daß »Instinkte aus Blei kein Betragen aus Gold« geben können, widmeten sie ihre Fähigkeiten und Kräfte der »Selbsterkenntnis« und dem individuellen Sein. Rasch strebte man der Anerkennung des Schlagwortes »Unsere Zeit ist nicht die Zeit gewaltiger Aufgaben« zu.
Einer der genialsten Künstler, der ein so feines Gefühl für die Macht des Bösen besaß, daß er ihr Schöpfer zu sein schien, brach in einem Lande, wo die Mehrzahl der Herren genau solche Sklaven waren wie ihre Knechte, in das hysterische Geschrei aus:
»Schick dich in dein Los, hoffärtiger Mensch! Dulde, Hoffärtiger!«
Und nach ihm ertönte nicht weniger machtvoll die Stimme eines anderen Genies, die gebieterisch und beharrlich verkündete, zur Freiheit führe nur ein Weg: »Dem Übel nicht widerstreben.«
Das Haus der Samgins war eines der in jenen Jahren schon seltenen Häuser, deren Herren sich nicht beeilten, alle Feuer zu löschen: dieses Haus wurde, wenn auch nicht häufig, von unfrohen, zänkischen Menschen besucht. Sie zogen sich in die Zimmerecken, in den Schatten zurück, sprachen wenig und begleiteten ihre Worte mit einem unangenehmen Lachen. Von ungleichem Wuchs, verschieden gekleidet, glichen sie alle doch sonderbar einander wie Soldaten aus einer Kompagnie. Sie waren keine »Hiesigen«, sie reisten irgendwohin und erschienen bei Samgin auf der Durchreise. Zuweilen blieben sie über Nacht. Auch darin ähnelten sie sich, daß sie alle gehorsam die wütenden Reden Maria Romanownas anhörten und sie sichtlich fürchteten. Vater Samgin aber hatte Angst vor ihnen, – der kleine Klim sah, daß der Vater beinahe vor jedem von ihnen seine weichen, zärtlichen Hände rieb und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Einer dieser Menschen, ein schwarzer, bärtiger und wohl sehr geiziger Mann, sagte wütend:
»In deinem Haus, Iwan, geht es zu wie in einem armenischen Witz: immer zehnmal mehr als notwendig. Man hat mir für die Nacht, ich weiß nicht warum, zwei Kissen und zwei Kerzen gegeben.«
Samgins Bekanntenkreis in der Stadt war merklich zusammengeschrumpft, immerhin versammelten sich bei ihm an den Abenden einige Menschen, die mit der Stimmung des gestrigen Tages noch nicht fertig waren. Jeden Abend tauchte aus der Tiefe des Hofflügels hoheitsvoll Maria Romanowna auf, hager, knochig, eine schwarze Brille auf der Nase, mit einem beleidigten Gesicht ohne Lippen und einem Spitzenhäubchen auf dem zur Hälfte ergrauten Haar. Unter dem Häubchen sahen ihre großen, grauen Ohren hervor. Vom zweiten Stock stieg der Mieter Warawka herab, breitschultrig und flammenbärtig. Er sah aus wie ein reichgewordener Lastkutscher, der sich eine ihm fremde Kleidung gekauft hat und sich in ihr nicht rühren kann. Er bewegte sich schwerfällig und behutsam, scharrte aber dabei sehr geräuschvoll mit den Sohlen. Sie waren oval wie Schüsseln, in denen man Fische aufträgt. Bevor er sich an den Teetisch setzte, prüfte er stets besorgt den Stuhl, ob er wohl auch fest genug sei. Alles an ihm und um ihn her ächzte, knarrte und bebte, Möbel und Geschirr fürchteten ihn, und kam er am Flügel vorbei, brummten die Saiten. Doktor Somow erschien, ein finsterer Schwarzbart. Er pflegte an der Türschwelle stehen zu bleiben, alle Anwesenden mit vortretenden, steinernen Augen zu mustern und heiser zu fragen:
»Geht's gut? Gesund?«
Dann schritt er ins Zimmer, und hinter seinem breiten, gedrungenen Rücken ward stets die Doktorsfrau sichtbar, ein mageres, gelbes Persönchen mit riesengroßen Augen. Sie küßte schweigend Wera Petrowna, verneigte sich hierauf vor allen Anwesenden wie vor den Heiligenbildern in der Kirche, nahm möglichst weit von ihnen Platz und saß dann da wie im Wartezimmer eines Dentisten, den Mund mit einem Tuch bedeckend. Unverwandt starrte sie in die Ecke, die am dunkelsten war, und schien zu erwarten, daß gleich jemand aus der Dunkelheit sie rufen werde:
»Komm!«
Klim wußte, sie wartete auf den Tod. Doktor Somow hatte in seiner und ihrer Gegenwart gesagt:
»Nie habe ich einen Menschen getroffen, der eine so alberne Furcht vor dem Tode hat wie meine Gattin.«
Unbemerkt und plötzlich wuchs irgendwo im Finstern einer Ecke ein rothaariger Mann hervor, Stepan Tomilin, Klims und Dmitris Lehrer – rannte, stets aufgewühlt, Fräulein Tanja Kulikowa ins Zimmer, vertrocknet und mit einer komischen, von Blattern zerfressenen Nase. Sie brachte Bücher oder Hefte mit, die mit violetten Worten vollgeschrieben waren, stürzte auf jeden zu und drängte halblaut, mit verhaltener Stimme:
»Jetzt lassen Sie uns lesen! Lesen!«
Wera Petrowna beschwichtigte sie.
