze sicherlich, aber immerhin. Er tastete über seine Brusttasche. Zwischen dem Stoff knisterte der Brief. Für Augenblicke war er versucht, ihn herauszunehmen und zu lesen, doch dann unterließ er es. Ohnehin wusste er, was darinstand, und etliche Sätze kannte er sogar auswendig, auch diesen: „Nimm’s mir bitte nicht übel, aber ich kann nicht so lange auf dich warten; deshalb ist es am besten, wenn wir uns sofort trennen.“

      Anfangs drängte es den Soldaten, sich in den nächsten Zug zu setzen und zu ihr zu fahren. Doch was sollte er dort? Ihr seine Verzweiflung zeigen, seine Ohnmacht, seine Wut? Oder wäre es angebracht, dem andern aufzulauern, um ihn zu verprügeln? Der Soldat zweifelte nicht daran, dass jemand dahintersteckte. Schließlich hatte ihm seine Schwester neulich schon gesagt, dass sie Regina mit einem Mann im Konzert gesehen habe. Aber er war einer Klärung ausgewichen.

      Nach dem Lesen des Briefs hatte er wohl fünfzig Möglichkeiten erwogen, eine verrückte als die andere. Doch was er auch anstellte, nichts brächte ihr Verhältnis wieder ins Lot, weil sich Regina gewiss schon während seines letzten Urlaubs entschieden hatte. Er erinnerte sich an den wortkargen Abend im Gasthaus und das Zusammensein in ihrem Zimmer. Dort war nichts mehr wie früher, sie lag steif und verkrampft unter ihm, und einmal spürte er Nässe auf ihrem Gesicht, aber sie sagte kein Wort.

      Die Kellnerin kam und stellte ein Tellerchen mit zwei Bockwürsten vor dem Soldaten auf den Tisch. „Sie sind ganz heiß“, sagte sie, „guten Appetit!“

      Er blickte sie erstaunt an, meinte: „Ich hab keine bestellt.“

      „Ich weiß.“

      „Warum also?“

      „Ich denke, du brauchst sie. Ohne einen ordentlichen Bissen im Magen wirst du noch zur Schnapsleiche.“

      „Sehe ich schon so aus?“

      „Noch nicht.“

      „Dann ist’s unnötig“, sagte er und schob das Tellerchen weg. „Ich bin nämlich kein Krösus, Mädchen.“

      „Macht nichts“, meinte sie, „ich spendier sie dir.“

      Er konnte nicht fragen, was sie dazu bewog, weil der Wirt, ein hagerer Mann mit schütterem Haar, unwillig von der Theke herüberschaute und mehrmals mit den Fingern schnipste.

      Die Kellnerin zuckte zusammen und sagte: „Ich hab zu tun.“

      Der Soldat sah, dass sie Gläser zu spülen begann. Der Wirt redete leise auf sie ein. Sie antwortete nicht, beugte sich nur tiefer über das Becken.

      Zuerst wollte der Soldat die Würste stehen lassen, dann aß er sie doch, sie schmeckten wirklich ausgezeichnet. Nachher blickte er wieder zur Kellnerin. Sie hantierte nun allein hinterm Tresen und lächelte ihm zu. Warum bemühst du dich eigentlich um mich?, überlegte er. Zu guter Letzt bringst du mich noch auf dumme Gedanken. Immerhin finde ich dich nett.

      Ist ja alles Mumpitz, dachte der Soldat. Vielleicht hat sie einfach Mitleid mit mir. Sicherlich wirke ich ziemlich bedrückt, und das kann ihr unmöglich entgehen. In dem Beruf erwirbt man Menschenkenntnis. Sollte es das sein, wäre es am vernünftigsten, wenn ich schleunigst verschwände. Nichts ist schlimmer, als bedauert zu werden. Da ist es allemal besser, man wird gehasst; das ist eine klare Sache, und man weiß, woran man ist. Bei Mitleid ist’s selten eindeutig. Deshalb reagiere ich darauf allergisch. Vielleicht war es bei Regina auch nur Mitleid? Wer weiß schon genau um die Empfindungen des anderen? Schließlicht ist man sich der eigenen Gefühle nicht immer sicher.

