sehr finster, Wolken verbargen den Mond, Claudia griff nach meiner Hand, sie hatte kalte Finger. Eine Weile schritten wir wortlos nebeneinander, dann sagte sie: „Morgen hab ich frei.“
„Friseuse müsste man sein“, scherzte ich.
„Sehen wir uns?“
„Ich kann erst nach vierzehn Uhr.“
„Es ginge auch vormittags.“
„Wie denn?“
„Ich würde gern hospitieren. Oder darf ich nicht?“
„Doch“, sagte ich, „natürlich.“
In dieser Nacht schlief ich lange nicht ein, ich dachte an Claudia. Das vereitelte Studium beschäftigte sie also noch. Der Wunsch, Lehrerein zu werden, hatte sich durch unsre Bekanntschaft womöglich verstärkt. Vielleicht sollte sie es erneut versuchen, es war nicht zu spät.
Als ich am nächsten Tag die dritte Stunde hielt, saß Claudia in der letzten Bank. Ich übte die Interpunktion mit den Schülern, sie arbeiteten eifrig mit. Claudia hörte aufmerksam zu, kein Wort ließ sie sich entgehen, manchmal verkrampften sich ihre Hände auf dem Schoß wie damals im Kino.
Gegen Abend bestiegen wir die Landeskrone. Wind strich über den Gipfel, aber die Felsen, auf die wir uns hockten, waren warm. Ich sagte: „Du solltest dich noch mal am Institut bewerben.“
„Meinst du, es hätte Zweck?“
„Ich glaub schon. Wenn’s dir ernst damit ist, schaffst du’s auch.“
Auf dem Rückweg gelangten wir an einen Bach, dort zog Claudia die Schuhe aus, schürzte das Kleid und balancierte über glitschige Steine, die aus dem Wasser ragten. Schaum spritzte gegen ihre Waden, sie lachte, und ihr Schatten tanzte auf den Wellen.
Anderntags brachte sie Antje mit. Es überraschte mich nicht. Ich hatte geahnt, dass es irgendwann geschehen würde. Dennoch spürte ich plötzlich meinen Herzschlag.
Auch Claudia wirkte erregt. Sie sagte: „Mutter musste dringend weg.“ Ob’s eine Notlüge war, weiß ich nicht. Zumindest dachte ich’s.
Wir gingen einen Waldweg entlang. Claudia hielt das Kind an der Hand. Es blickte öfter scheu zu mir auf. Gesprochen wurde wenig. Ich dachte an Kerstin, und obgleich es warm war, fröstelte mich.
Nach kurzer Zeit sagte Claudia: „Wir müssen zurück.“
Die Straßenbahn war überfüllt, wir standen dicht nebeneinander, schwiegen aber. An der Haltestelle verabschiedeten wir uns.
„Morgen?“, fragte ich.
Sie hob die Schultern. „Mutter hat jetzt wenig Zeit. Und Antje kann ich nicht wieder mitbringen.“
„Warum nicht?“
Sie gab keine Antwort, reichte mir nur die Hand, die war ein bisschen feucht. „Ich rufe an“, sagte sie, „wenn’s geht, rufe ich an.“
Den Fernsprechanschluss verdanke ich Berit. Sie stellte den Antrag, und es klappte erstaunlich rasch. Ich schätze, Kadurath half dabei, nicht uneigennützig, versteht sich. Per Telefon lässt sich manches arrangieren, und er wusste sicher, wann ich nicht da war.
Der Apparat steht im Korridor auf einem Schränkchen, er ist mir recht nützlich, doch an jenem Abend verfluchte ich ihn. Wenn ich auf etwas warte und lange nichts geschieht, werde ich ruhelos. Mehrmals tappte ich durch die Wohnung, verhielt vor dem Telefon, lauerte. Umsonst! Schließlich legte ich mich auf die Couch, nahm ein Buch vom Bord. Ich las, ohne etwas zu verstehen. Als es dämmerte, sanken meine Hoffnungen auf null. Doch dann, kurz vor einundzwanzig Uhr, läutete es. Ich erschrak, sprang auf, griff hastig nach dem Hörer. Es war Claudia, sie sagte bloß: „Komm.“
„Zu dir?“
„Ja.“
Ich eilte. Woran ich dachte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass ich sehr erregt war. Claudia schaute aus dem Fenster. Der Schlüssel, eingewickelt in Knüllpapier, flog auf die Straße. Wenig später stand ich vor ihr. Sie trug eine Cocktailschürze, hatte das Haar sorgfältig gebürstet und gelackt, es glänzte. Das Zimmer war bescheiden eingerichtet, auf einem Schränkchen bemerkte ich einen Plattenspieler. „Musik?“, fragte sie und betätigte das Gerät, kaum dass ich zugestimmt hatte.