»Wir wollen erstmal Tee trinken, die Dienstboten entlassen und dann . . .«
»Vorsicht mit den Dienstboten!« warnte Doktor Somow, den Kopf wiegend, und auf seinem Scheitel schien, umgeben von vereinzelten Haarbüscheln, eine graue, runde Lichtung durch.
Die Erwachsenen tranken ihren Tee mitten im Zimmer unter einer Lampe mit weißem Schirm, einer Erfindung Samgins: der Schirm warf das Licht nicht nach unten auf den Tisch, sondern gegen die Decke, und machte, daß ein trauriges Zwielicht durch das Zimmer flutete. In drei Ecken herrschte nächtliches Dunkel. In der vierten, von einer Wandlampe erhellten, neben einem Kübel, in dem ein kolossaler Rhododendron wuchs, befand sich der Tisch der Kinder. Die schwarzen Blattatzen der Pflanze krochen von ihren Stielen, die mit Schnüren an Nägeln befestigt waren, über die Wände, die federleichten Wurzeln hingen in der Luft gleich langen grauen Würmern.
Der stramme, pummelige Dmitri saß immer mit dem Rücken zum großen Tisch, während der schmale, magere und à la »Muschik« rund geschorene Klim das Gesicht den Erwachsenen zuwandte, aufmerksam ihren Gesprächen folgte und wartete, bis der Vater ihn den Gästen vorführen würde.
Beinahe an jedem Abend rief der Vater Klim zu sich heran, preßte die Hüften des Knaben zwischen seine weichen Knie und fragte:
»Nun, kleiner Bauer, was ist das Schönste?«
Klim antwortete dann:
»Wenn man einen General beerdigt.«
»Und warum?«
»Die Musik spielt.«
»Und was ist das Schlimmste?«
»Wenn Mama Kopfweh hat.«
»Na, was sagen Sie?« erkundigte sich Samgin sieghaft bei den Gästen, und sein lächerliches rundes Gesicht strahlte von Zärtlichkeit. Im stillen lächelnd, lobten die Gäste Klim, doch ihm selbst gefielen diese Demonstrationen seines Verstandes gar nicht mehr, er fand seine Antworten einfältig. Zum erstenmal gab er sie vor zwei Jahren. Jetzt fügte er sich ergeben und sogar wohlwollend diesem Scherz, da er sah, daß er dem Vater Vergnügen bereitete. Aber er witterte darin schon etwas Beleidigendes, als wenn er ein Spielzeug wäre: drückte man, so quietschte es.
Aus den Geschichten des Vaters, der Mutter und der Großmutter, die die Gäste anhören mußten, erfuhr Klim nicht wenig Erstaunliches und Wichtiges über sich: es stellte sich heraus, daß er schon als ganz kleines Kind auffallend anders gewesen war als seine Altersgenossen.
»Einfache, grobe Spielsachen mochte er lieber als erfinderische und kostbare«, sagte sich überstürzend und die Worte verschluckend der Vater. Die Großmutter wiegte würdevoll ihr graues, majestätisch frisiertes Haupt und bekräftigte seufzend:
»Ja, ja, er liebt das Schlichte.«
Und erzählte nun selbst recht fesselnd, wie rührend Klim schon als Fünfjähriger eine kränkelnde Blume gepflegt habe, die zufällig auf der Schattenseite des Gartens zwischen Unkraut hervorgesproßt war. Er hatte sie begossen, ohne die Blumen auf den Beeten eines Blicks zu würdigen, und als die Blume gleichwohl eingegangen war, hatte Klim lange und bitter geweint.
Ohne der Schwiegermutter zuzuhören, redete der Vater dazwischen:
»Er spielt viel lieber mit dem Enkel der Amme als mit den Kindern seines Kreises!«
Der Vater verstand besser zu erzählen als die Großmutter und immer Dinge, die der Knabe selbst nicht wußte, die er nicht in sich fühlte. Zuweilen schien es Klim sogar, daß der Vater die Reden und Taten, von denen er sprach, selbst ausdachte, damit er mit seinem Sohn prahlen konnte, so wie er mit der staunenswerten Genauigkeit seiner Taschenuhr, seiner Meisterschaft im Kartenspiel und vielen