      Die Kellnerin trat neben ihn. „Hat’s geschmeckt?“

      „Danke“, erwiderte er, „ausgezeichnet, aber nun habe ich ein schlechtes Gewissen.“

      „Ach was“, sagte sie, und ihm schien, als würde sie ein bisschen rot dabei, „das brauchst du nicht.“

      „Das verstehe einer.“

      „Was?“

      „Dein Verhalten. Du siehst mich zum ersten Mal. Einer unter anderen. Trotzdem genieße ich Privilegien. Wieso eigentlich?“

      „Wieso, wieso“, äffte sie ihn nach, „brauchst du für alles eine Erklärung?“

      „Schon gut“, lenkte er ein, „musst nicht gleich grantig werden.“

      „Ich wüsste auch gar nicht, warum“, sagte sie und lächelte. „Schließlich finde ich dich putzig.“

      Er horchte auf. „Putzig? Inwiefern?“

      „Ganz allgemein“, entgegnete sie, „besonders aber wegen der Art, wie du trinkst. Zuerst kippst du das Zeug hinter, als sei dein Magen ein Fass ohne Boden. Dann schielst du angewidert auf die Gläser und hockst da wie ein Ochse, wenn’s donnert.“

      Der Soldat merkte, dass sie auf eine Antwort wartete. „Ihr panscht doch“, sagte er, „euer Bier ist eine elende Plörre, nicht mal der Fusel schmeckt. Davon wird kein normaler Mensch heiter.“

      „Könntest was Besseres haben“, meinte sie, „aber nicht hier. Wir schließen nämlich gleich.“

      „Wo sonst?“

      Sie druckste ein bisschen, sagte dann: „Bei mir.“

      Die geht vielleicht ran, dachte der Soldat. Es war ihm keineswegs unangenehm, und er sagte schnoddrig: „Warum nicht.“

      „Warte am Trafohäuschen auf mich“, bat sie, „ich komme gleich.“

      Er zahlte und verließ den Raum. An der Tür drehte er sich noch einmal um, da sah er den Wirt hinterm Tresen, von wo der ihm mit finsterer Miene nachblickte.

      Draußen fühlte er sich ein bisschen benommen. Es war ziemlich dunkel. Bald tauchte ein Schatten vor ihm auf. Er erkannte die Kellnerin. Sie drückte ihn an sich, und er fühlte ihre festen Brüste unter dem dünnen Kleid.

      „Ich heiße Annette“, sagte sie. „Aber alle rufen mich Netty. Und wie heißt du?“

      „Nenn mich Soldat“, meinte er.

      „Gut.“

      Sie hakte sich bei ihm ein. Gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang. Es war nicht weit bis zu ihr. Sie bewohnte zwei Mansarden in einem Bauernhaus.

      „Mach’s dir bequem“, sagte sie und schob ihn zu einem Sessel. Danach öffnete sie ein Barschränkchen. Darin standen diverse Flaschen. „Was magst du: Whisky, Sherry, Genever, Brandy oder Zubrowka?“

      „Genever“, sagte er, „das klingt so exotisch. Was für ein Gesöff verbirgt sich eigentlich hinter dem verlockenden Namen?“

      „Wacholderbranntwein“, erklärte sie, „eine besondere Art von Gin.“

      Er roch an dem Glas, als sie es ihm reichte, sagte: „Du hast ja eine enorme Alkoholkollektion.“

      „Der Chef rückt ab und zu was raus.“

      „Einfach so?“

      Darauf erwiderte sie nichts, sondern prostete ihm zu. Es war auch unnötig, dass sie etwas sagte, der Soldat begriff ohnedies.

      Der Genever schmeckte ihm besser als der Korn, er trank ihn in kleinen Schlucken. Netty setzte sich in einen zweiten Sessel. Ihr