Als ich mich setzte, entdeckte ich in einem Regal das Bild. Es steckte in einem Halter zwischen zwei Glasscheiben und zeigte einen Soldaten in Brustformat. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, vielleicht jungenhafter. Seine Züge wirkten männlich und ernst, die Augen blickten forsch und ein wenig übermütig.
Claudia tafelte allerlei Leckereien auf, doch sie schmeckten mir nicht, auch vom Wein trank ich nur wenig, dafür blickte ich oft zum Foto, und einmal kam mir wieder die Taube in den Sinn, ich sah, wie sie sich getroffen krümmte, vom First purzelte, hart auf die Erde schlug, japste und mit den Flügeln zuckte.
„Ist dir nicht gut?“, fragte Claudia.
„Doch.“
„Aber?“
„Dreh’s bitte um.“
„Was?“
„Das Bild.“
Nun erst begriff sie. „Warum?“ Es klang herausfordernd, vielleicht auch trotzig.
„Weil er immerzu hersieht.“
Da glitt um ihren Mund ein Lächeln, wie ich es bislang nicht bei ihr kannte. „Hat er dir was getan?“
„Nein“, sagte ich, „nichts.“
Sie drehte das Foto um, wortlos, unbewegten Gesichts, doch die Stimmung war dahin, ich verließ sie lange vor Mitternacht.
Obgleich wir nichts vereinbart hatten, ging ich am nächsten Tag von der Schule sofort nach Hause, da ich wusste, dass Claudia nur bis vierzehn Uhr arbeitete.
Das Telefon klingelte mehrmals, ich eilte immer mit klopfendem Herzen hin, doch nie war sie es. Bogner erkundigte sich nach dem Sitzungsbeginn, ein Schneidermeister wollte Berit sprechen, Robert fragte an, ob ich wegen seines neulichen Rausches verstimmt sei, weil ich mich nicht sehen ließe. Zuletzt meldete sich eine Unbekannte, die mir ein Rendezvous vorschlug. Ein Missverständnis? Scherz? Vielleicht auch Ernst, falls sie von meiner Situation wusste. Was macht ein Mann, wenn...?
Das Warten marterte, doch das Telefon schrillte nicht mehr, dafür die Klingel an der Entreetür. Es war Claudia. Sie fiel mir in die Arme.
Der Straßenlärm verebbte. Zuerst summten die Autos noch, dann fuhren sie lautlos. Später hörte ich wieder die Standuhr, sie zertickte die Stille. Claudia lag reglos, ihr Puls pochte an meinem Ohr, sie sagte: „Ich denke oft an den Film.“
„Wegen der Frau?“
„Ja. Sie war in allem so sicher. Darum beneide ich sie. Gestern schrieb ich eine Bewerbung, zerriss sie aber wieder. Ich glaube, ich bin nicht gut genug.“ Sie seufzte. „Ich glaube, ich bin zu manchem nicht gut genug.“
„Unsinn“, widersprach ich. „Das Schwierigste ist, sich zu entscheiden.“
„Gewiss“, sagte sie, „das ist es. Vor allem, wenn einem niemand hilft.“ Dabei sah sie mich an, lange, mir schien, als erwarte sie etwas, doch ich schwieg.
Nach einer Weile schaute sie auf ihre Uhr. „Du musst gehen?“
„Ja.“
Sie brachte mich zur Schule. „Dauert’s lange?“
„Zwei Stunden.“
„Da hab ich viel Zeit.“
„Soll ich nachher kommen?“
„Wenn du willst.“
„Ich pfeife, ja?“
Sie küsste mich, dann ging sie und sah nicht mehr zurück.
Die Mauer ist eine schlechte Sitzbank, ganz kreuzlahm bin ich schon,